Mittwoch, 24. April 2019

Die Sehnsucht nach Sinn

Und dann änderte sich alles. Nicht etwa, dass sich etwas Dramatisches ereignet hätte. Auch nicht, dass er plötzlich eine neue Brille auf und bisher Vertrautes anders gesehen hätte. Er stellte nur ganz einfach fest, dass er nach dem Aufstehen sich nicht seinen Routinen hingab. Weder setzte er sich mit einer Tasse Kaffee vor den PC und las die 'New York Times' und die 'Washington Post' noch klickte er auf 'CNN' oder 'Politico' für seine tägliche Dosis Trump. Stattdessen legte er sich auf die Couch und las in Tomas Empedals Bergeners und wunderte sich, weshalb dieser Mann berühmt war und er nicht – der schrieb doch auch nicht viel anders als er selber. Als ob es darauf ankäme. Teil des Literaturbetriebs zu sein war entscheidend.

Er legte das Buch zur Seite, betrachtete die imposante sich im Wind wiegende Baumkrone vor dem geöffneten Fenster und gab sich seinen Gedanken hin.

Erst wenn sich eine Gewohnheit erschöpft hat, wird Neues ausprobiert.

To be receptive, we must not be so busy with what we can control that we fail to notice all the experiences, which are there for us. Our senses need to be open to see what is around us and hear what is in the air. We must breathe in the beauty and pain of life. When there is a message in our experiences, let us read it and not demand it fit our narrow, logical minds.

Hans Durrer
Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn
Ansichten und Einsichten
neobooks, 2019

Mittwoch, 10. April 2019

Verändere dein Bewusstsein

Zwei ungewöhnliche neue Moleküle brachen um die Mitte des 20. Jahrhunderts über den Westen herein, notiert Michael Pollen in Verändere dein Bewusstsein – LSD und Psilocybin (der Wirkstoff in Magic Mushrooms). Beide Psychedelika fanden Eingang in Forschung und Therapie, doch ihre Schattenseiten (Horrortrips, psychotische Schübe, Selbstmorde) relegierten sie schon bald in den Untergrund. Doch dann, in den 1990er Jahren, begann sich eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern  und Psychotherapeuten erneut für sie zu interessieren und "ihr Potenzial zur Heilung psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Traumata und Sucht" zu erproben.

Ich bin skeptisch, finde Nüchternheit die beste Droge. Auch Michael Pollan ist skeptisch. "Meine vorgegebene Sichtweise ist die eines gelassenen Materialisten, der glaubt, dass Materie der Grundstoff der Welt ist und die physikalischen Gesetze, denen sie gehorcht, imstande sein sollten, alles, was geschieht, zu erklären. Ich gehe von der Annahme aus, dass die Natur alles ist, was es gibt, und tendiere zu wissenschaftlichen Erklärungen der Phänomene. Vor diesem Hintergrund bin ich auch empfänglich für die Begrenztheit der wissenschaftlich-materialistischen Perspektive und glaube, dass die Natur (der menschliche Geist inbegriffen) noch tiefe Geheimnisse birgt, gegenüber denen die Wissenschaft manchmal überheblich und ungerechtfertigt abweisend zu sein scheint."

Wie wir alle so will auch Michael Pollen sich nicht verändern, doch er ist neugierig. William James schreibt von ungeöffneten Türen in unserem Denken und notiert in Die Vielfalt religiöser Erfahrung: "Keine Betrachtung des Universums kann abschliessend sein, die diese anderen Bewusstseinsformen ausser Acht lässt." Michael Pollen beschliesst, die Türen wieder aufzumachen.

Albert Hofmann, der Basler Chemiker, war der Überzeugung, dass das LSD ihn gefunden hatte und nicht umgekehrt. Anlässlich der Feier zu seinem hundertsten Geburtstag äusserte er sich unter anderem so: "Das Gefühl der Mitgeschöpflichkeit mit allen Lebewesen sollte stärker in unser Bewusstsein dringen, damit wir zu den Rosen, den Blumen, der Natur, der wir angehören, zurückkehren können." Nichts, das notwendiger und dringender wäre!

Verändere dein Bewusstsein ist guter klassischer amerikanischer Journalismus  eine Ansammlung ungemein vieler Details, höchst ansprechend erzählt. Was dieses Buch ganz besonders auszeichnet, sind die grundsätzlichen und wunderbar anregenden Fragen, die es aufwirft: Gibt es Bewusstsein ausserhalb der Gehirns oder ist es, wie die meisten Wissenschaftler glauben, das Produkt unserer grauen Zellen?

Bill Richards, Psychologe und Religionswissenschaftler, gewann aus seinen psychedelischen Erkundungen die Überzeugung, dass das Heilige nichts ist, was wir erzeugen, sondern etwas, das irgendwo darauf wartet, entdeckt zu werden." Und "dass das Bewusstsein eine Eigenschaft des Universums und nicht des Gehirns ist."

Die Psychedelik-Forschung erfuhr jedoch Widerstand. "Psychedelika nährten die Gegenkultur, und die Gegenkultur untergrub die Kampfbereitschaft der jungen Amerikaner." Darüber hinaus fühlte sich die Gesellschaft generell bedroht. "Die unmittelbare mystische Erfahrung hat eine solche Macht, dass sie für bestehende hierarchische Strukturen bedrohlich sein kann."

Ganz besonders interessiert hat mich das Kapitel über Sucht, das Michael Pollan mit der Schilderung des Apollo 14 Astronauten Edgar Mitchell einleitet, der von einer mystischen Erfahrung berichtet, die er auf dem Heimweg hatte. Aus dem Cockpitfenster sah er alle zwei Minuten die Erde, den Mond, die Sonne, ja das ganze Himmelspanorama und ihn überkam"ein überwältigendes Gefühl des Einsseins, der Verbundenheit." Einen solchen "Überblick-Effekt" schilderten auch etliche Psilocybin-Versuchspersonen. Was einstmals wichtig für sie war, erschien ihnen plötzlich unwichtig.

"Sucht ist unter anderem eine radikale Form von Egoismus". Wer die (tiefe) Erfahrung macht, sich mit allem verbunden zu fühlen, wird die Welt (und sich) neu sehen, im besten Fall mit Ehrfurcht, die es jetzt auch in pharmakologischer Form, als Pille gibt. "Die überwältigende Kraft und das Rätsel der Ehrfurcht sind derart, dass die Erfahrung nicht ohne Weiteres nach unseren gewohnten Denkmustern interpretiert werden kann. Indem die Ehrfurcht dieses Gedankengerüst ins Wanken bringt, hat sie die Fähigkeit, unser Denken zu verändern."

Fazit: Unbedingt lesenswert!

Michael Pollan
Verändere dein Bewusstsein
Was uns die Psychedelik-Forschung
über Sucht, Depression,
Todesfurcht und Transzendenz lehrt.
Verlag Antje Kunstmann, München 2019

Mittwoch, 3. April 2019

Das Gen

Inwiefern ist der Mensch ein selbstbestimmt handelndes Geschöpf? Wie viel ist in uns angelegt, vorbestimmt, unveränderlich? Glaubt man der Hirnforschung, so sind wir weitestgehend unbewusst, ja, automatisch unterwegs. Und auch die Psychoanalytiker meinen, dass unsere Möglichkeiten, uns zu verändern, höchst begrenzt seien.

Seit jeher hat der Mensch danach getrachtet, Einfluss auf sein Schicksal zu nehmen. Und dieses  hängt entscheidend von den Genen ab. "Wir sind letztlich nur Träger von Genen ... Wir haben Glück oder Pech mit ihnen, aber sie wissen nichts davon", meint Haruki Murakami und William Bateson behauptet: "Eine genaue Bestimmung der Vererbungsgesetze wird die Weltsicht des Menschen und seine Macht über die Natur vermutlich stärker verändern als jeder andere Fortschritt in der Naturerkenntnis, der absehbar ist."

Der Mediziner und Autor Siddharta Mukherjee, dessen Gesetze der Medizin Pflichtlektüre sein sollte, hat sich in Das Gen. Eine persönliche Geschichte mit der Geschichte der Gene auseinandergesetzt. Angeregt durch seine Familiengeschichte – auffällig viele seiner Verwandten leiden an Schizophrenie – , hat er sich des Gens angenommen. "Das Atom ist die Grundeinheit der Materie, das Byte (oder 'Bit') die der digitalisierten Information und das Gen die der Vererbung und der biologischen Information."

Das Buch ist historisch angelegt, beginnt mit Mendel (der die Zulassung zum Lehramt zweimal nicht schaffte und sein Leben lang Hilfslehrer blieb) und Darwin  beide sehr unkonventionelle Charaktere   und ist glänzend erzählt. Dass ihre Erkenntnisse freudig entgegen genommen wurden, kann man nicht behaupten  die Kurzsichtigkeit des damaligen Establishments ist dieselbe wie heute (und so recht eigentlich das Wesen des Establishments).

Wir wissen nicht, wie Gene entstanden sind. Wir wissen auch nicht, woher sie kommen. "Ebenso wenig können wir wissen, warum gerade diese Methode des Informationstransfers uund der Datenspeicherung allen in der Biologie möglichen anderen Verfahren vorgezogen wurde. Wir können jedoch versuchen, den Ursprung der Gene im Labor zu rekonstruieren." Und genau dies wurde auch getan. Und noch vieles mehr Das Gen gibt darüber umfassend Auskunft.

"Die gesamten Erbinformationen eines Organismus bezeichnet man als Genom (das man sich vorstellen kann wie eine Enzyklopädie sämtlicher Gene mit Fussnoten, Anmerkungen, Anweisungen und Verweisen). Das menschliche Genom umfasst 21 000 bis 23 000 Gene mit den Grundanweisungen für die Entwicklung, Reparatur und Erhaltung des menschlichen Körpers."

Der Autor weist unter anderem darauf hin, das Gene zu manipulieren und ein Genom zu verändern zwei ganz verschiedene Sachen sind – bei Ersterem verändern wir eine Zelle, bei Letzterem einen Organismus, also uns. Es verhält sich gegenwärtig wie bei der Atombombe im Jahre 1939: Alle dafür erforderlichen Schritten waren bereits erfolgt. Nur die Abfolge fehlte.

So sehr Eingriffe in das Erbgut wünschenswert sein können, so problematisch sind sie auch. Nicht zuletzt, weil wir aus der Geschichte wissen, dass es in der menschlichen Natur liegt, von grundsätzlich Positivem auch negativen Gebrauch zu machen, weshalb denn Siddharta Mukherjee ein Manifest für eine postgenomische Welt fordert. Grundlage dafür müssten die wissenschaftlichen, philosophischen und ethischen Erkenntnisse sein, über die wir heutzutage verfügen.

Eine ganz zentrale ist: "Die Geschichte wiederholt sich, teils, weil das Genom sich wiederholt. Und das Genom wiederholt sich, teils, weil die Geschichte es tut." Es wird uns kaum gelingen, aus dieser inneren Zirkularität heraus zu kommen, doch sie zu erkennen "und ihren Übertreibungen mit Skepsis zu begegnen, könnte die Schwachen vor dem Willen der Starken und die 'Mutanten' vor der Auslöschung durch die 'Normalen' schützen."

Das Gen ist notwendige Aufklärung vom Feinsten.

Siddharta Mukherjee
Das Gen
Eine sehr persönliche Geschichte
Fischer Taschenbuch, März 2019