Samstag, 15. Mai 2021

Unter freiem Himmel

"Eine Anleitung für ein Leben in der Natur", so der Untertitel dieses sehr schön gestalteten Buches von Markus Torgeby, mit mich sehr ansprechenden Fotografien von Frida Torgeby. Doch wieso interessiert mich so ein Werk, da es mich selber überhaupt nicht danach verlangt, in der Natur zu leben? Neugier auf des Autors Motivation und auch darauf, was ihn dieses Leben lehrt.  "So lasst uns also unser Leben begreifend verbringen", habe ich als Jugendlicher in Henry David Thoreaus "Walden" gelesen. Es gilt für mich nach wie vor.

Draussen scheint Markus Torgeby alles einfach. "Mich plagten keine Zweifel, ich fühlte mich nicht komisch. Wenn ich im Meer schwamm und im Wind segelte, wurde mir klar, dass es etwas gab, das ich nie kontrollieren konnte: Ich konnte mich nur unterordnen, Die Natur war eine Schule, die ich mochte, mit anderen Fächern als Schwedisch, Mathematik und Religion."

Es sind solche Sätze, die mich innehalten lassen. Der Zweck der Schule ist es, uns zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft werden zu lassen. Wir werden nicht gefragt, ob uns das passt oder entspricht oder ob wir uns wohlfühlen; von uns wird erwartet, dass wir uns ins System einfügen, dass wir gehorchen. 

Markus Torgeby liegt das nicht. Er verlässt die Insel, wo er aufgewachsen ist, geht weg von der Krankheit seiner Mutter, seinen spirituellen Zweifeln und dem ständigen Genörgel seiner Oma. Neunhundert Kilometer im Norden von Göteborg beginnt er eine Ausbildung zum Pfleger und entschliesst sich unter einem Baumwolltuch im Wald zu wohnen.

"Mir gefiel die Idee, vollständig auf mich allein gestellt zu sein, wenn viel auf dem Spiel stand und alles schief gehen konnte." Er lebt ohne Radio und Fernsehen, versucht, sich zuzulassen und merkt, dass es okay ist, wenn er nicht alles kontrollieren kann und dass es in seinem Kopf immer "einen Raum voller Angst, Furcht und Kleingeistigkeit" geben würde. "Das Nichtstun sorgte dafür, dass mein Kopf endlich auf meinem Körper landete."

Unter freiem Himmel ist ein Lehrstück in Sachen Akzeptanz. Seine Angst vor der Dunkelheit lässt sich nicht vertreiben, doch sich nicht gegen sie zu wehren, macht sie erträglich. Er lebt sehr körperlich: Läuft durch die Sümpfe, schwimmt, klettert auf Bäume; im Winter ist er auf breiten Tourenskiern unterwegs, spaltet Holz, holt Wasser. "Ich machte alles in gemächlichem Tempo, hatte viel Zeit zum Nachdenken." Ich fühlte mich an das buddhistische Slow down time erinnert. 

Wir streben nach Glück, anstatt nach Sinn und das sei das Problem, so Markus Torgeby. Doch was hindert  uns, dieses anzugehen? Und überhaupt: Was genau ist es? Für ihn sei es ein Zuviel von allem gewesen, schreibt er. Zu viel Unruhe, zu viele Eindrücke. "Die Lösung bestand darin, nahezu sämtliches Input aktiv zu beseitigen. Das war nicht einfach, und es hat einige Zeit gedauert, aber für manche Probleme gibt es einfach keine schnellen Lösungen."

Unter freiem Himmel ist auch praktische Anleitung und informiert über die richtige Fussbekleidung, Schlafsack, Messer, Wolle, Axt, essbare Pflanzen und anderes mehr. Markus und Frida Torgeby leben heute mit ihren drei Töchtern in zwei Welten, auf einer umgebauten Alm in Jämtland, wo sie Strom haben, aber mit Holz heizen, und einem kleinen Haus in Öckerö. "Das Leben ist keine gerade Autobahn, es ist ein Waldpfad mit Wurzeln und Steinen, bergauf, bergab, durch Sumpfgebiete und über Bäche."

Fazit: Berührend und inspirierend, mit höchst gelungenen Fotos.

Markus Torgeby
Unter freiem Himmel
Eine Anleitung für ein Leben in der Natur
Heyne Hardcore, München 2021

Samstag, 1. Mai 2021

Wir müssen alle sterben

Jasmin Schreiber, Jahrgang 1988, schreibt ein Buch "Über das Leben, das Sterben und den Tod – und was ein Hamster damit zu tun hat." Und in mir denkt es: Was will mir eine junge Frau darüber schon sagen, sie soll zuerst einmal leben, ein paar Erfahrungen machen und so weiter. Und dann steht im Klappentext noch "gefeierte Bestsellerautorin", was für mich gleichbedeutend ist mit Mainstream (und wer will da schon dazugehören?). Gleichzeitig denkt es aber auch dies in mir: Bin neugierig, wie sie das sieht, bestimmt anders als ich. Und dann beginne ich zu lesen und bin sofort ganz begeistert. Wegen der Sprache, dem Stil und dem Rhythmus. Und weil ich einiges lerne.

Die Autorin ist studierte Biologin und ihre Betrachtungsweise eine biologische. "In diesem Buch möchte ich zeigen, wieso der Tod unschön ist, wir ihn aber trotz allem brauchen." So habe ich es noch nie gesehen, was womöglich auch daran liegt, dass ich mich bislang nicht mit Biologie auseinandergesetzt habe. Übrigens: Hermine ist ein Zwerghamster, lebte 2,5 Jahre, musste dann wegen schwerer Krankheit eingeschläfert werden – sehr berührend, wie das geschildert wird – und eignet sich, so die Autorin, "hervorragend dazu, Leben und Tod zu erklären."

 Dass wir aus Zellen bestehen, wusste ich, dass diese sich teilen, ebenfalls, doch Zelldifferenzierung? Zellen unterscheiden sich, eine Nierenzelle hat eine andere Aufgabe als eine Blutzelle. Dass Zellen absterben, war mir auch bekannt, doch falsch sei, so erfahre ich, "dass sich der menschliche Körper alle sieben Jahre komplett erneuere." Wobei: Es ist so ähnlich. Wie genau, darüber gibt dieses Buch Auskunft.

Wir Menschen sind zwar Teil der Natur, doch erleben wir uns getrennt von ihr. Das liegt an unserem Denken, das in Kategorien von gut und böse, traurig und grausam operiert. Solche Zuordnungen kennt die Natur nicht. "Alles ist darauf ausgerichtet, ohne moralische Wertung und möglichst effizient, die jeweilige Aufgabe zu erfüllen, sodass ein gut funktionierendes ökologisches Gleichgewicht herrscht."

Doch obwohl der Tod eine biologische Notwendigkeit ist ("Gäbe es den Tod nicht, würden wir uns entweder mit uralten und kaum funktionierenden Zellen eher schlecht als recht herumschleppen, oder wir wären durch die Gegend suppende Zellhaufen, die immer grösser werden würden."), tun wir uns gleichwohl schwer, ihn zu akzeptieren. Jasmin Schreiber bringt das Dilemma auf den Punkt: "... habe ich keine Lust zu sterben. Und dennoch ist mir klar, dass ich in keiner Welt leben wollte, in der es keinen Tod gäbe." 

Jasmin Schreiber schreibt anschaulich und witzig: Und sie kennt ihre Grenzen, weiss, dass man nicht sagen kann, wie man stirbt, trotz aller Erkenntnisse. Doch sie denkt auch über den Tellerrand hinaus und weist etwa darauf hin, dass man früher Friedhöfe oft auf Anhöhen anlegte, weil man der Meinung war, Leichen würden giftige Ausdünstungen absondern. "Man glaubte, dass diese Leichengase Krankheiten übertragen könnten, von Bakterien, Viren oder Pilzsporen, hatte man damals noch nicht einmal eine unscharfe Ahnung." Händewaschen und Desinfektion hielt man  übrigens bis weit ins 19. Jahrhundert für "unseriösen Humbug."

Sich mit biologischen Prozessen vertraut zu machen – und darum geht es hauptsächlich in diesem Buch – , trägt dazu bei, Leben und Tod als das zu begreifen, was sie so recht eigentlich sind  natürliche Vorgänge. Sich dagegen zu wehren, ist nicht nur aussichtslos, sondern auch ziemlich blöd. Doch auch Blödheit gehört zum Menschen. Dies zu akzeptieren, hat durchaus das Potential, uns mit der eigenen Sterblichkeit zu versöhnen. Gelegentlich.

Jasmin Schreiber
Abschied von Hermine
Über das Leben, das Sterben und den Tod
 – und was ein Hamster damit zu tun hat
Goldmann, München 2021