Mittwoch, 27. November 2013

Jürgen Leinemann, 1937-2013

"Leinemann hatte seinen Dämon, das war der Alkohol. Er hat unter dem Pseudonym Horst Zocker im SPIEGEL darüber geschrieben, unvergessliche Texte. Er hat eine politische Theorie darauf aufgebaut und in einem Buch veröffentlicht. "Höhenrausch" - Politiker sind so, wie sie sind, weil sie süchtig nach Politik sind. Ich weiß nicht genau, ob das stimmt, aber es ist die einzige umfassende Theorie über den Menschen in der Politik, und schon das ist ein Verdienst. Wenn ich manche Politiker so sehe, denke ich, dass Leinemann vielleicht doch recht hat." (Dirk Kurbjuweit, Der Spiegel, 11.11.2013).

Von Horst Zocker gibt es auch ein Buch: "betrifft: Anonyme Alkoholiker - Selbsthilfe gegen die Sucht", erschienen im C.H. Beck Verlag in München. Jürgen Leinemann hat es mir, 1989 war das, geschickt. Ich war damals Herausgeber einer Journalismus-Buchreihe und wollte Leinemann als Autor gewinnen. Wenn ich nach der Lektüre immer noch ein Buch mit ihm machen wolle, dann gerne, sagte er mir am Telefon. Ich wollte, und noch viel mehr als zuvor: es ist für mich ein lebensentscheidendes Buch gewesen. "Unser" Buch erschien dann 1990 unter dem Titel: "Nur Nicht Weiter So!" im Schweizer Verlagshaus in Zürich. Das sollte dann auch mein Motto werden.

Hans Durrer, November 2013

Mittwoch, 20. November 2013

Plötzlich ein Sorgenkind

Der erste Eindruck: Diese Anonyma kann schreiben, wirklich gut schreiben. Und sie weiss zu erzählen, versteht, wie man eine Geschichte zu strukturieren hat, um den Leser/die Leserin nicht zu verlieren.

Anonyma und ihr Mann sind Akademiker, Doppelverdiener und führen einen Turbo-Lebensstil. Eines Tages kommt ihre Tochter Lenja von der Grundschule nach Hause, schaut die sie begrüssende Mutter kaum an und flüstert nach einiger Zeit: "Mein Leben ist scheisse. Ich will nicht mehr leben." Der Mutter wird übel, "eine körperliche Ahnung von Unglück".

Bis zum ihrem fünften Lebensjahr war Lenja "ein unbekümmertes und mutiges Mädchen, eine kreative Bummlerin mit einem sonnigen Gemüt" gewesen, dann kam sie in die Schule, weil sie sich in der Kita langweilte und innerhalb eines Jahres verwandelte sich die Kleine in ein unglückliches Schulkind. Was war geschehen?

Vater und Mutter sind mit ihren eigenen Leben beschäftigt: "Unsere Jobs liessen es nicht zu, dass einer von uns jeden Mittag am Schultor stehen sollte. Dabei blieb es. Auch als sich die Mahnungen in den Schulheften und Wutanfälle häuften. Wir glaubten, dass es allen Eltern so erging ...". Das heisst jedoch nicht, dass ihnen das Schicksal ihrer Tochter egal ist. Ganz im Gegenteil. Sie begeben sich mit Lenja auf eine ernüchternde Diagnose-Odyssee: "... damals war ich noch der Meinung, dass eine Expertin vielleicht unerwartete Zusammenhänge erkennen könnte, die ich als Mutter übersehe. (Eine dämlich-naive Einstellung, die ich im Lauf unseres Testmarathons irgendwann hinter mir lassen konnte.)".

Die Mutter sucht nach Ursachen, liest einschlägige Bücher und kommt zum Schluss: "Es hilft weder meiner Tochter noch mir, wenn ich jetzt unterschwellig nach der Quelle fahnde. Im Gegenteil. Im Moment leidet sie an den Symptomen und nicht an den Auslösern." Überzeugend zeigt Anonyma auf, wie sich das Schicksal von Lenja auf die ganze Familie auswirkt, sie in Beschlag nimmt, ihren Alltag bestimmt.

Lenja wird Ritalin empfohlen, doch die Gründe, die dagegen sprechen, überzeugen die Mutter weit mehr. Hilfe findet sie stattdessen bei den Gedanken des Hirnforschers Gerald Hüther, bei dem es nicht einfach um die Kinder geht, die nicht funktionieren. "Es geht genauso um Eltern und Lehrer, die nur noch funktionieren."

Immer wieder schaut Anonyma zurück, fragt sich, ob sie und ihr Mann etwas Wichtiges übersehen haben. Und natürlich gab es da Situationen, die sie stutzig gemacht haben, doch die sie dann verdrängt hat. "Vielleicht, weil sich schon damals eine Vorahnung von Kummer in mein Gefühl mischte, ohne dass ich es weiter hätte benennen können." Andrerseits: "Was war zuerst da? Lenjas eigenwilliges Wesen oder die Aufmerksamkeitsstörung?"

Was ganz besonders für dieses Buch spricht, ist die Einbettung des Familienschicksals (und der Auseinandersetzung damit) in den gesellschaftlichen Kontext. "Der erste Blick am Morgen und der letzte vor dem Einschlafen gelten nicht mir, die im selben Bett neben ihm liegt, oder den Kindern, sondern dem Display des Organizers." Dazu kommen die Konfrontation mit dem Berufsalltag, ständig wechselnden pädagogischen Heilsversprechen, überforderten Lehrkräften, Medizinern und und und ....

Eine der für mich bewegendsten Passagen in diesem differenzierten, selbstkritischen und einfühlsamen Buch handelt von dem misslungenen Versuch der Mutter, ihrer Tochter die Angst vor der Schule "mit objektiven Argumenten auszureden. Denn damit sagte ich ihr im Grunde nichts anderes, als dass ihr eigenes Gefühl sie trügt. Dass sie es nicht haben darf. Stattdessen hätte ich ihre Angst ertragen, mit ihr fühlen müssen. Ich hätte diese Furcht nicht wegschieben dürfen. Wie sollte sie Selbstvertrauen entwickeln, wenn sie den eigenen Empfindungen misstraute? (Nur weil ich es genauso mache? Und auf diese Weise die grössten Fehler meines Lebens begangen habe ...)"

Anonyma
Plötzlich ein Sorgenkind
Aus dem Leben einer aufmerksamkeitsgestörten Familie
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013

Mittwoch, 13. November 2013

Olivier Ameisen, 1953-2013

Zur Erinnerung an 
Olivier Ameisen 
25. Juni 1953 - 18. Juli 2013


"Das Ende meiner Sucht" von Olivier Ameisen ist ein unbedingt lesenswertes Buch, das davon berichtet, wie der Autor, ein erfolgreicher Arzt und Wissenschaftler, seinen Weg aus der Alkoholabhängigkeit gefunden hat. Dabei hat Ameisen eine aussergewöhnliche Entdeckung gemacht, die bisher von den meisten im Bereich der Suchtherapie Tätigen nicht zur Kenntnis genommen wird. Dies erstaunt nicht, denn radikal neuen Erkenntnissen sind immer schon Steine in den Weg gelegt worden. Doch der Reihe nach:

Olivier Ameisen ist Alkoholiker und hat so ziemlich alles versucht, was an gängigen Angeboten zur Suchtbekämpfung vorhanden ist - Psychopharmaka, Rational Recovery, Meetings der Anonymen Alkoholiker (AA), Aufenthalte in Entzugskliniken - zudem betrieb er Sport und Yoga, doch nichts davon hielt ihn für längere Zeit vom Trinken ab. Dies lag nicht daran, dass er zuwenig motiviert war. So schreibt er:

"Das Konzept von Rational Recovery (RR) sprach mich sehr an. Die zentralen Voraussetzungen sind, dass Alkoholismus keine biologische Erkrankung ist, sondern ein Verhaltensproblem, das der Betroffenen mit seinen eigenen mentalen Ressourcen überwinden kann. Nach meiner Erfahrung erwiesen sich jedoch die "innere Macht", die bei RR eine so grosse Rolle spielt, und die "grössere Macht" (das hat der Autor falsch verstanden oder es ist ein Übersetzungsfehler, die AA-Literatur spricht von einer "höheren", nicht von einer "grösseren" Macht) der AA als ohnmächtig angesichts der überwältigenden Macht meines von Angst getriebenen Verlangens nach Alkohol. Entweder fehlte es mir entschieden an Willenskraft und/oder Spiritualität, oder meine Form des Alkoholismus hatte eine fundamentale biologische Komponente, die man mit Medikamenten würde angehen müssen."

Olivier Ameisen hat, wie viele Alkoholiker, sein Leben lang an Unzulänglichkeitsgefühlen gelitten und war sich "vorgekommen wie ein Hochstapler, der demnächst enttarnt werden würde. Schon lange bevor ich mit dem Trinken angefangen hatte, hatte ich Therapien gemacht. Ehrlich gesagt, hatten sie bei meinen Ängsten nicht viel geholfen." Sprach er mit Medizinern oder mit AAs über seine Ängste, meinten sie meist, diese würden verschwinden, wenn er mit dem Saufen (die deutsche Übersetzung spricht dauernd vom "Trinken", doch was Ameisen tat, war ganz klar "saufen") aufhöre. Doch dem war nicht so. "Ich litt an Ängsten, lange bevor ich Alkoholiker wurde. Aber alle, die mich wegen meiner Alkoholsucht behandelten, ignorierten diesen Punkt, wie oft ich ihn auch wiederholte."

Das Saufen wurde, trotz vieler dramatischer Versuche gegenzusteuern, schlimmer; die Abstürze wurden dramatischer - er brach sich Rippen und Handgelenk (für einen begabten Pianisten wie Ameisen eine ganz besondere Katastrophe) - , verfügte aber immer über genügend privilegierte Verbindungen, um jeweils wieder glücklich aus dem Schlamassel herauszukommen. Dabei gehört es zu den Stärken dieses Buches, dass es ungeschminkt benennt, was es zu benennen gilt: "Die Wahrheit ist, dass kein Abhängiger/keine Abhängige so viel Zeit zum Entzug bekommt, wie er oder sie braucht, sondern nur so viel, wie er oder sie sich leisten kann," Und: "Da es keine bewährte Therapie gibt, liegt der Hauptnutzen einer Entzugsklinik darin, dass sie dem Süchtigen die dringend nötige Pause vom Alkohol oder einer anderen Substanz oder Verhaltensweise bringt." Sicher, das auch, doch den wirklichen Hauptnutzen hat der Klinikbetreiber, für den der Entzug oft einfach nur ein Geschäft ist. Wer nachliest, wie Ameisen aus der Klinik Clear Spring ("das Ritz unter den Entzugskliniken") verwiesen wird, weil seine Versicherung die 500 US-Dollar pro Tag nicht mehr zahlte, hat diesbezüglich keine Illusionen mehr.

Es ist ein Wunder, dass Ameisen aus seiner Abwärtsspirale schliesslich herausfindet. Dass er es schafft, hat mit ganz verschiedenen Faktoren zu tun, doch entscheidend damit, dass er durch einen Artikel in der New York Times auf ein Medikament namens Baclofen stiess, welches das Craving unterdrückt. "Verlangen oder Craving ist ein schwer fassbarer Begriff, weil er körperliche, emotionale und mentale Symptome umfasst, die in Wellen über Stunden und Tage hinweg auftreten. Für mich war es eine brutale Tatsache des Lebens. Im schlimmsten Fall, das haben Forschungen gezeigt, ist das Verlangen nach einem Suchtmittel wie der Hunger eines verhungernden Menschen: Die gleichen Hormone werden freigesetzt und die gleichen Gehirnregionen aktiviert. Das Nationale Institut für Alkoholmissbrauch und Alkoholismus (National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism, NIAAA) hat festgestellt, dass das Verlangen nach Alkohol sogar schlimmer sein kann als Hunger oder Durst und dass, wenn der Alkoholismus den Betroffenen im Griff hat, das Gehirn Alkohol als lebensnotwendig ansieht."

Baclofen, ein Mittel, das gegen Muskelkrämpfe verschrieben wurde, soll das Craving unterdrücken können? Ameisen hat es im Selbstversuch getestet, und ja, es hat gewirkt. Ein paar wenige Ärzte haben es bisher an Patienten ausprobiert, und ja, es hat gewirkt. Nein, nicht bei allen. Denn auch wenn man, wie Ameisen das tut, Abhängigkeit als eine biologische Krankheit versteht, muss ein Patient zuallererst immer noch ausreichend mit dem Saufen aufhören wollen. Zudem: 12-Schritte-Programme und andere Verhaltenstherapien wird es nach wie vor brauchen, denn diese sind vor allem nach 6 bis 18 Monaten Abstinenz am wirksamsten. (Wie Mark Twain bekanntlich sagte: Mit Rauchen aufhören, sei überhaupt kein Problem, er habe es schon Hunderte von Malen gemacht.).

Fazit: eine in vielerlei Hinsicht empfehlenswerte Lektüre, nicht zuletzt, wegen Sätzen wie diesen: "Mir war seit Langem klar, dass Alkoholiker und andere Abhängige nicht mit dem üblichen Mass an Mitgefühl und Fürsorge rechnen können, wenn sie medizinische Hilfe brauchen." Und: "Die Wahrheit lautet, dass meine Mutter und meine Geschwister nichts hätten tun können, um mich von meinem schweren Alkoholismus zu heilen, Was ich von ihnen brauchte und was die Angehörigen aller Suchtkranken nur so schwer in einer Weise geben können, dass der Suchtkranke es annehmen kann, waren Liebe und Mitgefühl."

Dr. Olivier Ameisen
Das Ende meiner Sucht
Verlag Antje Kunstmann, München 2009

Mittwoch, 6. November 2013

Borderline Ratgeber

Was am Umschlagbild ins Auge fällt, ist die Titelanhäufung des Autors, sie soll wohl für Kompetenz stehen, mich selber macht sie eher skeptisch: ich sehe darin nichts anderes als einen Beleg dafür, dass der Autor institutionell legitimierte Anerkennung geniesst. Das Buch ist übrigens unter Mitarbeit von Sabrina Weber-Papen entstanden und wer mit den Gepflogenheiten akademischer Buchproduktion nicht ganz unvertraut ist (ich habe selber während fünf Jahren einen akademischen Buchverlag geleitet), wird aus dem Hinweis schliessen, dass Frau Weber einen nicht unbeträchtlichen Teil dieses Buches verfasst hat. Zugegeben, ich kann mich natürlich irren, doch wie auch immer: Borderline ist ein gutes und nützliches Buch. Das liegt wesentlich daran, dass es klar und gleichzeitig differenziert daher kommt, eine Kombination, die eher selten ist.

 Bei Borderline handelt es sich um eine Persönlichkeitsstörung, die sich unter anderem durch tief verwurzelte und sehr starre Verhaltens- und Denkmuster auszeichnet. Die Ursache der Störung sei zu einem Drittel genetisch, zu zwei Dritteln Umwelt, lese ich und frage mich, wie man zu einer solchen Behauptung kommt, wenn doch, und auch das steht im Buch, die genetischen Risikofaktoren "bisher noch weitgehend ungeklärt sind."

Eine höchst nützliche Frage, um eine Borderline-Störung zu diagnostizieren, findet sich im Kästchen auf Seite 60: "Passiert es Ihnen immer wieder, dass Sie wie aus heiterem Himmel oder wegen Nichtigkeiten in eine starke Anspannung geraten, die Sie als äusserst unangenehm empfinden und die Sie keinem bestimmten Gefühl wie Wut oder Furcht zuordnen können?" Natürlich ist es mit dieser Frage alleine nicht getan, natürlich muss da unter anderem auch eine eingehende Untersuchung stattfinden, um körperliche Erkrankungen auszuschliessen, doch dass 90 Prozent der Borderline-Patienten einen solchen Zustand sehr genau kennen, ist ein recht deutlicher Hinweis.

"Borderline kommt selten allein", unter diesem Titel weist Frank Schneider auf psychische Erkrankungen hin, die zusätzlich zur Borderline-Störung auftreten können. Zu den häufigsten gehört die Schlafstörung. Verbreitet sind auch Depressionen, Angststörungen, die posttraumatische Belastungsstörung, Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit, Essstörungen und ADHS; all diesen räumt der Autor beträchtlichen Platz ein. Mir scheinen die Abgrenzungen recht willkürlich und die Überlappungen offensichtlich, so ist etwa eine Suchtkrankheit ohne Angststörung nicht wirklich vorstellbar.

Die Wirksamkeit von Psychotherapie, schreibt Schneider, sei "für die meisten psychischen Erkrankungen, und so auch für die Borderline-Erkrankung, nachgewiesen." Wirklich? Bei Suchtkrankheiten jedenfalls nicht.

Psychischen Störungen ist eine geringe Frustrations- beziehungsweise Stresstoleranz gemeinsam. In der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) geht man diese unter anderem mit sogenannten Skills an. Besonders eingeleuchtet hat mir dabei diese Bemerkung: "Gemeinsam ist den Skills zur Krisenbewältigung in Hochstressphasen, dass sie intensiv sind und häufig sinnesbezogen (z.B. auf einer Chilischote kauen oder Ammoniak riechen)." Neben der DBT kommt auch die Schemafokussierte Therapie (SFT), die Übertragungungsfokussierte Therapie (TFP) sowie die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) häufig zur Anwendung. "Voraussetzung jeder Therapie und oberste Maxime während der Behandlung ist stets das 'Überleben' des Patienten in der Therapie und in den möglichen Krisen."

Eingegangen wird auch auf die Behandlung mit Medikamenten, die psychosoziale Behandlung sowie auf die Angehörigen und Freunde von Borderline-Patienten. Und das durchgängig auf verständliche und informative Art und Weise. "Borderline' ist ein Buch, das seinen Untertitel "Der Ratgeber für Patienten und Angehörige" auch wirklich verdient.

PS: Ich will diesen Ratgeber auch deswegen empfehlen, weil sich darin einer meiner Lieblingssätze findet: "You can't stop the waves, but you can learn to surf". Zugeschrieben wird er Jon Kabat-Zinn.

Prof.Dr.Dr.med. Frank Schneider
Borderline
Der Ratgeber für Patienten und Angehörige
Herbig Gesundheitsratgeber
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München 2013