Mittwoch, 20. November 2013

Plötzlich ein Sorgenkind

Der erste Eindruck: Diese Anonyma kann schreiben, wirklich gut schreiben. Und sie weiss zu erzählen, versteht, wie man eine Geschichte zu strukturieren hat, um den Leser/die Leserin nicht zu verlieren.

Anonyma und ihr Mann sind Akademiker, Doppelverdiener und führen einen Turbo-Lebensstil. Eines Tages kommt ihre Tochter Lenja von der Grundschule nach Hause, schaut die sie begrüssende Mutter kaum an und flüstert nach einiger Zeit: "Mein Leben ist scheisse. Ich will nicht mehr leben." Der Mutter wird übel, "eine körperliche Ahnung von Unglück".

Bis zum ihrem fünften Lebensjahr war Lenja "ein unbekümmertes und mutiges Mädchen, eine kreative Bummlerin mit einem sonnigen Gemüt" gewesen, dann kam sie in die Schule, weil sie sich in der Kita langweilte und innerhalb eines Jahres verwandelte sich die Kleine in ein unglückliches Schulkind. Was war geschehen?

Vater und Mutter sind mit ihren eigenen Leben beschäftigt: "Unsere Jobs liessen es nicht zu, dass einer von uns jeden Mittag am Schultor stehen sollte. Dabei blieb es. Auch als sich die Mahnungen in den Schulheften und Wutanfälle häuften. Wir glaubten, dass es allen Eltern so erging ...". Das heisst jedoch nicht, dass ihnen das Schicksal ihrer Tochter egal ist. Ganz im Gegenteil. Sie begeben sich mit Lenja auf eine ernüchternde Diagnose-Odyssee: "... damals war ich noch der Meinung, dass eine Expertin vielleicht unerwartete Zusammenhänge erkennen könnte, die ich als Mutter übersehe. (Eine dämlich-naive Einstellung, die ich im Lauf unseres Testmarathons irgendwann hinter mir lassen konnte.)".

Die Mutter sucht nach Ursachen, liest einschlägige Bücher und kommt zum Schluss: "Es hilft weder meiner Tochter noch mir, wenn ich jetzt unterschwellig nach der Quelle fahnde. Im Gegenteil. Im Moment leidet sie an den Symptomen und nicht an den Auslösern." Überzeugend zeigt Anonyma auf, wie sich das Schicksal von Lenja auf die ganze Familie auswirkt, sie in Beschlag nimmt, ihren Alltag bestimmt.

Lenja wird Ritalin empfohlen, doch die Gründe, die dagegen sprechen, überzeugen die Mutter weit mehr. Hilfe findet sie stattdessen bei den Gedanken des Hirnforschers Gerald Hüther, bei dem es nicht einfach um die Kinder geht, die nicht funktionieren. "Es geht genauso um Eltern und Lehrer, die nur noch funktionieren."

Immer wieder schaut Anonyma zurück, fragt sich, ob sie und ihr Mann etwas Wichtiges übersehen haben. Und natürlich gab es da Situationen, die sie stutzig gemacht haben, doch die sie dann verdrängt hat. "Vielleicht, weil sich schon damals eine Vorahnung von Kummer in mein Gefühl mischte, ohne dass ich es weiter hätte benennen können." Andrerseits: "Was war zuerst da? Lenjas eigenwilliges Wesen oder die Aufmerksamkeitsstörung?"

Was ganz besonders für dieses Buch spricht, ist die Einbettung des Familienschicksals (und der Auseinandersetzung damit) in den gesellschaftlichen Kontext. "Der erste Blick am Morgen und der letzte vor dem Einschlafen gelten nicht mir, die im selben Bett neben ihm liegt, oder den Kindern, sondern dem Display des Organizers." Dazu kommen die Konfrontation mit dem Berufsalltag, ständig wechselnden pädagogischen Heilsversprechen, überforderten Lehrkräften, Medizinern und und und ....

Eine der für mich bewegendsten Passagen in diesem differenzierten, selbstkritischen und einfühlsamen Buch handelt von dem misslungenen Versuch der Mutter, ihrer Tochter die Angst vor der Schule "mit objektiven Argumenten auszureden. Denn damit sagte ich ihr im Grunde nichts anderes, als dass ihr eigenes Gefühl sie trügt. Dass sie es nicht haben darf. Stattdessen hätte ich ihre Angst ertragen, mit ihr fühlen müssen. Ich hätte diese Furcht nicht wegschieben dürfen. Wie sollte sie Selbstvertrauen entwickeln, wenn sie den eigenen Empfindungen misstraute? (Nur weil ich es genauso mache? Und auf diese Weise die grössten Fehler meines Lebens begangen habe ...)"

Anonyma
Plötzlich ein Sorgenkind
Aus dem Leben einer aufmerksamkeitsgestörten Familie
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013

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