Sonntag, 30. September 2012

Fallen lassen

1995 zeigte die österreichische Schriftstellerin Brigitte Schwaiger zum ersten Mal einer psychiatrischen Krankenschwester ihre sich selbst zugefügten Hautverletzungen. "Sie hätte das Wort "Borderline-Syndrom" aussprechen müssen, dann wäre ich nicht noch jahrelang wegen endogener Depression behandelt worden. Ein Borderliner kann depressiv sein, kann entsprechende Medikamente schlucken, doch erfordert das Borderline-Syndrom, die Borderline-Persönlichkeitsstörung eine Spezialbehandlung."

Zwei Jahre später, 1997, suchte sie einen Psychiater auf. Sie hörte Stimmen. "Ein ganzes Konzert war es einmal, so wie ich in Träumen manchmal von einem Abgrund in den anderen falle." Ende 2001 fühlte sie sich dann "so kaputt vom vielen Nachgrübeln über mein unglückliches Leben, dass ich mich, es war der 19. Jänner 2002, auf die Baumgartner Höhe einliefern liess." Ihre Freunde besuchen sie dort nicht. "Es kommt ja niemand zu dir, wenn du psychisch krank bist. Allen erscheinst du fad. Du hast immer Depressionen, du lachst nie ...".

"Fallen lassen" ist eine beklemmende Lektüre und dabei voll von Sätzen, die ich mir angestrichen habe, weil ich sie auf die eine oder andere Art bemerkenswert fand."Sie raucht fast pausenlos, es rauchen fast alle psychisch Kranken eigentlich fast pausenlos ...". Eigenartig, wie kommt das nur? Geben Zigaretten einem Halt? "Man hat ja, wenn man ausser Borderline auch angstkrank ist, oft Angst." Und da hatte ich doch bisher immer gedacht, Angst sei ein Teil der Borderline-Krankheit; offenbar nicht nur, es kann das auch eine eigene Krankheit sein.

Borderliner sind extrem sensible Menschen, sie haben ein ganz aussergewöhnliches Sensorium für die Stimmungslagen anderer Menschen und sind so recht eigentlich geradezu dafür geschaffen, anderen zu helfen. Bedauerlicherweise werden sie dabei häufig ausgenutzt. "Warum hat er nicht den psychosozialen Dienst angerufen? Warum die alte Brigitte Schwaiger, die immer da war, wenn man sie brauchte, der man alle Sorgen erzählen konnte, und die gemieden wurde, wenn die Sorgenkinder eine gute Zeit hatten. Erfolge etc. und erst wieder, wenn eine Ehe geschieden war, traten sie wieder an und ein. Dann durfte ich Partnerberatung spielen, ohne Honorar natürlich, und der Dank war, dass die jeweiligen Partnerinnen dann auf mich eifersüchtig waren ...".

Borderliner, da sind sich viele, die sich eingehend mit diesem Phänomen auseinandergesetzt haben, einig, brauchen eine Spezialbehandlung. Und auch wenn nicht wirklich klar ist, wie eine solche auszusehen hat, die Patienten-Durchmischung in psychiatrischen Kliniken (wohl aus ökonomischen Gründen) ist alles andere als ideal. "Was habe ich gemein mit einem Heroinsüchtigen, damit meine ich, dass seine Welt mir fremd und meine ihm, dass Gedankenaustausch kaum möglich ist, dass es keine Gesprächsebene gibt, und was habe ich gemein mit einem Patienten, der wegen Panikattacken hier ist, bei dem aber keine Selbstmordproblematik vorliegt?" Und, an anderer Stelle: "Der Selbstschädiger soll nicht mit jemanden, der gern andere schädigt, beisammensein müssen."

"Wenn es einmal für einen Menschen keine Schande mehr ist, dass er in psychiatrischer Behandlung war, kann man vernünftig über vieles sprechen." Brigitte Schwaiger, indem sie sich ge-outet hat, differenziert und klug, hat ihren Teil dazu beigetragen, damit wir über Borderline und psychiatrische Behandlung vernünftig reden können.

Brigitte Schwaiger
Fallen lassen
Czernin Verlag, Wien 2006

Sonntag, 23. September 2012

Gunderson: Borderline

"Dieses Buch handelt von der klinischen Versorgung von Patienten mit Borderline Persönlichkeitsstörung. Es erhebt Anspruch auf Vollständigkeit und sollte alle anerkannten Therapien umfassen", schreibt Gunderson in der Einleitung. Und: "Patienten mit Borderline Persönlichkeitsstörung sind selten untherapierbar, doch um sie erfolgreich zu behandeln, werden Therapeuten gebraucht, die Spezialwissen und besonderes Training haben." Mit anderen Worten: ist der Therapeut besonders qualifiziert und anerkannt ("Es ist mir gelungen, viele Jahre als anerkannter Therapeut mit Borderline-Patienten zu arbeiten ..."), wird es nicht nur zu positiven Veränderungen, "die weitgehend die dysphorische Stimmungslage dieser Menschen verbessern und ihr Sozialleben begünstigen", sondern auch dazu kommen, "dass die Angehörigen der Patienten, aber auch die Therapeuten sowie die Kosten des Gesundheitswesens entlastet werden, die sonst noch wesentlich höher ausfallen würden." Ich habe da so meine Zweifel, denn bei der Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS) handelt es sich wesentlich um ein seelisches Leiden und ob da Therapie messbare Resultate zeigen kann, ist zumindest fraglich. Wer kann schon wirklich wissen, ob allfällige Verbesserungen der Therapie geschuldet sind oder ob sie nicht auch sonst eingetreten wären?

"Um die nötigen Qualifikationen zu erwerben, sind im Allgemeinen zwei bis drei Jahre relativ umfassender, vorzugsweise unterschiedlichster Kontakte nötig, wie sich etwa bei einer Tätigkeit in stationären oder Wohneinrichtungen ergeben." Sicher, eine solche Ausbildung schadet nicht, doch garantiert sie auch Behandlungserfolg? Gunderson bringt es auf den Punkt, wenn er festhält: "Viele Therapeuten sind nicht gut im Umgang mit BPS-Patienten. Vielleicht ist also der Erfolg von Kernberg und Linehan bei Borderline-Patienten weder ihrer theoretischen Ausrichtung noch ihrer Ausbildung zuzuschreiben." Woran also dann? "Möglicherweise liegt das Geheimnis in den abschätzig als nicht-spezifisch bezeichneten Komponenten ihres Angebots. Kernberg und Linehan haben gleichermassen charismatische Ausstrahlung. Sie haben Autorität: Sie verkörpern Zuversicht, Klarheit, Kraft und Sicherheit."

"Aufmerksam, herausfordernd und eingehend" sind gemäss Gunderson die Qualitäten, die gute Borderline-Therapeuten mitbringen müssen. Dass diese nicht einfach so gelernt werden können, versteht sich von selbst.

Dieses Buch gibt umfassend Auskunft zum aktuellen Forschungs- und Behandlungsstand, lässt einen der Verlag wissen. Der Autor führt unter anderem aus, wie man zu einer sicheren Diagnose kommt, erläutert, welche Therapiemöglichkeiten es gibt und diskutiert allgemeine Erwägungen zur Therapie, zum therapeutischen Umfeld und zur Interaktion zwischen Patient und Behandelnden. Zudem finden sich in dem Buch zahlreiche Tabellen, Abbildungen und Fallvignetten.

Gunderson schliesst sein Werk mit der Hoffnung, dass die Tragödien und das Veränderungspotential der Borderline-Patienten "Eingang finden in das Denken der breiteren Gesellschaft, von der die Gemeinschaft derer, die in der psychiatrischen Versorgung arbeiten, nur ein kleiner Teil ist." Dabei weiss er: "... letzten Endes ist dieses Ziel nur durch die Hilfsappelle zu erreichen, die von diesen Patienten, zu ihrem eigenen Vorteil, weiterhin ausgehen werden." Leider ist das nicht die einzige holprige Formulierung in diesem ansonsten empfehlenswerten Buch.

John G. Gunderson
Borderline
Diagnostik, Therapie, Forschung
Verlag Hans Huber, Bern 2005

Sonntag, 16. September 2012

Erschöpfung und Depression

Der Mediziner Michael Spitzbart misstraut der herkömmlichen Medizin schon lange. "Sosehr diese Medizin Lorbeeren bei der Behandlung akuter Krankheiten einheimst, sosehr versagt sie bei der Therapie chronischer Leiden ... Nehmen Sie einem Hautarzt beispielsweise die Cortisonsalbe weg, ist er um die Hälfte seiner Therapiemöglichkeiten beraubt. Und, schwupps, das Ekzem ist wieder da." Woran liegt's? Am System, meint Spitzbart, denn dieses behandle das Symptom und nicht die Ursache.

Wahnsinnig originell ist dieser Ansatz zwar nicht, zudem setzt er voraus, dass Ursache und Symptom eindeutig zugeordnet werden können und das ist bei seelischen Leiden einigermassen fragwürdig. Gemäss Dr. med. Spitzbart steckt hinter Depression und Burnout oft ein gestörter Hormonstoffwechsel. "Doch: Wenn man das Blut nicht untersucht, kann man die Ursache für das Problem nicht finden. Und genau darauf habe ich mich in meiner Praxis spezialisiert: Der richtige Bluttest bringt Klarheit, die Substitution fehlender gehirnaktiver Eiweissbausteine schnelle Besserung. Was allerdings nicht heisst, dass das Leben dann wie eh und je weiterläuft. Bitte nicht! Jeder Betroffene sollte sich fragen: Warum ist es soweit gekommen? Wo liegt der Hund begraben? ...".

Alles klar also: bei Depression und Burnout zum Bluttest in die Praxis Dr. med. Spitzbart! Zugegeben, mich stört diese unverholene Selbstanpreisung, andrerseits spricht ja noch nicht unbedingt gegen den Mann, dass er ehrlich sagt, worum's ihm letztlich geht,

"Wenn die Hormone im Gehirn verrückt spielen, können Sie sich auf die Couch legen, so lange Sie wollen", bringt Spitzbart seinen Ansatz auf den Punkt: "Keine Biographie ist lupenrein und ohne Trauma verlaufen. Und angenommen, man findet eine scheinbare Ursache für ein späteres Unbehagen heraus: Geht es Ihnen dann besser, nur weil Sie jetzt die Ursache kennen? Sie sind weiterhin unglücklich, nur akademisch auf einem leicht höheren Niveau."

Als Gründe, die das Ausbrennen begünstigen, nennt Spitzbart sechs. Als da sind: Existenzängste, die ständige Erreichbarkeit, das Multi-Duty-Life, das Leistungsstreben, stressige Chefs, Depersonalisierung. Will Dr. Spitzbart vielleicht den modernen Kapitalismus abschaffen? Nicht doch, er propagiert die Spitzbart-Methode und die besteht darin, die Hormonproduktion anzuregen, und zwar die eigene, keine künstliche von aussen. Wenig überraschend kommen dann auch Patienten zu Wort, die sich über ihren Burnout und ihre Genesung äussern.

PS: Der Titel ist übrigens irreführend, denn über Depression erfährt man in diesem Buch praktisch nichts.

Dr. med. Michael Spitzbart
Erschöpfung und Depression:
Wenn die Hormone verrückt spielen
Kösel-Verlag, München 2012

Sonntag, 9. September 2012

Borderline - die andere Art zu fühlen

Es gibt Bücher, bei denen merkt man schon bei den ersten paar Sätzen ("Bei der Recherche im Internet zum Thema Borderline und Beziehung mussten wir mit Entsetzen feststellen, wie viele Artikel, Ratgeber und chat-rooms die Menschen, die mit dieser Diagnose leben müssen, diskriminieren und völlig realitätsfremd darstellen .... Ratschläge wie Finger weg, bloss nicht auf solche Menschen einlassen oder gar verlassen Sie einen Borderliner nie ohne Polizeischutz, haben uns motiviert, unsere Erfahrungen einerseits und den wissenschaftlichen Hintergrund andererseits in einem Buch zusammenzufassen."), dass man sie mögen wird – und auch sofort weiterempfehlen will. Borderline - die andere Art zu fühlen von Alice und Martina Sendera ist so ein Buch. So recht eigentlich schon des 'wertfreien' Titels wegen. Und auch des schön blühenden Kaktus auf dem Umschlag wegen: "Der Kaktus symbolisiert das charakteristische Verhalten von Abwehrbereitschaft und Angst durch andere verletzt und enttäuscht zu werden, die Blüte die Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit, Schönheit und Liebe, aber auch die Anziehungskraft, die Borderline-Menschen oft auf andere ausüben." Wie Sonja K. Sutor so treffend schreibt: "... vielleicht können Sie dem Kaktus zeigen, dass er auf seine Stacheln verzichten kann, wenn Sie bei ihm sind. Vielleicht können Sie selbst lernen, die Stacheln schon im Vorhinein zu sehen und aufzupassen, sich nicht zu verletzen ...".

Doch was ist eigentlich Borderline? In erster Linie eine Emotionsregulations-Störung. Borderliner leiden unter extremen Spannungsgefühlen; ihre emotionale Sensitivität ist angeboren, doch trägt das soziale Umfeld entscheidend zur Borderline-Störung bei.

Verschiedene Konzepte zur Borderline-Pathologie werden in diesem Werk vorgestellt. Besonders eingeleuchtet hat mir das Modell von Marsha Linehan: Borderliner haben häufig als Kinder traumatische Erfahrungen gemacht, auf ihre Gefühlsäusserungen ist nicht angemessen reagiert worden, weswegen diese Kinder nicht gelernt haben, eigene Erfahrungen und Gefühle adäquat zuzuordnen und keine effektive Emotionsregulationsfähigkeit entwickeln. Das zeigt sich etwa in unangemessenen, starken Wutausbrüchen, Impulsivität, affektiver Instabilität, Hochstress, Selbstverletzung oder einem "Muster von instabilen und intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen, das sich durch einen Wechsel zwischen extremer Idealisierung und Abwertung auszeichnet."

Als Borderline-Grundgefühle gelten Wut (Otto Kernberg), Scham und Schuld (Marsha Linehan), die Borderline-Angst (Sven-Olaf Hoffmann) und die Leere. Diese Gefühle sind nicht nur rascher und intensiver vorhanden als bei Normalos, sie entziehen sich – im Hochstress und bei grosser Nähe – auch der kognitiven Kontrolle. "Viele Übungen aus dem Skills-Training zielen darauf ab, neue Wege zu trainieren, um diesem Kreislauf zu entkommen. Das heisst auch im neurobiologischen Sinn, dass das Bahnen neuer Wege möglich ist, die bereits erfolgten neuronalen Bahnungen und Inhalte jedoch löschungsresistent sind ...".

Ist Borderline heilbar? Nach Auffassung von Alice und Martina Sendera sind "die typischen Verhaltensweisen und Reaktionen therapierbar und veränderbar", doch wird "eine gewisse emotionale Vulnerabilität" wohl lebenslang bestehen bleiben. Steuern können Borderlines "durch das Erlernen von bewertungsfreiem Wahrnehmen, Beschreiben und Erkennen von Primärgefühlen und der Verinnerlichung des Leitsatzes Ich bin nicht mein Gefühl." Ich finde diesen Leitsatz wunderbar hilfreich – und nicht nur für Borderliner – , doch wie bewertungsfreies Wahrnehmen (ein derart hochgestecktes Ziel lädt geradezu zum Scheitern ein) gehen soll, ist mir schleierhaft. So recht eigentlich bewertet der Mensch doch immer, bewusst und unbewusst, und ich kann daran auch gar nichts Problematisches erkennen – sofern man dieser Wertung nicht eine übertriebene Bedeutung gibt.

Borderline - die andere Art zu fühlen ist ein unbedingt empfehlenswertes Buch. Verständlich geschrieben, aufklärend, erhellend, mit vielen Beispielen, Übungen und Anregungen. Und vor allem: die Autorinnen verstehen, Mut zu machen: "... finden wir viele ermutigende und positive Eigenschaften, die Fähigkeit zur Leidenschaft, Offenheit, ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, ein gutes Gespür für zwischenmenschliche und emotionale Prozesse machen den Borderline-Menschen zu einem Partner, der facettenreich ist und den man nicht missen möchte."

Alice Sendera / Martina Sendera
Borderline – die andere Art zu fühlen
Beziehungen verstehen und leben
SpringerWienNewYork, Wien 2010

Sonntag, 2. September 2012

Erfahren & Denken

Zuerst das Geständnis, dass Denken mir nichts bringt. Ich bin auf Erfahrung angewiesen. Leider. Erfahren geht ja viel langsamer als denken. Denken kann man schnell. Denken geht leicht. Denken ist keine Kunst. Denken ist grossartig. Durch Denken wird man Herr über Bedingungen, unter denen man sonst litte. All das ist Erfahren nicht ... Erfahrungen sind nicht so leicht beherrschbar wie das Denken, Durch Denken herrscht man ja selber. Erfahrungen ist man eher ausgeliefert. Aber sie aufzeichnen hilft. Das ist auch eine Erfahrung.

Martin Walser: Tod eines Kritikers