Sonntag, 28. Oktober 2012

Vom Umgang mit Alkoholikern

Im Vorwort zu Dirk R. Schwoons Umgang mit alkoholabhängigen Patienten findet sich dieser zentrale  Satz: "Es ist kein Verdienst, nicht alkoholkrank zu sein, sondern das Resultat günstiger Fügungen, Umstände und Entscheidungen."

Der Titel Umgang mit alkoholabhängigen Patienten ist insofern irreführend, als der Autor zwar durchaus Anregungen gibt, wie man sich auf die Arbeit mit Alkoholkranken vorbereiten kann/soll, doch der grösste Teil des Buches bietet ganz einfach vielfältige und nützliche Informationen zum Thema Alkoholsucht.

Kritisch anzumerken ist dies: 
Unter dem Titel "Veränderungsprozesse" schreibt er: "Das Tiefpunktmodell der Veränderung ist überholt. Es hat keine wissenschaftliche Grundlage und führt zu inhumanen Konsequenzen. Je früher das Alkoholproblem erkannt und behandelt wird, desto mehr Ressourcen, auf die man zurückgreifen kann, bleiben erhalten." Sicher, je früher man ein Alkoholproblem erkennt, desto besser. Und ja, das Tiefpunktmodell ist schon nicht wahnsinnig human, doch es funktioniert, nicht bei allen, doch bei einigen. Übrigens: die Anonymen Alkoholiker praktizieren dieses Modell und über den Erfolg von solchen Selbsthilfegruppen schreibt Schwoon an anderer Stelle: "Es lässt sich mit Fug und Recht annehmen, dass durch Selbsthilfegruppen insgesamt mehr Menschen ihre Alkoholprobleme überwunden haben als durch alle professionellen Behandlungsangebote zusammen."

. Was mich an Schwoons Argumentation ganz besonders stört, ist sein Glaube an die Wissenschaft, denn empirisch nachweisen lässt sich im Bereich von menschlichen Verhaltensänderungen so recht eigentlich gar nichts. Kein Mensch kann zum Beispiel sagen, weswegen jemand trocken wird. Und empirische Modelle können darüber schon gar keine Auskunft geben, denn wie will man denn Motivation eigentlich messen? Nehmen wir einen Alkoholiker, der nach einem Klinikaufenthalt nicht mehr säuft: Liegt es an den in der Klinik praktizierten therapeutischen Massnahmen? Liegt es daran, dass es in der Klinik mit anderen Alkis zusammen war und sich mit ihnen ausgetauscht hat? Liegt es daran, dass er vor dem Klinikaufenthalt bereits so stark motiviert war, mit dem Saufen aufzuhören, dass er es auch ohne Therapie geschafft hätte? etc. etc. All das lässt sich nicht messen und auch nicht wirklich wissen.

Was der Autor zu den Hintergründen von Rückfällen anmerkt, ist so wenig aussagekräftig, dass er es eigentlich hätte lassen können. "Rückfälle sind ein dynamisches Geschehen. Sie entwickeln sich prozesshaft über viele Vorläufer. Sie werden aktuell durch intrapersonelle und durch interpersonelle Faktoren ausgelöst."

Nicht schlecht gestaunt habe ich über die Aussage, dass "nur etwa 50% der Alkoholkranken Craving aus eigenem Erleben kennen, und auch diese beschreiben es nicht immer als entscheidenden Auslöser für ihre Rückfälle." Gefragt habe ich mich, ob Alkoholkranke wirklich wissen können, was der entscheidende Auslöser für ihren Rückfall gewesen ist.

Besonders angesprochen haben mich die gleichzeitig wohlwollenden und kritischen Ausführungen zum Stufenmodell von Prochaska und DiClemente (dieses Modell erlaubt es, nicht jeden Rückfall als ein grundsätzliches Scheitern aufzufassen; fraglich ist jedoch, ob es wirklich abgrenzbare Stadien gibt) sowie zum "Motivational Interviewing" von Miller und Rollnick, das davon ausgeht, "dass abhängigkeitskranke Menschen sehr wohl ihre eigenen Lösungsansätze entwickeln können, wenn sie ihre persönlichen Resourcen mobilisieren. Denn weder ihre lebensgeschichtlichen noch ihre krankheitsbedingten Erfahrungen müssen sie daran hindern, wieder selbst die Verantwortung für sich und ihr Handeln zu übernehmen." Dieses Buch liefert dazu hilfreiche Anregungen.

Dirk R. Schwoon
Basiswissen: Umgang mit alkoholabhängigen Patienten
Psychiatrie-Verlag, Bonn 2008

Sonntag, 21. Oktober 2012

Borderline verstehen

Das vorliegende Buch ist in zwei Teile gegliedert. Teil eins behandelt Transaktionsanalytisches Grundwissen in Bezug auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung, Teil zwei befasst sich mit Borderline verstehen - Schluss mit der Verantwortungsübernahme durch Partner und Bezugspersonen, womit so recht eigentlich fast alles darüber gesagt ist, was sich Angehörige von Bordis merken sollten.

Das Vorwort zu Teil zwei (die beiden Teile können unabhängig voneinander gelesen werden, genau besehen handelt es nämlich um zwei Bücher) lässt die Leser wissen, dass die Autorin "selbst in einem von Borderline geprägten System, beeinflusst von perverser Kommunikation und ebensolchen Interaktionen aufgewachsen" ist. Sie weiss also aus eigener Erfahrung und nicht nur aus Büchern, wovon sie schreibt. Das bewahrt sie jedoch nicht davor, gelegentlich in reine Spekulation abzudriften. So sieht sie etwa einen "fast logischen Zusammenhang" zwischen dem "unnatürlichen Umgang mit unseren Säuglingen und der Ausprägung einer Borderline-Störung". Ja, sie geht so weit zu behaupten: "Nur wenn das Kind auch tatsächlich seine symbiotische Verbundenheit mit der Mutter ausleben kann, hat es eine Chance auf eine ungestörte Entwicklung. Nur im permanenten Körperkontakt, so wie er in nicht zivilisierten Völkern, wie bei den Yequana-Indianern Venezuelas oder bei den Papua Neuseelands zwischen Mutter und Kind selbstverständlich ist, kann sich das Gehirn des Kindes störungsfrei entwickeln." Nachprüfbar sind diese Behauptungen nicht, denn das Buch liefert keine Quellenangaben, zudem leben die Papua nicht in Neuseeland, sondern in Papua Neuguinea.

Manuela Rösel sieht die Ursachen der Borderline-Störung ausschliesslich auf der sozialen Ebene und ortet die Ursachen in der frühkindlichen Entwicklung. Das ist nicht zuletzt deswegen problematisch, weil man dabei auf Erinnerungen angewiesen ist und die können bekanntlich täuschen. Und überhaupt: Wer kann schon immer mit Sicherheit sagen, was Ursache und was Wirkung ist? Gut möglich ist überdies, dass die Wichtigkeit, die der frühkindlichen Entwicklung in den letzten Jahren zugemessen worden ist, vielleicht überschätzt und künftig ganz anders bewertet werden wird.

Frau Rösel führt zwar neurobiologische Forschungen an, etwa der verkleinerte Hippocampus bei Menschen, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden oder das Zusammenspiel der Neurotransmitter (Dopamin, das Belohnungs- und Glückshormon, wird bei Bordis nur unzureichend ausgeschüttet), kommt dann aber zu diesem erstaunlichen Schluss: "Die Borderline-Forschung sucht akribisch weiter nach genetischen Voraussetzungen. Anthropologische Forschungsarbeiten deuten aber zweifelsfrei darauf hin, dass diese, sollten sie auffindbar sein, wohl ausschliesslich in den zivilisierten Ländern eine Rolle spielen. Persönlichkeitsstörungen, wie Borderline, existieren in nicht zivilisierten Gesellschaftsformen, in denen Kinder die symbiotische Verschmelzung mit der Mutter natürlich ausleben, nicht." Eine abenteurliche Logik: Was auch immer diese Forschungen ergeben werden, die Antwort kennen wir bereits. Zudem: Auch hier finden sich keine Quellenbelege.

Der transaktionsanalytische Ansatz, den Frau Rösel für Borderline-Störungen propagiert, geht auf Eric Berne zurück. Dieser beschrieb die Spiele, die die Erwachsenen spielen, und an denen sich die Autorin orientiert, "dabei aber eine eigene Identifikationsstruktur und zum Teil auch andere Spielbezeichnungen verwendet". Das ist auch deswegen ein guter Ansatz, weil Bordis ganz ausgeprägt zum Spielen neigen, finden sie doch darin den so dringend benötigten Halt. Voraussetzung um aus diesen oft destruktiven Spielen auszusteigen, ist die Lebensanschauung: Ich bin o.k. - Du bist o.k. Zudem gilt: "Solange der Betroffene aber nicht bereit ist, den eigenen Leidensdruck zu akzeptieren und sich dem Risiko auszusetzen, Verantwortung dafür zu übernehmen, ist jede Unterstützung vergeblich."

Nützlich sind auch die praktischen Hinweise, wie sich Angehörige bei typischen Borderline-Verhaltensweisen (ständige Verfügbarkeit, abrupte Kontaktabbrüche, Realitätsverzerrungen, niedere Frustrationstoleranz etc.) verhalten sollen.

Manuela Rösel glaubt nicht, dass Borderline heilbar ist. Doch: "Wenn Betroffene die unglaubliche Kraft und Energie, die sie zur Kompensation ihrer Störung nutzen, für deren Überwindung einsetzen würden, könnten sie sich durchaus eine gute Lebensqualität erarbeiten." Genau so ist es!

Manuela Rösel
Borderline verstehen
Starks-Sture Verlag, München 2012

Sonntag, 14. Oktober 2012

Schluss mit dem Eiertanz

Was Borderliner und ihre Angehörigen lernen müssen, so Larry J. Siever im Vorwort, sei, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. "Für beide Parteien gilt: Einzig die Übernahme von Verantwortung für das eigene Verhalten als Erwachsener eröffnet die Chance zu authentischer Veränderung, unabhängig von der Lebensgeschichte." Das klingt einfacher als es ist (man lese M. Scott Pecks The Road Less Travelled), doch es ist notwendig.

"Wie verhält man sich als Angehöriger eines Borderline-Betroffenen richtig?", fragt der Klappentext und antwortet wie folgt: "Der Angehörige ist nicht der Therapeut des Borderliners. Dies ist nicht die Aufgabe des Angehörigen. Man präge sich folgende Grundsätze ein:
- Ich bin nicht die Ursache der Störung
- Ich kann die Störung nicht kontrollieren
- Ich kann die Störung nicht heilen
- Ich lasse den Borderliner in Ruhe
- Ich lebe mein eigenes Leben"

Anders gesagt: haltet Euch raus, lasst die Spezialisten machen. Nun ja, das würde voraussetzen, dass die Spezialisten wissen, was zu tun ist, und da habe ich so meine Zweifel. Und die beiden Autoren sehen das offenbar auch so, sonst könnten sie kaum Sätze schreiben wie diesen: "Wurde der Borderliner bereits von mehreren psychologischen Profis betreut, ist es durchaus möglich, dass jeder eine abweichende Diagnose gestellt hat."

Es gelte, so lerne ich, wenn es zu einer Aussprache mit einem Borderliner komme, immer diese Worte von John M. Grohol  im Hinterkopf zu behalten: "Man kann niemanden zwingen, sein Verhalten zu ändern. Schliesslich handelt es sich für die Person, die an der Störung leidet, nicht nur um 'Verhaltensweisen' – es sind Bewältigungsstrategien, auf die sie sich zeitlebens gestützt hat."

Man kann es nicht genug betonen – und ist froh, dass dieses Buch es auch tut: Wer unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet, ist nicht mit ihr identisch. Wichtig ist auch dies: Borderliner denken und fühlen nicht wie andere. "Um das Verhalten von Borderlinern verstehen zu können, muss man aus der eigenen komfortablen Welt heraustreten und die Reise in die Welt der Borderliner antreten. Dies gilt umso mehr, als ja auch von den Borderlinern erwartet wird, sich in der Welt des Angehörigen zu bewegen."

Boderliner leiden an der Welt. "Beherrscht von der Angst vor dem Verlassenwerden, können sie überkritisch sein und so schnell in Wut geraten, dass andere schliesslich den Plan fassen, sie zu verlassen. Da der Borderliner nicht imstande ist, sich den Ursachen seines Schmerzes zu stellen, weil sein Selbstbild darunter leiden würde, gibt er anderen die Schuld und schlüpft selbst in die Rolle des Opfers." Ist der Borderliner wirklich nicht imstande, sich den Ursachen seines Schmerzes zu stellen? Einige sind es zweifellos und dürfen deswegen auch berechtigte Hoffnung auf Besserung haben.

Verdrängung, wird eine Borderlinerin zitiert, sei eine Bewältigungsstrategie, die helfe, Schmerz und Angst unter Kontrolle zu halten. Das gilt nicht nur für Borderliner, will man da sofort hinzufügen, nur ist eben das Ausmass an Schmerz und Angst, unter dem ein Borderliner leidet, wesentlich grösser als dasjenige eines 'Normalos' "Bitte, bitte, bitte nehmt den Borderlinern, die noch nicht so weit sind, sich dem schwarzen Loch in ihrem Innern zu stellen, nicht die Verdrängung. Vielleicht hält nur sie uns am Leben." Doch warum fällt es den Borderlinern so schwer, sich zu stellen? Ist die Angst wirklich so überwältigend, dass man sie nicht direkt angehen kann? Und falls ja, wieso? Die beiden Autoren erklären es so: "Man stelle sich vor, man fühle sich völlig leer, als habe man praktisch kein eigenes Ich. Und nun soll man auch noch zugeben, mit dem Wenigen, das man als eigenes Ich identifizieren kann, stimme etwas nicht. Für viele Menschen mit Borderline ist dies, als hörten sie auf zu existieren – für jeden ein entsetzliches Gefühl. Um dies zu vermeiden, greifen Borderliner oft zu einem wirkungsvollen, weit verbreiteten Abwehrmechanismus: der Verdrängung. Sie behaupten, mit ihnen sei alles in Ordnung, trotz deutlicher Hinweise auf das Gegenteil. Sie sind eher bereit, den Verlust wichtiger Dinge oder Menschen hinzunehmen – ihrer Arbeit, von Freunden und Familie – als sich selbst zu verlieren. Übrigens: wer dies begreift, wird den Mut von Borderlinern zu schätzen wissen, die sich Hilfe suchen."

"Schluss mit dem Eiertanz" ist voll solcher nützlicher und hilfreicher Erläuterungen und sei hiermit wärmstens empfohlen. Auch wegen dieser Empfehlung, die sich nicht nur an Angehörige von Borderlinern, sondern so recht eigentlich auch an Borderliner selbst richtet: "Die Welt bleibt nicht stehen, wenn ein Angehöriger ein wenig Zeit für sich braucht und sich diese auch nimmt. Ja, er wird sogar erfrischt und gestärkt zurückkehren."

Paul T. Mason / Randi Kreger
Schluss mit dem Eiertanz
Für Angehörige von Menschen mit Borderline
Balance Ratgeber
BALANCE buch & medien verlag, Bonn 2010

Sonntag, 7. Oktober 2012

Vom Finden des Glücks

Ich schwankte in der Tat nie in der Überzeugung, dass Glück der Prüfstein aller Verhaltensregeln und der Endzweck des Lebens sei, aber jetzt dachte ich, dieser Zweck lasse sich nur erreichen, wenn man ihn nicht zum unmittelbaren Ziel mache. Bloss diejenigen sind glücklich, dachte ich, welche ihren Sinn auf irgendetwas anderes als auf das eigene Glück gesetzt haben - auf das Glück anderer, zum Beispiel auf die Veredelung der Menschheit, ja sogar auf irgendeine Kunst oder Beschäftigung, welche als ein ideales Ziel, nicht als Mittel zum Zeck, sondern um ihrer selbst willen erstrebt wird. Während man nach etwas anderem zielt, findet man das Glück unterwegs.

John Stuart Mill: Selbstbiografie