Sonntag, 7. Dezember 2025

Die Flüchtigkeit des Lebens

Das ist noch nicht mein Leben, dachte es die meiste Zeit meines Lebens so in mir. Dass das lächerlich ist, weiss ich, doch wer kommt schon gegen seine Gefühle an. 

Statt unserem Verstand die ihm gehörige Rolle zuzugestehen, glorifizieren wir die Gefühle, berufen uns auf Instinkt, Intuition und Bauchgefühl, denen wie sowieso ausgeliefert sind. 

Meine Gefühle verleiten mich zu vielem, was mir nicht bekommt; so wollen sie etwa nichts wissen von Endlichkeit, auch wenn diese dem Verstand einleuchtet. Doch es gibt Momente, in denen das Herz zu erfassen scheint, was der Vernunft schon lange klar gewesen ist. Ich kann heute sterben, ging mir letzthin beim Aufwachen durch den Kopf. Gut möglich, dass dieser Gedanke auch deshalb mein Herz erreichte, weil es mir tags zuvor geradezu unfassbar erschien, dass der neue Papst jünger ist als ich selber bin. Jedenfalls kam ich während dieses Tages immer mal wieder darauf zurück, was mir dieses Heute nicht nur sehr eigenartig, sondern gänzlich unfassbar erscheinen liess. 

Wie einen Traum erlebte ich diesen Tag, an dem ich bei Richterswil dem Zürichsee entlangging, Fotos machte, und mit einem jungen IT-Mann mit Hund ins Gespräch kam. Ein anderer Mann, ebenfalls mit Hund, kommentierte dessen ausgiebiges Rumschnüffeln an Allem und Jedem mit „Hundezeitung“ (der Hund informiere sich gerade, wer wann und von wo hier durchgekommen sei). Mir dabei immer wieder von Neuem ins Gedächtnis zu rufen, dass jederzeit alles zu Ende sein kann, verscheuchte meine Ängste, erlaubte mir immer wieder von Neuem, die Gegenwart zu erleben.
Fotos zeigen bekanntlich, was sich in einem bestimmten Moment vor der Kameralinse befunden hat. Fotografieren bedeutet Festhalten-Wollen. Zu wissen, dass man nichts festhalten kann, dass der Glaube, man könne es, eine Illusion ist, hat das Potential, Fotos zu dem zu machen, was sie auch sein können: Erinnerungen an die Flüchtigkeit des Lebens.

Mittwoch, 3. Dezember 2025

Von der Faszination des Alltags

 Aussergewöhnliches, Spektakuläres hat mich nie gereizt; bei sogenannt grossartigen Taten wie der Besteigung des Mount Everest wunderte ich mich jeweils: Wozu das Ganze? Nichtsdestotrotz: Respekt, ja Bewunderung für aussergewöhnliche Leistungen wie etwa die Mondlandung oder die Errungenschaften der Wissenschaft sind mir nicht fremd, im Gegenteil.

Seit meiner Jugend fasziniert mich das Gewöhnliche, das Unspektakuläre, das sogenannt Banale. Das geht von Reihenhaussiedlungen bis zu endlos weiten Ebenen, von Unterhaltungen mit Schuhmachern und Buschauffeuren zum gelassenen Durchstreifen von unauffälligen Nebenstrassen mir unbekannter Städte. Robert M. Pirsig hat in seinem Zen und Die Kunst, ein Motorrad zu warten notiert, die Dakotas seien ihm deshalb so lieb, weil sie nichts Besonderes versprächen und deshalb auch nichts einlösen müssten.

Warum dem so ist, kümmert mich heute wenig. Wie schrieb doch Wilhelm Busch in Der Schmetterling: „Kinder, in ihrer Einfalt, fragen immer und immer: warum? Der Verständige tut das nicht mehr; denn jedes Warum, das weiss er längst, ist nur der Zipfel des Fadens, der in den dicken Knäuel der Unendlichkeit ausläuft, mit dem keiner recht fertig wird, er mag wickeln und haspeln, so viel er nur will."

Im Nachhinein, so scheint mir, hat diese Faszination für das Alltägliche mein Leben geprägt. Ja, mehr noch: Wenn meine Einsichten und Erkenntnisse meinen Alltag nicht zu verbessern vermögen, so dachte und so denke ich, sind sie bestenfalls interessant. Hilfreich sind sie nicht.

Was ich von mir lieben Verstorbenen erinnere, sind nicht ihre Werke, sondern ihre Alltagspräsenz. Von Laurence, ihre Wärme und ihren Witz; von Irène, ihr Lachen und ihre Neugier; von Lucette, ihr hilfsbereites, pragmatisches Naturell, von Valérie, ihre Freude am Spielerischen.

***

Unserer Kultur des Wettbewerbs, des Einzigartigen und des Speziellen, ist nur schwer zu entgehen. So stellte ich mir jahrelang vor, dass, wenn ich etwas ändern wolle, dies nur an einem speziellen Tag möglich sei. Und obwohl ich zu wissen glaubte, dass ein solches Denken völlig unsinnig ist, ereigneten sich entscheidende Veränderungen in meinem Leben an sehr speziellen Daten. Keinen Alkohol mehr seit dem 1.1.1990; keine Zigaretten mehr seit dem 9.9.1999.

Nichtsdestotrotz weiss ich, dass so recht eigentlich jeder Tag ein spezieller Tag ist. Damit dieses Wissen auch Folgen hat, muss ich mich jeden Tag mehrmals daran erinnern – und dann entsprechend handeln, und das meint: Die Dinge langsam tun, immer mal wieder innehalten und mich daran erinnern, dass dieser Tag und dieses Jetzt, so weit wir wissen, nur gerade in diesem Moment existieren. Meistens scheitere ich daran, dass ich schnelle und anhaltende Resultate erwarte. Mir dies bewusst zu machen, lässt mich geduldiger üben.

Alltag bedeutet mir, dass dieser Tag alles umfasst, das mein Leben ausmacht.

***

In der Schule wurden wir dazu angeleitet, etwas aus unserem Leben zu machen. Etwas wollen, sollten wir, und nicht etwa bloss aus dem Fenster schauen. Sich zu konzentrieren war angesagt, auf dass wir nicht auf blöde Gedanken kämen. Nie wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Existenz zuallererst ein Wunder ist. Und dass es darum gehen sollte, sich dieses Wunders bewusst zu werden.

Dass die Schule dazu da ist, uns ins herrschende System zu integrieren, leuchtet ein, denn der Mensch sucht Stabilität, und dazu verhilft ihm das System. Dabei wird völlig ausser Acht gelassen, darauf hinzuweisen, dass es alles andere als selbstverständlich ist, dass es uns überhaupt gibt, wir gehen, atmen und uns verlieben können. Und dies führt letztlich dazu, dass wir mit uns und allem um uns herum nicht pfleglich umzugehen wissen.

Hinschauen und etwas auf mich wirken lassen; mein Unbewusstes weiss selber, was damit zu tun ist. Ich muss es nur lassen. Não pense, veja (Denke nicht, schau) hat es ein brasilianischer Zen-Buddhist einmal formuliert.

Santa Cruz do Sul, 7. Februar 2025

Sonntag, 30. November 2025

Das Spiel, das nicht wir spielen

Montbéliard, am 11. Juli 2025

Ich durchstreifte mehrere Länder und beschäftigte mich mit Dingen, die sich aus nichts zu etwas entwickelten und dann wieder zu nichts zerfielen, bis das Schicksal mich schliesslich nach Amsterdam zurückbrachte. Die Kräfte, die mich trieben, waren jenseits meiner Kontrolle. Wieder einmal war ich ein  Hampelmann, eine durch Fäden und metallene Haken bewegte Marionette, die in unverständlicher Weise programmiert ist und mal hier, mal dort heruntergelassen wird, um ihren kleinen Tanz fortzusetzen. Aber es war ein Tanz geworden und kein deprimierendes, schmerzhaftes Gestampfe mehr. Ich hatte angefangen, Spass an dem Spiel zu finden, das irgendeine Kraft oder Kräfte mit mir spielten.

Janwillem van de Wetering: Ein Blick ins Nichts

Mittwoch, 26. November 2025

Das Geschäft mit der Sucht

Seit fünf Jahren fährt Joel im Rettungswagen, er ist abhängig von Pillen. "Das Leben in der Abhängigkeit ist einsam, und die einzig wichtige Beziehung ist die zum Stoff." Seine Kollegen wissen Bescheid, trotzdem versteckt er seinen Konsum. Wie alle Drogenabhängigen hat er so seine Momente, wo er damit aufhören will. Und andere Momente, in denen er am liebsten für immer einschlafen würde.

Dora ist Ermittlerin bei der Polizei. Auch sie ist abhängig von Tabletten und besucht Treffen der Anonymen Alkoholiker, von denen die meisten Rückfälle erleiden. Ein Kollege, von dem sie vermutet, er habe ein Alkoholproblem, unterstützt sie. Sie unterlässt es, ihn auch zu den Treffen zu drängen; sie weiss, dass Drängen nichts nützen würde.

Doras Polizeikollege Rado, ein alleinerziehender Vater, ist von der Kriminalpolizei in die Rauschgiftabteilung gewechselt. Sein Bruder Zeljko verdient als Profi-Killer sein Geld und hatte einst versucht, Dora umzubringen, was sich wie eine Parodie aus einem Lehrbuch für Kriminologie liest: Der eine wird Polizist, der andere kriminell.

Joel, der Rettungssanitäter, wird tot aufgefunden. Dora, die wusste, dass Joel ein Suchtproblem hatte, und Rado werden auf den Fall angesetzt. Dann stirbt ein dreijähriges Mädchen, dessen Eltern drogenabhängig sind und dessen Grossvater ein Grossdealer ist, und Dora will einen Versuch mit Halluzinogenen wagen.

Doch ich will hier nicht die Handlung dieses abwechslungsreichen in Island ("Isländer haben eine lange Geschichte von Suchtkrankheiten, schon die ersten Siedler betranken sich mit Bier und berauschten sich mit Pilzen.") spielenden Krimis nachzeichnen, sondern hervorheben, was ihn zu einer wirklich tollen Lektüre macht.

Da sind etwa die vielfältigen Bezüge zum Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker, das ich allen Therapieansätzen weit überlegen finde, weil bei diesen Treffen die Leute aus eigener Erfahrung wissen, wovon sie reden. Dass Jón Atli Jónasson die Treffen sachlich und mit einen Blick für die Absurditäten der menschlichen Selbstinszenierung schildert, ist eine besondere Freude. "Als Nächstes tritt ein Mann in schwarzem T-Shirt und Anzug mit Frisur im Achtziger-Jahre-Stil ans Rednerpult (...) Der Mann ist Musiker, hatte vor über dreissig Jahren einmal einen grossen Hit, von dessen Erfolg er immer noch zehrt (...) Am Ende seines Vortrags betont er noch, dass er ohne Demut heute nicht clean wäre. So etwas zu sagen und dabei ein T-Shirt mit einem Bild von sich selber zu tragen, muss man erst mal bringen." Wunderbar!

Und da sind die schlauen Beobachtungen, die Autoren eigen sind, die mit einem nüchternen Blick durch die Welt gehen. "Man darf sein Leben ungestört ruinieren, solange man zur Arbeit erscheint und sein Ding macht, überlegt Dora." Oder: "Sie weiss sogar die genaue Fläche, das Einkaufszentrum ist 62000 Quadratmeter gross – aber gleichzeitig kann sie sich nicht mehr daran erinnern, mit wem sie zum ersten Mal Sex hatte." Oder: "Rado konnte ihn schon immer direkt durchschauen. Er sieht irgendeinen Kern, der ihm selbst verborgen ist."

Gift habe ich hauptsächlich als einen Krimi über Sucht gelesen; die Aufklärung, die er bietet, sollte aufrütteln. "Wenn man von Überdosis spricht, klingt es für Dora so, als gäbe es auch eine normale Dosis, so etwas wie eine empfohlene Tagesdosis. Und wer von einem Suchtproblem spricht, redet ihrer Meinung nach eine lebensgefährliche, unheilbare Krankheit klein. Man spricht schliesslich auch nicht von einem Krebsproblem."

Gut geschriebene, fesselnde Krimis lehren mich mehr über die Welt ("In den USA stirbt alle fünf Minuten jemand an einer Überdosis Fentanyl, dagegen war Covid ein Witz.") als die Nachrichten. Gift ist einer dieser gut geschriebenen, fesselnden Krimis.

Jón Atli Jónasson
Gift
Ein Fall für Dora und Rado
FISCHER Scherz, Frankfurt am Main 2025

Sonntag, 23. November 2025

Akzeptanz

Bei den AA habe ich gelernt (genauer: gehört), "acceptance is the key to everything". Das scheint mir bei allem, was ich an Spirituellem etc. mir seit meiner Jugend reingezogen habe, immer noch das beste. Was meint das?

Die Wahl der Miss Nikkei auf Brasilianisch in Porto Alegre vor einigen Jahren war so eine Art absurdes Theater. Jede der 15 Kandidatinnen hatte ihren Supporter-Klub, der brüllte, schrie und ohrenbetäubend pfiff, wenn sie auftrat. Wie beim Fussball. Grauenhaft. Und ich fand mich völlig fehl am Platz. Und gleichzeitig fand ich auch gut, dass ich dort war. Weil ich irgendwie das Gefühl hatte, alles müsse so sein, wie es ist. Unabhängig davon, was ich davon finde. Genau das gleiche Gefühl hatte ich auf der Rückfahrt nach Santa Cruz, obwohl zwei Stunden im Auto durch die Nacht zu rasen, nicht gerade meinen Vorstellungen von einem sinnvollen Leben entspricht. Und dieses Gefühl habe ich gar nicht so selten, es kommt nur darauf an, ob ich es wahrnehmen will. Mit andern Worten: die Dinge sind, wie sie sind. Und ich bin wie ich bin. Manchmal voller Trauer, gelegentlich voller Zuneigung, aber auch deprimiertheit, von Angst bestimmt, Freude erfahrend und lachend.

"Es ist alles so traurig", sagte mein Freund Wamse häufig. Aber auch: "Wenn wir unsern Humor nicht hätten". Was wir möchten ist nicht so wichtig. Wir wollen eh ständig was anderes. Oder aber wir wollen mehr, kaum haben wir was wir wollen. Wichtig scheint mir: Lernen, das zu wollen, was wir haben. Oder: Das tun zu wollen, was wir tun. Denn es sind unsere Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, die uns im Weg stehen, nicht die Wirklichkeit. Aber Erwartungen etc. gehören doch zum Menschen, Hoffnungen und Wünsche treiben uns doch an? Sicher, doch ist die menschliche Natur eben auch dergestalt, dass sie nie genug kriegt. Und das ist das Problem. "When we understand nature, we can change it, we can detach from it, we can let go of it. Then we won't suffer anymore", sagt der thailändische Mönch Ajahn Chah.

Mittwoch, 19. November 2025

Die Entdeckung des Selbst

Bereits nach den ersten Seiten ist mir klar, dass dies ein wesentliches Werk ist. Genauer: Ein für mich wesentliches, denn wofür Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard stehen, ist mir nahe. „Die Gedanken der drei Aussenseiter trafen sich in einem entscheidenden Punkt, in der Ansicht, dass ein Leben gelebt werden muss, um verstanden werden zu können.“ Das Denken der drei kreiste um das Selbst und dieses „verweigert sich der Kommunikation, die auf Verständigung und Integration pocht, es beharrt auf einer eigensinnigen Souveränität, auf dem Unsagbaren."

Sehr schön zeigt Eberhard Rathgeb auf wie die drei Philosophen quer zum Zeitgeist standen. Die moderne Gesellschaft gründete auf dem Zusammenleben, das den Kompromiss erforderte – und dieser war ihnen fremd. „Das 19. Jahrhundert kannte viele Kritiker der Gesellschaft, aber nur ganz wenige, die sich dem Sog der Moderne verweigerten und radikal Neues probierten.“ Ich fühlte mich an Wittgenstein erinnert, der gemäss seinem Biographen Ray Monk nicht bereit zur Diskussion war, wenn er eine Einsicht durch Inspiration gewonnen hatte.

Als Einzelgänger charakterisiert Autor Rathgeb die drei; als aristokratischen Radikalismus bezeichnet er, was sie vereint. „Das Gespräch der Zeitgenossen über Gewinn und Gerechtigkeit, Demokratie und Eigentum, fand ohne sie statt.“ Wie wünschte man sich solche Denker, die sich dem Mainstream verweigern, doch auch in der heutigen Zeit!

Die Kapitelüberschrift „Der Mensch ist nicht frei“ fasst Schopenhauers Denken treffend zusammen, denn der Mensch folgt dem in ihm angelegten Charakter. Auch E.T.A. Hoffmann sowie Kleist und später die Psychoanalyse sahen den Menschen von Kräften regiert, die den Vernunftgläubigen zuwider waren. Es sind auch Hinweise wie diese, die mich dieses Werk schätzen machen. Auch die moderne Hirnforschung bestätigt übrigens, dass das Gehirn nicht unwesentlich als Rationalisierungsinstrument zum Einsatz kommt.

Dass Schopenhauer von den an Universitäten Lehrenden nicht willkommen geheissen wurde, erstaunt wenig, was hingegen verblüfft (zugegeben, ich rede von mir), ist, dass er sich darob grämte. Da hatte er doch mit Die Welt als Wille und Vorstellung ein grundlegendes Werk geschrieben, das nicht nur Theorie, sondern von praktischem Nutzen war – doch die Anerkennung blieb aus! Und genau das, jedenfalls für mich, zeichnet ihn doch geradezu aus.

Schopenhauer gewann seine Erkenntnisse durch Anschauung. „Dass sein Werk nicht auf begrifflichen Ableitungen, sondern auf Anschauungen gegründet sei, hat er immer wieder hervorgehoben.“ Eberhard Rathgeb vergleicht die philosophische Erfahrung beim Abfassen von Die Welt als Wille und Vorstellung mit einer Reiseerfahrung, die ich so wunderbar finde (schon allein deswegen lohnt sich für mich dieses Buch), dass ich sie in voller Länge zitieren will.

Er sah aus dem Fenster der Kutsche, sah Wiesen, Felder und Dörfer, Städte, Berge und Flüsse an sich vorbeigleiten, sah sich selbst in der Kutsche sitzen und die Gegend betrachten und spürte sich als einen winzigen, durchgerüttelten Teil eines grossen unbekannten Ganzen, das zu ergründen auf einer Reise nicht gelingen konnte. Die Welt nahm ihn nicht zur Kenntnis, sie wies ihn ab, er war ihr egal. Die Bilder, die er von ihr erblickte, wenn er aus dem Fenster der Kutsche spähte, tauchten nur für Augenblicke auf und verschwanden sofort wieder. Die Landschaften zwischen London und Nîmes gingen unter, wenn er sie nicht als Vorstellung festhielt, so, wie er in der Fremde letztendlich einsam und verloren war und dort nur überleben konnte, wenn er, in den schwarzen Kasten des Ich gesperrt und von Pferdekräften davongetragen, mit philosophischem Gleichmut sitzen blieb und das Gefühl von Kommen und Gehen, Werden und Vergehen wie Luft einatmete und ausströmen liess und dem Weg folgte, den nicht er, sondern ein ihm fremder Kutscher zu kennen schien.“

Die Entdeckung des Selbst ist auch eine Einführung in das Werk dieser drei Philosophen, das nicht getrennt von deren Leben abgehandelt wird – im Gegenteil. Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche, bei aller Verschiedenheit, waren definitiv selbstherrliche Egomanen, allerdings keine Rechthaber, denn sie hatten (und haben) Recht. Jedenfalls sehe ich das so. Werde, der du bist, mit dieser Aufforderung lassen sie sich fassen.

Die drei Aussenseiter, so der Autor, dachten vom Gefühl aus. Sie schreiben über sich selbst, bemühen sich um ihre subjektive Wahrheit. Ihre Schriften sind sowohl Selbstfindung wie auch Selbstinszenierung. „Kierkegaard war bis zum letzten Atemzug ganz bei sich, und dies mit einer Intensität, wie sie nur wenigen Menschen eigen ist.“

Wie jedes Buch, so lädt auch Die Entdeckung des Selbst zur Identifikation ein. Mir selber stehen Schopenhauer und Nietzsche näher als Kierkegaard (die Gründe interessieren mich wenig, konventionellen Interpretationen misstraue ich; mir genügt, es zu konstatieren); Eberhard Rathgeb inspirierten die drei unter anderem, sich ausführlich und kenntnisreich mit Malern wie Degas oder Manet zu befassen, die er als „stumme Philosophen“ bezeichnet, die zeigen anstatt in Worte zu kleiden. „Die Maler können einen Augenblick zeigen, was jedem Schriftsteller und jedem Philosophen verwehrt ist, die beide auf Wörter angewiesen sind, flüchtige Wesen ohne Form und Farbe, die sich vor die sichtbare Welt schieben und den Augenblick in Sätzen verdunkeln und untergehen lassen.“

Selten ist mir deutlicher geworden, dass seit dem 19. Jahrhundert die gesellschaftlichen Bestrebungen in der Integration gipfeln, dass seither der Akzent auf Eigeninitiative und Reformen sowie dem Kompromiss liegt. Im Gegensatz dazu stellten sich die drei Einzelgänger „an den Rand des Abgrunds und atmeten die kalte Luft der Erlösung im kosmischen Willen, in Gott, im Amor fati.“

Nicht zuletzt ist Die Entdeckung des Selbst auch ein wahrhaft aktuelles Buch, denn das Leben, „erklärte Nietzsche mit Schopenhauer, war grausamer und wilder als jeder theologische, historische und moralische Sinn, mit dem Rationalisten es zu bändigen und in eine trügerische Ordnung zu zwingen suchten.“ Der Ukraine-Krieg zeigt gerade, dass unsere üblichen Vernunft-Ansätze vor der Realität versagen.

Fazit: Wunderbar inspirierend! Ein wesentliches, überaus hilfreiches Werk.

Eberhard Rathgeb
Die Entdeckung des Selbst
Wie Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard die Philosophie revolutionierten
Blessing, München 2022

Sonntag, 16. November 2025

Diogenes von Sinope

 Ich durchsuchte die Kulturgeschichte nach einer Galionsfigur. Diogenes von Sinope, der kuriose griechische Philosoph, schien mir der Richtige. Obwohl ich in der Regel Philosophen nicht mag – ausgenommen dichtende Denker wie Montaigne, Schopenhauer, Emerson, Thoreau, Egon Friedell und Ludwig Marcuse – , war Diogenes mir besonders sympathisch, weil er nicht nur theoretisch, sondern auch durch seinen Lebensstil alles Herkömmliche bekämpfte. Auch war er der erste Kosmopolit (er soll gesagt haben, er sei ein Bürger des Kosmos und die einzige richtige Staatsordnung sei das Weltall), und auf die Frage, was die Philosophie nutze, soll er geantwortet haben: ›Wenn nichts anderes, so doch, dass man für jedes Schicksal gerüstet ist.‹ Seine Askese war nicht Weltflucht, sie war derbste Lebensbejahung. Und was mich erheitert: Keine Zeile von ihm ist erhalten, sein Geist aber lebt.

Daniel Keel

Mittwoch, 12. November 2025

Gehirn & Verhalten

Vor einigen Jahren habe ich völlig fasziniert Christian Jungersens „The Exception“ gelesen, einen spannenden und aufwühlenden Krimi, der am D.C.I.G., dem ‚Danish Center for Information on Genocide‘ spielt. Ich nahm also „Du verschwindest“ mit der Erwartung zur Hand wiederum spannend und aufwühlend informiert und unterhalten zu werden – und wurde nicht enttäuscht.

Frederik, Rektor einer dänischen Privatschule, ist mit seiner Frau Mia und dem 16jährigen Sohn Niklas in Mallorca mit dem Auto unterwegs. Normalerweise ein vorsichtiger und besonnener Fahrer, rast er wir ein Verrückter über die Strassen – eine Katastrophe bahnt sich an. Und die tritt dann auch ein, doch anders als erwartet.

Frederik wird mit einem Gehirntumor diagnostiziert, der orbitofrontale Cortex ist beschädigt und das bedeutet, dass der Kranke irrtümlich glaubt, gesund und im Vollbesitz seiner Steuerungsfähigkeiten zu sein. Tatsächlich jedoch sind sein Interesse an anderen Menschen und sein Einfühlungsvermögen kaum noch existent, ist er hemmungslos, distanzlos und überschätzt sich masslos, zudem ist seine Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt. Er ist zu einer anderen Person geworden.

Er wird operiert, doch auch nach der Operation ist er nicht mehr der, der er einmal war. Er ist extrem unbeherrscht, die geringsten Kleinigkeiten können heftigste Wutanfälle auslösen. Mia wendet sich an eine Selbsthilfegruppe. Der Anwalt Bernard ist auch Mitglied dieser Gruppe, er hilft Frederik. Mia und Bernard kommen sich näher … und Bernard entpuppt sich schlussendlich als ebenso gehirngeschädigt wie Frederik.

Die Ehe von Frederik und Mia war schon vor der Operation nicht ideal, doch in den drei Jahren vor seinem Sturz war Frederik ein Traummann. Jetzt hingegen lebt er in einer Parallelwelt, die sich unter anderem dadurch charakterisiert, dass er unfähig zur Empathie zu sein scheint. Und dass er ungerührt und ohne Schuldbewusstsein lügt.

Dann stellt sich heraus, dass er als Schulvorsteher das Bankkonto der Schule geplündert und diese damit ruiniert hat. Und zwar ein Jahr bevor der Gehirntumor bei ihm diagnostiziert worden war. Seit wann, fragt sich Mia. lebt sie schon mit einem Mann, der in einer von seiner Umwelt abgespaltenen Welt lebt? Wann hatte Frederiks mangelnde Impulskontrolle angefangen? Hatten seine Affären, die er vor Jahren mit anderen Frauen hatte, etwa auch damit zu tun? War er in der Zeit, als sie ihn als Traummann erlebte, auch schon gehirngeschädigt?

Mia liest Fachliteratur, lernt viel bei den Treffen der Selbsthilfegruppe. „Dort wissen alle, wie die Zusammenhänge sind. Sie tun nicht nur so.“ Mit der Zeit beginnt sie, eine Welt wahrzunehmen, von der sie bis anhin keine Kenntnis hatte. „Noch vor wenigen Minuten ahnte ich nicht, dass es diese geheime Welt aus tausenden Familien gibt, die mit Hirngeschädigten leben müssen.“

Christian Jungersen ist mit „Du verschwindest“ eine überzeugende und beklemmende Darstellung einer gespaltenen Persönlichkeit aus der Sicht von Nahestehenden gelungen. Besonders eindrücklich schildert er, wie Mia mit ihrer neuen Situation klar zu kommen versucht. Da ist ja nicht nur die Krankheit ihres Mannes, da ist auch der finanzielle und soziale Absturz, den sie zu bewältigen hat. Sie beginnt an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln, weiss nicht mehr, was sie glauben soll/kann und verliert zunehmend den Boden unter den Füssen.

Im Internet stösst sie auf die „Iowa gambling task“ des Neurologen Antonio Damasio, der zu den Wegbereitern der Neurophilosophie gehört und die Auffassung vertritt, „dass rationales Denken und ethische Bewertungen nicht unabhängig von einem Körper und dessen physischen Reaktionen existieren“. Damit wäre Frederik für seine Handlungen nicht verantwortlich …

Mit „Du verschwindest“ ist Christian Jungersen wiederum ein grosser Wurf gelungen. Nicht nur, weil er einen dazu bringt, sich eingehend mit Fragen der persönlichen Verantwortung (haben wir einen freien Willen?) auseinanderzusetzen, sondern auch, weil er eindringlich und überzeugend aufzeigt, wie sich Verhaltensstörungen (abrupte Stimmungswechsel, fehlende Impulskontrolle) eines Einzelnen auf dessen ganze Umgebung auswirken.

Christian Jungersen
Du verschwindest
btb, München 2014

Sonntag, 9. November 2025

Mittwoch, 5. November 2025

Von der Gegenwart

Das bei weitem Unbegreiflichste ist für mich die Gegenwart.

Im einen Moment bin ich in Grabs, bei einem Fotos des Hauses, in dem ich geboren wurde. Dann in San Francisco – zu Fuss auf den Strassen unterwegs, in Second Hand Buchläden, beim Burritos Essen, am Meer – , dann wiederum plötzlich in Porto Alegre, im Ibis Hotel beim Busbahnhof, in einem Buchladen in der Fussgängerzone, im Ibis Hotel am Flughafen. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was diese Bilder in meinem Kopf ausgelöst haben könnten, ja, so recht eigentlich weiss ich gar nicht, ob es dafür einen Auslöser gebraucht hat. Das einzige, was ich mit einiger Bestimmtheit sagen kann: Sie sind da und sofort wieder weg.

Niemand vermag zu sagen, ob das Huhn oder das Ei zuerst da war. Mit unserer Art zu denken ist die Frage nicht zu beantworten. Wir lassen trotzdem nicht ab von unserer Art zu denken, schliesslich haben wir ihr einiges zu verdanken. Vor allem Orientierung – und ohne die können wir nicht sein.

In Santa Cruz do Sul: Beim Notieren einer Übersetzung eines portugiesischen Satzes ins Deutsche tauchen plötzlich Bilder aus der Innenstadt von Feldkirch in meinem Kopf auf. Der Gedanke streift mich: Wie kann das sein? Gefolgt vom Gedanken: Nein, das will ich nicht versuchen rauszufinden, ich weiss, das übersteigt meinen Horizont.

Verwirrend ist, dass ich nur die Gegenwart erfahren kann. Ich tue das ständig, wir alle tun das ständig. Nur eben: Es kommt uns nicht so vor, wir haben das Gefühl, sie renne uns davon. Unsere Gefühle und Gedanken, so erlebe ich es jetzt im Alter, führen uns oft in die Irre, da wir nach Sinn verlangen, einem Sinn, den wir verstehen.

***
Wenn wir aufwachen, beginnt die Welt, habe ich letzthin bei Vincent Deary gelesen. Jeden Tag, ohne nachzudenken oder bewusste Anstrengung, erschaffen wir die Welt, in der wir leben. Genauer: Etwas in uns erschafft sie. Bei jedem Aufwachen wacht diese deine Welt mit dir auf. Ein tägliches Wunder.

Die erste unmittelbare Erfahrung, die wir von uns selbst machen, ist die eines Mediums, in dem eine Welt sich manifestiert, in der wir das Zentrum sind. Es ist eine sehr eigene Welt, die hier jeden Tag entsteht, ohne mein Zutun. Wenn ich mich dieser Einsicht öffne, verschwindet mein Ego, bin ich in der Gegenwart.

Seit einiger Zeit beobachte ich oft meine Gedanken. In Sekundenschnelle führen sie mich hierhin und dorthin. Was sie dabei leitet, ist mir schleierhaft; dass ich es ergründen könnte, ziehe ich selten in Betracht – zu schnell, zu verwirrend, zu zusammenhangslos (jedenfalls für meine Logik) spielt sich das alles ab.

Sonntag, 2. November 2025

Keine Ziele, schon gar keine hohen

Hanna Johansen, 1939 in Bremen geboren und in Kilchberg bei Zürich lebend, hat während dreier Monate protokolliert, wie sie Klavier spielen lernte. Nein, nicht sie, sondern die Ich-Erzählerin, die, so ist zu vermuten (weshalb auch sonst die Unterscheidung?) nichts oder nur wenig mit der Autorin zu tun hat. Zumindest soll das (oder etwas Ähnliches) suggeriert werden.
 
Wie auch immer. Wie viel von der Autorin in der Ich-Erzählerin zu finden ist, ist eine Frage, die Literaturinteressierte beschäftigen mag. Ich will mich allein damit beschäftigen, was das Buch bei mir auslöst.
 
Sofort gepackt hat mich der Titel. Dass und wie eine Frau im fortgeschrittenen Alter das Klavierspielen entdeckt, weckte meine Neugier. Ich versprach mir von der Lektüre etwas Zen-Buddhistisches, Acht- und Wachsames, Schwieriges und gleichzeitig Leichtes. Und fühlte mich darin bestätigt, als ich las: „Heute ist ein duftender Septembertag, nur ein Hauch von einem Wind, damit man die Frische fühlen kann, ein leises Wehen in der Birke, kein Rauschen, kein Rascheln.“
 
„Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte“ lese ich als einen Text über die verschiedensten Wahrnehmungen und ihren Umgang damit: leicht, schwebend, konstatierend, nie problematisierend. „Schön war an dem Spaziergang auch, dass ich Schuhe mit dünnen Sohlen hatte, die es erlaubten, das Geröll und die Unebenheiten auf dem Weg genau wahrzunehmen.“
 
Es ist auch ein Text zum Schmunzeln. „Ich muss meine linke Hand besser verstehen. Sie hat es nötig. Und während ich darüber nachdenke, höre ich im Radio eine Motette von Bach: 'Der Geist hilft unserer Schwachheit auf', singen sie. Ich hoffe, sie hat es gehört, meine Linke.“
 
Vor Kurzem las ich Thupten Jinpas „Mitgefühl“, in dem viel vom Üben die Rede war. „Wenn wir uns morgens ein Ziel setzen, treffen wir damit eine Entscheidung, wie wir unseren Tag gestalten wollen. Wir nehmen unser Leben selbst in die Hand, anstatt abzuwarten, was uns wiederfährt. Vielleicht gerät unser Entschluss im Laufe des Tages ins Wanken und unsere Absicht zeitweise ausser Sicht; aber indem wir uns ein Ziel setzen – und es immer wieder erneut setzen – , erkennen wir die Tatsache an, dass wir eine Wahl haben ...“.
 
Daran fühlte ich mich erinnert, als ich bei Hanna Johanson Sätze las wie: „Heute habe ich wieder vor dem Frühstück am Klavier gesessen, aber sonst war ich nicht gerade diszipliniert. Das macht nichts, solange ich nicht zulasse, dass Tage ganz ohne Üben vergehen.“ Oder: „Hürden sind dazu da, zerlegt zu werden, das weiss ich schon.“ Oder: „Die individuellen Varianten will ich nicht unterschätzen, aber auch der begabteste Mensch wird Widerstände zu überwinden haben, einfach darum, weil die neuen Wege im Gehirn noch nicht vorgespurt sind. Bei den langwierigen Ausbauarbeiten an diesen Wegen wäre die Erfahrung einer Lehrerin zweifellos nützlich, aber ich habe mir nun mal in den Kopf gesetzt, das Rad neu zu erfinden. Mich lockt es, die uralten Beobachtungen selber zu machen und die wahrscheinlich ebenso uralten Auswege selber zu finden. Lernen.“
 
Sie lernt alleine, ohne Lehrer. Ihr ist klar, dass „eine Lehrerin mit dem entsprechenden Urteilsvermögen hilfreich wäre“, doch sie will es alleine schaffen, nicht verbissen, doch bestimmt, sie ist eben so.
 
Toll, ganz wunderbar, höchst motivierend, so wirkt dieser Text auf mich, der natürlich nicht nur vom Klavierspielen handelt, sondern auch von ganz vielen anderen Dingen und Ereignissen im Leben der Protagonistin – der Kindheit in Norddeutschland, den eigenen Kindern, der Gegenwart in der Schweiz, der Gartenarbeit („Rasenmähen gehört zu den wenigen Dingen, die man nicht lernen muss.“), dem Lernen („Bewegungsabläufe müssen in Fleisch und Blut übergehen, heisst es ... Begreifen reicht nicht.“), dem Wetter und und und ...
 
„Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte“ ist ein berührendes, lehr- und hilfreiches Buch, das unterhaltsam und anregend Mut aufs Lernen und auf eigene Entdeckungen macht.

Hanna Johansen
Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte
Doerlemann, Zürich 2014

Mittwoch, 29. Oktober 2025

Was mich leitet

 Es versteht sich von selbst: Ich weiss nicht wirklich, was mich leitet, denn ich (wie jede und jeder andere auch) bin viel zu komplex, um dies wissen zu können. Dazu kommt, dass der Anteil meines Bewusstseins gering ist und vorwiegend dann zum Einsatz kommt, wenn ich im Nachhinein Gründe für mein Verhalten finden will. Nichtsdestotrotz gibt es Sätze, die mich schon lange begleiten und auf die ich immer wieder zurückkomme. Und von denen ich annehme, dass sie mein Verhalten bzw. mein Sein in der Welt prägen. An Ostern 2025 gehen mir unter vielen anderen diese Sätze durch den Kopf.

„Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.“ (Paul Valéry). Die Medien tragen aktiv dazu bei, indem sie uns wissen lassen, was X und Y denken (ganz so, als ob sie es wüssten), obwohl wir doch gar nicht wussten, dass es X und Y überhaupt gibt. Und auch die X und Y, die es gibt, haben keinen Einfluss auf meinen Alltag, ausser ich lasse sie in meinen Kopf. Doch was ist es, was die Leute angeht? Es zeigt sich, wenn man sich ihm nicht in den Weg stellt.

„Das Kausalitätsprinzip hat unserem Geist recht seltsame Streiche gespielt.“ (Paul Valéry). So glauben wir zum Beispiel, dass alles seinen Grund haben müsse. Und falls nicht, finden können wir einen solchen Grund gleichwohl. So erinnere ich aus meinem Jurastudium diese erhellenden Sätze: „Das Wichtigste ist, zu einem Entscheid zu kommen. Gründe dafür finden wir dann immer noch.“ Damals dachte ich, Juristen (und Juristinnen) seien echt beschränkt (so recht eigentlich sind das alle, die in Systemen denken), was sich im Laufe meines Lebens bestätigt hat, doch bewusst geworden ist mir mittlerweile auch, dass diese Sätze treffend zusammenfassen, wie wir unser Dasein zubringen.

„Mit unseren Welterklärungen wird uns mehr genommen als gegeben. Sie erklären nichts, setzen nur an die Stelle des Geheimnisses eine Gewohnheit zu denken.“ (Hans Albrecht Moser). Beobachte ich einfach, was mir so alles durch den Kopf geht, bin ich verwirrt und fasziniert; verloren fühle ich mich hingegen nicht. Auf Erklärungen zu verzichten, die Welt so unvoreingenommen wie möglich wahrzunehmen, ist eigenartig, bereichernd, weder beschreib- noch erklärbar, doch es lässt sich erfahren.

„Mein Lebenslauf ist bald erzählt. – / In stiller Ewigkeit verloren / Schlief ich, und nichts hat mir gefehlt, / Bis dass ich sichtbar ward geboren. / Was aber nun? – Auf schwachen Krücken, / Ein leichtes Bündel auf dem Rücken, / Bin ich getrost dahingeholpert, / Bin über manchen Stein gestolpert./ Mitunter grad, mitunter krumm, / Und schliesslich musst‘ ich mich verschnaufen. / Bedenklich rieb ich meine Glatze / Und sah mich in der Gegend um. / O weh! Ich war im Kreis gelaufen, / Stand wiederum am alten Platze, / Und vor mir dehnt sich lang und breit, / Wie ehedem, die Ewigkeit.“ (Wilhelm Busch). Es ist dies auch die überaus treffende Zusammenfassung meines eigenen Lebens, notabene von einem Mann, der mich gar nicht gekannt hat! Sonst hätte er das Detail mit der Glatze weggelassen, wie man auf dem Bild, aufgenommen von Blazenka Kostolna, im Jahre 2024 in Bad Ragaz, sehen kann.

Sonntag, 26. Oktober 2025

Fragmente eines Lebens

Zygmunt Bauman, geboren 1925 in Posen, starb 2017 in Leeds; das vorliegende Werk, von seiner Biographin Izabela Wagner herausgegeben, besteht aus ganz unterschiedlichen Schriften, für deren Zusammenstellung viel Einfühlungsvermögen erforderlich war. Einerseits sind es für die Familie geschriebene Texte, andererseits an die Öffentlichkeit gerichtete. Wie der Titel sagt, handelt es sich um Fragmente, und das meint auch, dass nicht alle Abschnitte seines Lebens Erwähnung finden.

„Wir leben zweimal. Einmal brechen und glätten wir; beim zweiten Mal sammeln wir die Teile auf und arrangieren sie zu Mustern. Im ersten leben wir, im zweiten erzählen wir die Erfahrung. Dieses zweite Leben scheint wichtiger als das erste – warum auch immer.“ Sehr wahr – und sehr, sehr eigenartig, dieses Leben, das wir leben, doch während wir es tun, nicht fassen können. Fraglich scheint mir hingegen dies: „Erst im zweiten taucht der tiefere Sinn an der Oberfläche auf.“ Nur eben: Diesen tieferen Sinn konstruieren wir, der taucht nicht einfach auf.

Fragmente meines Lebens lese ich hauptsächlich als Lebensanleitung. „Es ist wichtig, den tröstenden Gedanken hinter sich zu lassen, dass Aufgeschobenes nicht Aufgehobenes bedeutet ...“. Und so recht eigentlich ist „die einzig wirklich tödliche und unheilbare Krankheit das Leben selbst“. Dazu kommt, dass weise Sätze anderer, die Zygmunt Bauman begeistern, auch mich begeistern. Etwa die Einsicht von Maria Dabrowska: „All das irritiert die Menschen; als ob jemand, der nicht vollständig zu uns gehört, unser Leben in jeglicher Hinsicht an unserer Stelle leben wollte.“

Diese Einsicht beschreibt auch das Schicksal der Juden. „... dämmerte es mir, langsam, aber unaufhaltsam, dass es mein Schicksal war und wahrscheinlich bleiben würde, einer von jenen zu sein, 'die nicht ganz dazugehörten', die dazu verurteilt sind, 'Menschen zu irritieren'“, wie Bauman seine Erfahrungen am Berger-Gymnasium in Poznań beschreibt.

Über die Soziologie, die auf alles eine Antwort geben will, äussert er sich. Und über die Postmoderne, die ihm vor allem Fragen beschert. Und darüber, dass Memoiren zu verfassen vermutlich ein Akt der Verzweiflung ist. Braucht es einen Grund dafür? „... vielleicht gibt es auch überhaupt keinen Grund, nur ein Bedürfnis und einen Anstoss. Ganz ehrlich, ich weiss es nicht. Ich glaube, es ist mir auch egal.“

Auch von des Autors Familiengeschichte ist die Rede. Die Eltern hätten kaum gegensätzlicher sein können; die Schilderung der Verheiratung seiner Schwester, ihre Flucht aus Palästina und ihre Rückkehr liest sich ungemein spannend, auch weil der Autor es hervorragend versteht, den grösseren sozialen Zusammenhang sowie die Absurdität des menschlichen Lebens nachvollziehbar zu machen. Etwas störend ist, dass zwei Texte sich teilweise überschneiden, so dass es zu unnötigen Wiederholungen kommt.

Sein Vater, ursprünglich Ladenbesitzer, später Buchhalter von Beruf, versuchte sein Leben lang dem Rat des Schemaiah gerecht zu werden: „Liebe die Arbeit, verachte die Herrschaft und suche nicht die Bekanntschaft der Macht.“ Das hat auch auf den wissens- und bildungshungrigen Zygmunt abgefärbt, dessen Mutter im Krieg lernte, dass ihre Kochkünste, die sie bei den Truppen wie auch den Holzfällern zu einer gefragten Frau machten, die Familie vor grösserer Unbill bewahrte.

Fragmente meines Lebens ist das Werk eines Fragenden, der den Gewissheiten der Mehrheit wenig abgewinnen kann. Kein Wunder, gehörte er doch bereits als dicker, jüdischer Bub einer Minderheit an, die man nicht dabeihaben wollte.

Wie kommt es, dass der Mensch denkt und fühlt, wie er denkt und fühlt? Es spricht sehr für diesen hoch reflektierten und empfindsamen Autor, dass er nicht vorgibt, dies zu wissen. Und so hält er fest: „Ich kann nicht zufriedenstellend erklären, warum ich tat, was ich tat, wobei es mir vermutlich leichter fallen würde, es anderen zu erklären als mir selbst.“

Es ist ungemein wohltuend an den Einsichten und Erkenntnissen des Zygmunt Bauman teilzuhaben, der unter anderem gelernt hat, dass ein jegliches Sicherheitsversprechen eine Täuschung ist, es 'feste, stabile Prinzipien' nicht geben kann und solche bestenfalls Lügen sind. Gewiss ist ihm jedoch dies: „Ich habe nichts zu verlieren ausser meiner Selbstachtung.“

Nicht zuletzt ist Fragmente meines Lebens in Zeiten des für nicht wenige wiederum salonfähigen Antisemitismus eine überaus nützliche Lektüre, „Nach polnischen Massstäben war Poznań eine wirklich aussergewöhnliche Stadt, der es gelang, eine weitgehende Abwesenheit von Juden mit heftigster antisemitischer Stimmung zusammenzubringen. Ungestört von jeglicher Praxis des Zusammenlebens konnten örtliche Antisemiten sich voll und ganz auf den Prozess ihrer eigenen Veredelung konzentrieren (...) Poznań wurde zur treibenden Kraft und zur Festung der Nationalen Demokratie ...“.

Fazit: Hellsichtig, eindrücklich und vielfältig anregend. Ein wertvolles Buch!

Zygmunt Bauman
Fragmente meines Lebens
Suhrkamp Verlag / Jüdischer Verlag, Berlin 2024

Mittwoch, 22. Oktober 2025

Wie soll ich leben?

Es gibt Bücher, die sind wahre Glücksfälle – und Sarah Bakewells „Wie soll ich leben?“ gehört zweifellos dazu. Weil es glänzend geschrieben, originell und ganz wunderbar nützlich ist.

Die erste der zwanzig Antworten lautet: Habe keine Angst vor dem Tod! Zugegeben, so wahnsinnig originell ist das nicht, doch das Kapitel, das Sarah Bakewell ihr widmet, ist es. Wegen der Geschichten, die sie darin erzählt. Die eine geht so: Montaigne war um die 30 und arbeitete beim obersten Gerichtshof für Straf- und Zivilsachen, der auch Verwaltungsbefugnisse hatte, als er eines Tages mit einer Gruppe von Bediensteten seines Landgutes ausritt, vom Pferd fiel und eine Todeserfahrung machte. Hatte er bis dahin der Auffassung seiner Lieblingsphilosophen, den Stoikern, zugeneigt, die da meinten, wenn man auf den Tod vorbereitet sei, könne man ohne Furcht vor ihm leben, kam er nun zum gegenteiligen Schluss: „Je eindringlicher er sich vor Augen hielt, was ihm oder seinen Freunden alles zustossen konnte, desto unruhiger wurde er.“ Besser also, nicht daran zu denken und den Augenblick zu leben, denn Sterben bedeutet nichts anderes als das Bewusstsein zu verlieren: „Man stirbt, als würde man in den Schlaf hinübergleiten … Die Vorstellung, man könne ’sterben lernen‘, war ein Hirngespinst.“

Wie ein roter Faden ziehe sich die Überzeugung von der Vielfalt der Perspektiven durch die ‚Essais‘ schreibt Bakewell. Beispiele dafür finden sich in ihrem Buch zuhauf. Auch müsse man sich am Ende jeder Passage die Bemerkung hinzudenken: „doch nicht einmal dessen bin ich mir sicher“.

Montaigne hatte sieben jüngere Brüder und Schwestern und wurde bereits nach der Geburt zu einer einfachen Bauernfamilie im Nachbardorf zur Pflege gegeben. Dazu Bakewell treffend: „Wenn wir von den entwicklungspsychologischen Ideen des 20. und 21. Jahrhunderts ausgehen (die sich vielleicht bald als fragwürdig erweisen werden: vielleicht ist die Mutter-Kind-Bindung ein ebenso kurzlebiges, kulturell bedingtes Phänomen wie das Gestilltwerden durch eine Amme), so muss der mangelnde Kontakt zu den Eltern in den entscheidenden ersten Lebensmonaten Montaignes Beziehung zu seiner Mutter tiefgreifend geprägt haben. Montaignes eigener Einschätzung nach jedoch funktionierte der Plan perfekt, und er empfahl seinen Lesern, mit ihren Kindern möglichst dasselbe zu tun.“

Wie soll ich leben?“ ist auch ein hilfreiches Buch, weil es clevere Ratschläge bereit hält. Etwa: „Sei gewöhnlich und unvollkommen!“ Oder: „Philosophiere nur zufällig!“ Oder: „Bediene dich kleiner Tricks!“ Letzteres hat damit zu tun, dass es häufig keinen direkten Weg zu einem angestrebten Ziel gibt. In den Worten von Sarah Bakewell: „Die innere Einstellung zu ändern ist das Ziel vieler philosophischer Gedankenexperimente. Wenn man einen wertvollen Menschen oder ein wertvolles Gut verloren hat, stelle man sich vor, man habe diese Person oder diesen Gegenstand nie besessen. Und wie kann man etwas vermissen, das man nie besessen hat? Plutarch beschrieb dieses Experiment in einem Brief an seine Frau nach dem Tod der gemeinsamen zweijährigen Tochter. Er empfahl ihr, sich in die Zeit zurückzuversetzen, das das Kind noch nicht geboren war. Ob Plutarchs Gattin auf diese Weise leichter über den Tod des Kindes hinwegkam, ist nicht bekannt, doch zumindest wurden ihre Gedanken auf etwas anderes gelenkt, und sie versank nicht im Meer der tiefen Trauer.“

Richtig lebt man dann, so meinten die Stoiker (die mit den Epikureern viele Grundgedanken gemeinsam hatten), wenn man der alltäglichen Lebenspraxis möglichst viel Aufmerksamkeit schenkt und „amor fati“, Schicksalsergebenheit, lernt. Wie der Stoiker Epiktet schrieb: „Verlange nicht, dass alles so geschieht, wie du es wünschest, sondern sei zufrieden, dass es so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Ruhe leben.“

Sarah Bakewell
Wie soll ich leben?
oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten
C.H. Beck, München 2012

Sonntag, 19. Oktober 2025

"Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist"

Ich habe Sänger und Songwriter nie als Denker begriffen. Möglicherweise deswegen nicht, weil die Songs, die ich früher selbst geschrieben habe, intuitiv entstanden und ich Intuition und Verstand lange Zeit als Gegensatzpaare begriffen habe. Diese Interviews haben mich eines Besseren belehrt.

Eingeleitet werden die Gespräche von Heinrich Detering, der Dylans Satz: „The people in the songs are all me“ so kommentiert: „So erstaunlich diese Behauptung angesichts von Songfiguren klingt, die im spanisch-amerikanischen Krieg mitgekämpft haben, zum Schlägertrupp eines Bandenchefs gehören oder während ihres Monologs allmählich im Wahnsinn nächtlicher Halluzinationen versinken, so kennzeichnend ist sie für Dylans Songpoetik.“ Eine Sichtweise, die mich schmunzeln machte, da ich Dylans Satz ganz anders lese, nämlich so: Alle Aussagen, die wir über uns und die Welt machen, sind Aussagen über uns selber, denn etwas anderes kennen wir nicht, und können wir auch gar nicht kennen. Übrigens: Bei allen Wandlungen, die Dylan durchgemacht hat, so Deterich, ist sein „politisch-moralischer Wertekanon“ stabil geblieben. Wer auch immer wir sind, was auch immer wir tun, ein Kern in uns bleibt sich anscheinend immer gleich.

Die Gespräche sind chronologisch angeordnet. Da ich mit Bob Dylan-Songs gross geworden bin, erlaubt mir das eine ganz wunderbare Zeitreise in meine eigene Vergangenheit. Was mir bei den ersten zwei Interviews aus den 60er Jahren auffällt: Dass ich immer mal wieder lachen muss, was mich überrascht, denn ich habe Dylan bisher nicht mit Humor in Verbindung gebracht. Auf mich wirkte er meist abweisend und mürrisch, dabei ist er sehr witzig und schlagfertig.

Ich bin ganz erstaunt wie clever dieser Mann ist. Das liegt natürlich auch daran, dass ich mich nie wirklich mit ihm befasst habe. Jedenfalls verblüfft mich ungemein, wie eigenständig und hellsichtig sich der damals 24Jährige zu Museen und Galerien, ja zum Kunstbetrieb insgesamt äussert. Mit Labels wie „Protestsänger“, „Rock'n'Roll“ oder „Folkmusic“ kann er nichts anfangen. Er tut einfach, was er tut. „Ich schreibe, seit ich acht war. Ich spiele Gitarre, seit ich zehn war. Ich bin damit aufgewachsen, zu spielen und zu schreiben, was ich spielen und schreiben musste.“

Was denkt er über Politik, Hochschulen, Protestbewegungen und und und? Kaum ein Feld wird ausgelassen. Umso erfreulicher ist, dass es Dylan offenbar nicht drängt zu Allem eine Meinung zu haben. Doch die, die er hat, sind Ausdruck eigenständigen Denkens. Er selber hat das Studium abgebrochen, würde er anderen auch dazu raten? Nein, würde er nicht, doch „Ich würde ihm einfach das Studium nicht finanzieren.“ Hat er als Junge Präsident werden wollen? „Nein. Als ich ein Junge war, war Harry Truman Präsident. Und wer möchte schon Harry Truman sein?“

Berührend fand ich insbesondere, was er über sein Aufwachsen im nördlichen Minnesota sagte. „Im Winter war dort alles vollkommen still, nichts bewegte sich. Acht Monate lang.(...) Der ganze Mittlere Westen hat etwas stark Spirituelles, sehr subtil, sehr stark.“ Ich fühlte mich an Kathleen Norris' Dakota. A spiritual Geography sowie an Robert M. Pirsigs (in Zen und Die Kunst, ein Motorrad zu warten) Schilderung der Dakotas erinnert, die ihm deswegen speziell waren, weil sie nichts Besonderes versprachen und deshalb auch nichts einzulösen brauchten.

Selbstverständlich habe er ein Ziel und eine Mission, sagt Dylan und zitiert Henry Miller: „Die Rolle des Künstlers ist es, die Welt mit Desillusionierung zu impfen.“ Nicht alle Songs haben die Zeit gut überstanden, wie er auch selber meint.

Die einzigen wahren Spiegel seien Wasserpfützen, sagt er einmal. Und führt dann aus: „Ein Bild, das Sie in einer Wasserpfütze sehen, führt in die Tiefe. Ein Bild, das man beim Blick in ein Stück Glas sieht, hat keine Tiefe und keine lebendig gewellte Bewegung.“ Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist enthält ganz viele solch smarter Aussagen. “Es geht nicht um die Songtexte. Die Leute denken das immer, und vielleicht geht es auf den Platten um die Texte, aber auf der Bühne sind nicht de Texte das Entscheidende, sondern alles läuft über die Phrasierung, die Dynamik und den Rhythmus.“ Wahre Worte!

Die Palette, über die sich Dylan in diesen Gesprächen auslässt, ist ungeheuer breit. Von Shakespeare zu Elvis, vom Lesen der Bibel zum Malen, von Hitler bis zu meiner Lieblingsantwort (auf die Frage, ob er glaube, was einige behaupteten, dass Jim Morrison in den Anden lebe): „Ich habe bisher nicht das Bedürfnis gehabt, mir dazu eine Meinung zu bilden ...“.

Das Ich-Jahrzehnt hat Tom Wolfe die 1970er Jahre genannt. Diese Ich-Zeit dauert nach wie vor an, alles wird in der heutigen Zeit personalisiert, auf sich selber bezogen. Welt- und lebensfremder geht kaum. Umso erfreulicher ist, dass Dylan davon wenig infiziert scheint. „Als 'Hound Dog' im Radio lief, war meine Reaktion nicht: 'Wow, was für ein toller Song, wer den wohl geschrieben hat?' Mir war im Grunde gleichgültig, wer ihn geschrieben hat. Es war egal. Er war einfach ... er war einfach da.“

Fazit: Grossartig! Eine überaus erhellende, anregende und sympathische Zeitreise!

Bob Dylan
Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist
Gespräche aus sechzig Jahren
Kampa Verlag, Zürich 2021

Mittwoch, 15. Oktober 2025

Lob des Alltags

Hiroshima, Japan, am 12. Oktober 2025

Am Morgen einen Emile Cioran zugeschriebenen Satz gelesen, der mich seither begleitet: Was er mit 60 wisse, habe er bereits mit 20 gewusst. Mir geht das auch so, selbst die Vorlieben und Neigungen sind dieselben. Schon in Jugendjahren fand ich das Alltägliche, das Gewöhnliche weit anziehender als das Aussergewöhnliche, das Spektakuläre. Es ist nach wie vor so.

Für das angeblich Aussergewöhnliche, das man gesehen haben muss, werden in Hiroshima viele Busladungen herangekarrt. Als ich die Menschenmassen sehe, weiss ich, dass das nichts für mich ist. Stattdessen laufe ich nach dem Frühstück einfach los, lande an einem Fluss, gehe diesen unter Bäumen entlang und fühle mich an Lyon erinnert.

Über eine Brücke gelange ich ans andere Ufer, wo Bänke und vereinzelt Tische aufgestellt sind. Zum ersten Mal sehe ich weggeworfenen Abfall auf der Strasse. In Japan gibt es keine öffentlichen Abfallkübel. Ich komme zu einem Bahnübergang, wo die Schranke sich rauf und runter bewegt, wie bei einem Tanz. Als sie aufgeht, erklingt eine Minute später bereits die Sirene, die den nächsten Zug ankündigt – ich muss rennen, denn schon senkt sich die Schranke wieder.

Die Medien tun wie immer ihr Bestes, damit wir nichts, aber auch gar nichts von dem grenzenlosen Schwachsinn aus dem Weissen Haus verpassen. Sie tun aber leider noch mehr und schreiben die Friedenanstrengungen im Nahen Osten einem einzigen Mann zu. Einem Mann notabene, von dem man weiss, dass er nie etwas anderes tut, als sich selbst zu loben. Unvorstellbar, dass er bei anstrengenden Verhandlungen je dabei gewesen ist.

Es ist sommerlich heiss (31 Grad), die Sonne brennt herunter, ich setze mich auf einen der Bänke am Fluss. Bäume spenden Schatten. Ein Gedanke von Ouspensky geht mir durch den Kopf: Man müsse nirgendwohin, nichts erreichen. Später am Tag ein Interview mit Gabor Maté: Viel zu oft habe er in seinem Leben sich darum bemüht, mit Arbeit seine Existenz zu rechtfertigen.

Tags zuvor hatte ich am Hafen von Hiroshima meinen ersten japanischen Cappuccino getrunken (er war hervorragend) und meinen ersten Green Tea Cake probiert (ist zu empfehlen).

Das Aussergewöhnliche fällt einem zu, wenn man es nicht sucht.

Sonntag, 12. Oktober 2025

Group Stupidity

Tottori, Japan, 7 October 2025

We live in group stupidity and confuse this insanity with true experience. It is essential that you become transparent to yourself and wake up from this madness. Zazen means taking leave of the group and walking on your own two feet.

Kodo Sawaiki

Mittwoch, 8. Oktober 2025

Eigenartig, das alles

 

Himeji, Japan, 5. Oktober 2025

Der deutsche Verleger in Thailand, der mein erster Buch herausgebracht hat (Ways of Perception, White Lotus Press, Bangkok 2006) schickt mir einen Link zu einem Video, in dem er auf seinen Werdegang eingeht und darlegt, was er als wichtig erachtet. Ich nehme das als gelungenes Selbstporträt wahr, er selber hingegen nicht. Vielmehr habe es sich um einen Ausschnitt aus einem sehr langen Interview gehandelt, die Fragen habe allein der Journalist gestellt. Nun ja, die Fragen waren so recht eigentlich keine, der Journalist fungierte als reiner Stichwortgeber, doch mir geht es hier um etwas ganz anderes. 

Kurz nachdem ich mir dieses Video angeschaut habe, lege ich mich im japanischen Himeji, wo ich mich gerade aufhalte, aufs Bett und folge den Bildern, die sich in meinem Kopf einstellen: Die einstigen Verlagsräumlichkeiten in Bangkok; die junge Verlagsangestellte, die nicht gesund war, und entgegen dem Rat des Verlegers, der meinte, eine Schwangerschaft, sei zu gefährlich, da sie zu fragil sei, schwanger wurde; der Umzug des Verlags nach Huay Yai, gefolgt von Bildern vom nahegelegenen Pattaya.

Ein Film läuft in meinem Kopf ab, bei dem ich definitiv nicht Regie führe, denn auf einmal haben die Bilder keinen Bezug mehr zum Verleger, sondern zeigen Bangkoks Sukhumvit, wo ich einst viel Zeit verbracht habe, dann verschiedene Orte in Phuket Town, dann ein Hotel in Vientiane, gefolgt von Bildern eines jungen, gewitzten Mädchens in Phnom Penh, das Touristen Raubkopien gerade gängiger Bücher verkaufte. 

Wo kommen diese Bilder bloss herWie entstehen sieWas da vom einen Bild zum anderen und dann noch zu ganz vielen anderen führt, hat keine Logik, die ich nachvollziehen kann, erfolgt nicht zwangsläufig, geschieht einfach.

 Wir haben nicht den leisesten Schimmer, warum wir denken wie wir denken, empfinden wie wir empfinden. Und warum wir das alles so ernst nehmen. Es ist einfach nur eigenartig, das alles

Himeji, Japan, 5. Oktober 2025

Sonntag, 5. Oktober 2025

Homo homini lupus

Eine Talkshow im Fernsehen, die beiden Kontrahenten kennen sich, sie sind per Du. Es geht um die amerikanische Politik. Die Ansichten der beiden sind sich diametral entgegengesetzt. Es wird hitzig. "Jetzt rede ich!", sagt der eine, "Jetzt lass mich einmal ausreden!", der andere. Sie sind beide weit davon entfernt, auf den anderen einzugehen. Es ist offensichtlich, dass die beiden nur die Lust am recht haben verbindet.

Dass mich solche Wortgefechte viele Jahre interessiert haben, kann ich nicht mehr verstehen. Heutzutage sehe ich da nur noch Geltungsdrang und Eitelkeit. Abgesehen davon ist es entschieden sinnvoller, bei unvereinbaren Auffassungen (die einem auch ohne Diskussionen klar sind) nicht miteinander zu reden und getrennte Wege zu gehen. "You do your thing, I do mine."

Ein Leben lang wird uns ganz anderes vermittelt: Wir sitzen alle in einem Boot; der andere hat vielleicht gar nicht unrecht; konzentriert euch auf das Gemeinsame; baut Brücken.

Diese Art zu denken, so positiv sie auch gemeint sein mag, lässt ausser Acht, dass der Mensch keineswegs das zivilisierte Wesen ist, als das man ihn sich wünschen würde. Stattdessen: Homo homini lupus (Der Mensch ist des Menschen Wolf). Sich daran zu orientieren ist entschieden vernünftiger als dem Irrglauben zu huldigen, die Irren, die uns regieren, und diejenigen, die diese Irren kommentieren, seien von der Vernunft geleitet.

PS: Selbstverständlich gibt es zivilisierte Menschen. Sie beteiligen sich selten an den öffentlichen Rangeleien, was für sich allein allerdings noch kein Ausweis für Anstand ist.

Mittwoch, 1. Oktober 2025

"My" Kyoto

Kyoto, Japan, 28 September 2025

I'm not doing any of the usual things (parks, temples, and the like) for far too many people are doing that. As an Australian woman a few days ago remarked: If you're not into crowds, this is probably not for you.

Instead, I venture into sidestreets that turn out to be amazingly quiet. Hardly anybody is around save for the occasional elderly man watering the street or the plants in front of his house.

As hectic as the Japanese are in and around train stations, there is an atmosphere of calm and timelessness right around the corner. That at least is what I'm feeling here.

I'm reminded of similar sensations when, six years ago, I visited Japan for the first time. It was the calm, the quietness that made my ambling through the streets feel wonderfully light. I then thought it had to do with the attention to detail that I associated with the Japanese. When I mentioned this to the young Japanese photographer I visited in Kamakura, he dismissed it by stating that only few Japanese pay attention to details, the majority however does not. 

Be it as it may, I surely should be able to do without explanations. To see and feel I consider nowadays enough.

Sonntag, 28. September 2025

Die drei Christi aus Ypsilanti

Zugegeben, ich hatte zuerst Mühe, den Titel zu verstehen, denn weder war mir der Plural von Christus geläufig, noch dass es sich bei Ypsilanti um eine Stadt in Michigan handelt. Am 1. Juli 1959 bringt der Sozialpsychologe Milton Rokeach im dortigen Krankenhaus drei Patienten zusammen, von denen jeder glaubt, er sei Jesus Christus. Den alkoholkranken Landwirt Clyde Benson, den höchst aggressiven, gescheiterten Schriftsteller Joseph Cassel sowie den Veteran des Zweiten Weltkriegs Leon Gabor. „Wir hatten im Vorfeld entschieden, dass wir nicht versuchen würden, die Männer gegen ihren Willen zu irgendetwas zu bewegen, auch dann nicht, wenn wir deshalb unser Projekt aufgeben müssten.“ Doch was war das Projekt?

Die Forscher wollten den Ursprung verschiedener Überzeugungssysteme erkunden, denen die Menschen anhängen. Die Untersuchung basierte auf drei Annahmen. 1) Überzeugungen sind unterschiedlich stark. 2) je primitiver eine Überzeugung, desto schwieriger wird es sein, sie zu verändern. 3) wird eine primitive Überzeugung verändert, wirkt sich dies nachhaltig aufs ganze System aus.

Kindern wird beigebracht, zwischen wirklich und unwirklich zu unterscheiden. Das Wissen, was real ist und was ein Spiel, ist zentral für ihre Identität und erlaubt ihnen, Kontrolle auszuüben. Wie also kann es dazu kommen, dass sich drei ganz unterschiedliche Männer für Christus halten? Wie in psychiatrischen Kliniken üblich, werden ihnen viele Fragen gestellt, ihre Rationalisierungen und ihr Verhalten beobachtet. Die Stimmung bei den Gruppentreffen wird mit der Zeit gereizter, es kommt zu Gewaltausbrüchen.

Auf mich wirkt, was die drei, die sich gegenseitig beschuldigen, verrückt zu sein, von sich geben, wirr und unverständlich. Zum Teil aber auch scharfsinnig, fantasievoll und spielerisch. Und oft, sehr, sehr abgedreht. Gelegentlich fühlte ich mich an Psychiatrie-Witze erinnert. Ein Beispiel:

Als er (Leon) an den Tisch tritt, der für Clyde, Joseph und ihn reserviert ist, sagt er: ‚Ah, guten Morgen, Sie instrumentellen Götter‘, und setzt sich mit selbstzufriedenem Lächeln. ‚Diese Männer sind Opfer elektronischer Imposition‘, fährt er fort. Clyde springt auf und schreit: ‚Ich habe diesen Ort gemacht!‘ Sie tauschen einige Beleidigungen aus. ‚Halt’s Maul, du Schlampe‘, ruft Clyde, und Leon antwortet: ‚Ich bin keine Schlampe, mein Herr. Ich bin ein Lamm Gottes.’“ Zu versuchen, darin Sinn zu finden, wie das offensichtlich Milton Rokeach tut, halte ich für reichlich aberwitzig.

Die drei Christi aus Ypsilanti protokolliert dieses Experiment ausführlich und zeigt damit auch, wie der Sozialpsychologe Milton Rokeach und seine Mitarbeiter damals gearbeitet haben. Als nach den ersten Wochen, in denen Streitigkeiten und Ausbrüche die Regel waren, die Verantwortung für die Treffen den drei Männern übertragen wurde. kam die Identitätsfrage nur noch auf, wenn Rokeach sie bewusst ins Gespräch brachte.

Die identitären Konfrontationen, mit denen Rokeach operierte, führten nicht dazu, dass die drei Christi ihre Vernunft zurückgewannen. „Clyde und Joseph erweckten den Eindruck, im Wesentlichen unverändert geblieben zu sein. Doch an Leon lässt sich auch weiterhin feststellen, dass er sich kontinuierlich verändert oder dass sich immerhin sein Wahnsystem noch weiter verfeinert.“ Die Einsichten, die Rokeach für sich selber gewann, waren bedeutender, nicht zuletzt, dass diese drei paranoiden Männer „viel lieber nach Wegen suchten, miteinander in Frieden zu leben, anstatt einander zu zerstören.“

Höchst aufschlussreich ist auch, was der Autor zwanzig Jahre nach Abschluss des Experimentes berichtet. „Während es mir nicht gelungen war, sie von ihren Wahnvorstellungen zu heilen, war es ihnen durchaus gelungen, mich von der meinen zu heilen – von meinem gottgleichen Wahn nämlich, dass ich sie verändern könne, indem ich allmächtig und allwissend ihr tägliches Leben im Rahmen der ‚Institution insgesamt‘ organisierte und umorganisierte.“

Übrigens: Wir alle streben zu einem gewissen Grad danach, wie Gott oder Christus zu sein, schreibt Rokeach unter Bezugnahme auf Fichte, Dostojewski, Sherwood Anderson und William Faulkner. Und er zitiert den erklärten Atheisten Bertrand Russell: „Jedermann würde Gott gleichen wollen, wenn das möglich wäre; einige empfinden Hemmungen, die Unmöglichkeit zuzugeben.“

Fazit: Ein eindrückliches Dokument, das unter anderem zeigt, dass vor allem der Therapeut von der Therapie profitiert.

Milton Rokeach
Die drei Christi aus Ypsilanti
Eine psychologische Studie
Matthes & Seitz Berlin 2021