Mittwoch, 25. November 2015

Sich ins Leben schreiben

Ob mich ein Buch anspricht, entscheidet sich häufig bereits nach den ersten paar Sätzen. Sich ins Leben schreiben von Liane Dirks beginnt so: "Schreiben ist etwas Wunderbares. Schreibend kann man Welten entwerfen, Pläne schmieden, Nachrichten hinterlassen. Schreibend kann man erzählen von dem, was war und von dem, was kommen soll. Schreiben ist Magie. Es stellt nie gesehene Landschaften her und es bewahrt Weisheiten, die drohen, in Vergessenheit zu geraten."

Ich stimme zu, denn das alles kann Schreiben ja wirklich alles sein. Nur eben: für mich ist es das überhaupt nicht, für mich ist es viel zu oft mühsam und gar nicht etwa wunderbar, sondern notwendig. Wenig geneigt, weiter zu lesen, tat ich es trotzdem. Und erfuhr, dass Liane Dirks in jungen Jahren den Wunsch hatte, Autorin zu werden, doch dass ihr der Mut fehlte. "Stattdessen hatte ich zunächst die Welt bereist, versucht, allerorten Gutes zu tun. immer war ich mit einem Auftrag unterwegs – mich für andere zu engagieren schien doch einfacher zu sein, als selbiges für mich zu tun."

Damit hatte sie mich, denn es ist in der Tat wesentlich einfacher, sich für andere einzusetzen, als für sich selber Sorge zu tragen. Von früh auf werden wir darauf konditioniert, uns zu beweisen, anderen zu zeigen, dass wir etwas können, dass wir wer sind. Nur auf uns selber aufzupassen, lernen wir nicht, obwohl nichts nötiger, hilfreicher und dringender ist, als gerade dies.

"Wer sich ins Leben schreibt, der schreibt selbst und wird nicht länger be-schrieben. Und wer sein Leben schreibt, der wird vom Opfer seiner Geschichte zu deren Schöpfer." Mich erinnert das an das berühmte Gedicht von Antonio Machado, worin es heisst: "Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht beim Gehen."

Selbstentfaltung sei kein zielorientiertes Projekt, so die Autorin. "Es ist ein mutiges, kreatives Anvertrauen in die Schöpferkraft des Lebens, die uns innewohnt."

Damit diese Schöpferkraft sich entfalten kann, braucht es einen Anfang, doch nicht irgendeinen, sondern einen grossen, echten, einen, bei dem alles neu ist und nichts wirklich geplant werden kann. Es geht darum, dass Freude zum Dreh- und Angelpunkt der Reise wird.

"Ich selber habe lange gebraucht, den Unterschied zwischen Überleben und Leben zu begreifen, oder anders gesagt, den zwischen Entwicklung aus Not und Entfaltung aus der Freude heraus. Es stimmt, erlittenes Leid war der Motor für meine Entwicklung. Ich wollte es überwinden." Das hat sie getan, doch es galt, noch etwas anderes zu lernen. "Nur das Eintauchen in den Ur-Impuls, die pure Freude an der Hervorbringung lässt uns wirklich all unser schöpferisches Potenzial entdecken und verwirklichen."

Um sein Leben zu ändern, braucht es Mut. Liane Dirks bezeichnet Mut, Vertrauen und Offenheit als  "die besseren Seiten der Angst" und plädiert dafür, "den Fokus unserer Aufmerksamkeit nicht länger auf das Leid zu richten, sondern auf den Mut mit dem wir ihm gegenübertreten, dann können wir uns zunehmend in der Kraft verankern und im Vertrauen, dass das Neue tatsächlich möglich ist."

Wer selber schreibt, weiss, dass der Anfang das Eine, das Dabeibleiben das Andere und oftmals Schwierigere ist. Damit das Durchhalten gelingt, braucht es unter anderem Disziplin und diese hat für viele einen schlechten Klang. "Disziplin aber ist etwas, das stets einem selbst dienen sollte, sagte mein erster buddhistischer Lehrer einmal, mit Disziplin übt man neues Verhalten ein."

Ich schätze an Sich ins Leben schreiben vor allem die autobiografischen Stellen: da, wo die Autorin ganz einfach schildert, was mit ihr passiert ist und wie sie damit zurecht gekommen ist, fand ich sie am stärksten. Ihren davon abgeleiteten Folgerungen und Argumentationen mochte ich hingegen nicht immer folgen, die klangen mir häufig ganz einfach zu abgehoben, zu nett, zu positiv. Ihr Plädoyer fürs Ja-Sagen etwa. "Die Magie des Ja-Wortes birgt die Kraft all Ihrer Vorstellungen. Magisch vereint das Ja Vergangenheit und Zukunft und bringt ins Jetzt, was durch Sie entstehen will und soll."

Mir steht der Realismus von Krystyna Zywulska, der mütterlichen Freundin der Autorin, näher, die zusammen mit ihrer Mutter, an den Wachen vorbei aus dem Warschauer Ghetto spaziert ist.
"Woher hattest du den Mut?" fragte ich sie. "Ich weiss nicht", antwortete sie. "Ich habe es einfach getan, ich hab mir vertraut."
"Ich weiss nicht, ob ich das gekonnt hätte", sagte ich.
"Kann sein, kann nicht sein", meinte sie. "Wichtig ist doch nur, dass wir uns von unserem Mut erzählen, dem Mut, das Richtige zu tun und manchmal über uns hinauszuwachsen, nicht wahr?"

Mich hat Sich ins Leben schreiben unter anderem ans Thomas-Evangelium erinnert, wo es heisst: "Wenn Du hervorbringst, was in Dir ist, wird das, was Du hervorbringst, Dich retten. Wenn Du nicht hervorbringst, was in Dir ist, wird das, was Du nicht hervorbringst, Dich zerstören."

Wie dieses Hervorbringen bewerkstelligt werden kann, zeigt Liane Dirks mit Sich ins Leben schreiben anschaulich, differenziert und überzeugend.

Liane Dirks
Sich ins Leben schreiben
Der Weg zur Selbstentfaltung
Kösel Verlag, München 2015

Mittwoch, 18. November 2015

Bis es soweit ist

Du bist ein anständiger Bursche, Danny Boy. Du magst eine Krankheit in dir tragen, aber das ist nicht deine Schuld. Eines Tages wirst du aufwachen und wissen, dass du nicht mehr so weiterleben willst. Dann gehst du die Probleme an, die dich zum Trinker machen. Bis es so weit ist, kann noch einige Zeit vergehen. Ich schlage vor, dass du jetzt erst mal duschen gehst, eine frische Jeans und das Sporttrikot aus meinem Spind anziehst, und dann genehmigen wir beide uns ein anständiges Frühstück im Café.

James Lee Burke: Glut und Asche

Mittwoch, 11. November 2015

On Losers & Rebellion

"The only interesting people in the world are the losers", she said.
"Or rather, those we call the losers. Every type of deviation contains an element of rebellion. And I've never been able to understand a lack of rebelliousness."

Karin Fossum: He Who Fears the Wolf

Mittwoch, 4. November 2015

Wir wir unsere Resilienzkräfte entwickeln können

Von posttraumatischem Stress haben viele schon gehört, das posttraumatische Wachstum ist weniger bekannt. Das liegt nicht zuletzt an den Psychologen, die von den Leidenden leben.

Die meisten Menschen kommen jedoch ohne Psychologen durchs Leben und das liegt unter anderem daran, dass sie selbst katastrophale Ereignisse erstaunlich gut bewältigen.

Michaela Haas' Stark wie ein Phönix handelt von Frauen und Männern, die durch posttraumatische Belastungen emotional gereift sind und neue Lebenslust gewonnen haben.

Das hat mit Resilienz zu tun. Und das meint hier: die Fähigkeit, Widrigkeiten nicht an sich abprallen zu lassen, sondern ihre Wucht zur Veränderung zu nutzen.

Michaela Haas ist Journalistin und geht das Thema entsprechend an: Sie befragt Menschen, die an schweren Schicksalsschläge gewachsen sind. Darunter finden sich auch bekannte Namen wie die Bürgerrechtlerin Maya Angelou, Roshi Bernie Glassman oder der Def-Leppard-Schlagzeuger Rick Allen.

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse würden die aufbauenden Einsichten dieser Menschen bestätigen, lese ich und frage mich: Und wenn es nicht so wäre? Wenn keine Bestätigung der Wissenschaft vorliegen würde? Wären dann diese Einsichten etwa weniger hilfreich?

Der Psychologe Richard Tedeschi gilt als einer der führenden Köpfe in der Erforschung von posttraumatischem Wachstum. Und er sagt so vernünftige Sachen wie: "Das Wachstum kommt nicht von dem Ereignis an sich, als wäre das, was geschehen ist, etwas Grossartiges. Posttraumatisches Wachstum entsteht nicht aus dem Tod des geliebten Kindes, sondern aus dem langen, mühevollen und schmerzhaften Kampf der Eltern, den Verlust zu bewältigen." Es mag unbescheiden klingen, doch darauf wäre ich vermutlich auch selber gekommen.

Man lernt viel Hilfreiches in diesem Buch. So meint etwa Maya Angelou: "Es wird sich nichts tun, wenn du es nicht tust", Und sie fordert: "Wirf dich in den Kampf. Kämpfe!" Doch alleine schafft das selten jemand. Wir alle brauchen Hilfe und Unterstützung, damit wir zu vergeben lernen, den anderen und uns selber, und Neues wagen können. Besonders eindrücklich und berührend fand ich die dramatische Geschichte von Cindi Lamb, die es schaffte, dem Mann zu vergeben, der ihre Tochter auf dem Gewissen hat.

Am überzeugendsten ist Michaela Haas, wenn sie von sich selber berichtet. Sie tut dies mit inspirierender Aufrichtigkeit, doch ohne Nabelschau. "Die revolutionäre Einsicht Buddhas ist, dass wir sind, was wir denken – dass wir unsere Wirklichkeit im Kopf erschaffen. Unser Geist erschafft Glück und Leiden, unabhängig von den äusseren Umständen. Für mich hiess das, dass ich mein Glück nicht länger in den alten Revieren suchen durfte. Ganz offensichtlich hatte ich mich gründlich getäuscht: in meinem Mann, in meinem Leben, auch in mir. Das Leben, das ich mir vorgestellt hatte, gab es nicht mehr. Ich musste loslassen und mir ein neues suchen."

Das geht nur, indem wir uns dem Leiden stellen. "Wer am meisten versucht, Leiden zu vermeiden, ist am Ende derjenige, der am meisten leidet", schreibt der christliche Theologe Thomas Merton. In den Worten von Michaela Haas: "Bevor wir Leiden überwinden können, müssen wir uns hindurchwinden. Der Weg zum Licht am Ende des Tunnels führt durch den Tunnel."

Michaela Haas
Stark wie ein Phönix
Wir wir unsere Resilienzkräfte entwickeln
und in Krisen über uns hinauswachsen
O.W. Barth, München 2015