Mittwoch, 28. August 2013

Dem Leben entfremdet

Aufzeigen wolle er, so Arno Gruen auf den ersten Seiten dieses Buches, dass die Geschichte der grossen Zivilisationen die Geschichte der Unterdrückung unserer empathischen Natur sei. "Dadurch  verlieren wir die ursprüngliche, jedem Menschen gegebene Fähigkeit in der Wirklichkeit zu leben."

Die Frage "Wer bin ich?" sei ersetzt worden durch "Was bin ich?", doch "Was ich bin, hat fast nichts damit zu tun, wer ich bin." Was ich bin hat zu tun mit Macht und Status und damit, wie ich mich in den Augen der anderen präsentiere. Dabei geht es um Anerkennung und Leistung. Bei der Frage wer ich bin geht es hingegen um eine ständige Konfrontation mit sich selbst und seinem Tun. Und das beinhaltet das Akzeptieren von Gefühlen der Unzulänglichkeit, der Hilflosigkeit, Angst und Verzweiflung.

Auch wenn die Humanwissenschaften heute noch lehrten, dass die auf Macht und Herrschaft aufgebauten 'grossen Zivilisationen' das Menschliche erst hervorgebracht hätten, die bestimmenden Faktoren unserer Evolution seien Kooperation und Empathie, führt Gruen aus. Ja, so recht eigentlich sei es umgekehrt: der Mensch habe sich nicht von primitiver Aggression zu zivilisierter Konfliktlösung entwickelt, erst die Einführung und Durchsetzung des Konzepts 'Besitz' habe dazu geführt, dass kooperative und gesellschaftliche Sozialbeziehungen sich aufzulösen begannen.

Arno Gruen zitiert aus vielen Büchern, und dabei auch aus J.M. Coetzees "Warten auf die Barbaren", wo dieser fragt, weshalb es für uns unmöglich geworden ist, "in der Zeit zu leben, wie die Fische im Wasser, wie die Vögel in der Luft, wie die Kinder." Gruen kommentiert das so: "Damit deutet er darauf hin, dass authentisch-empathisches Erleben nicht möglich ist in einer Kultur, die einerseits den Verstand verherrlicht, andererseits ihn problematisch macht, indem sie von Geburt an unser Gefühlsleben verkümmern lässt."

Ein Grund, weshalb wir nicht wahrnehmen können, was wirklich ist, ist der Gehorsam. Und den Gehorsamskulturen ist es eigen, dass sie Herrschaft und Besitz zementieren. Paradoxerweise erwarten wir von denen die Erlösung, die von unserem Gehorsam am meisten profitieren.

Gruen weist auf Forschungen hin, gemäss deren nur etwa 30 Prozent in frühen Jahren Liebe und Zärtlichkeit in grösserem Umfang erfahren haben und folgert: "Wenn Erwachsene als Kinder selbst durch ein Bewusstsein geformt wurden, das Liebe einschränkte und Macht über sie zum Zweck der Beziehung machte, dann werden sie selbst, wenn sie Eltern sind, ihre Kinder dazu benötigen, ihre eigenen Unsicherheiten und Demütigungen zu bewältigen." So sehr das einleuchtet (und auch meine Sympathie hat), mir ist schleierhaft, wie solche Forschungergebnisse zustande kommen können. Wie  will man bloss messen, wie viel Liebe jemand in seiner Kindheit erfahren hat? Nicht zuletzt, weil ja das Gedächtnis bekanntlich ungemein kreativ und anpassungsfähig ist.

Ich fand besonders Gruens Ausführungen über den Gehorsam ausgesprochen inspirierend. "Unser Gehorsam, eine Folge der Identifikation mit dem Aggressor und Unterdrücker, bringt Menschen immer wieder dazu, trotz Rebellion, weiter nach Autorität zu suchen." Gibt es keinen Ausweg aus diesem Teufelskreis? Doch, meint Gruen, sofern wir "den Prozess der Selbstentfremdung unterbrechen, uns selbst mit all unseren Schwächen und unserem Selbst annehmen und die Schwächen anderer respektieren, dann können wir uns selbst und andere wieder lieben lernen."

Arno Gruen
Dem Leben entfremdet
Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden
Klett-Cotta, Stuttgart 2013

Mittwoch, 21. August 2013

Piet C. Kuiper: Seelenfinsternis

Diesem Werk ist ein einfühlsames Geleitwort des Herausgebers der Reihe "Geist und Psyche" (von Nina Kindler 1964 begründet), Willi Köhler, vorangestellt, der unter anderem festhält: "Zu allen Zeiten waren Depressive, oder Melancholiker, wie sie früher hiessen, unbequem, denn sie erinnerten ihre Mitmenschen an die Widersprüche und Gebrechlichkeiten der Welt. Moderne Psychologen sind sogar der Auffassung, Depressive seien die einzigen Realisten, weil sie die Welt sehen, wie sie ist, und mit diesem Blick kann man nur schwer leben." Der Autor von Seelenfinsternis, Piet C. Kuiper, ehemaliger Professor für Allgemeine Psychopathologie und Klinische Psychiatrie an der Universität Amsterdam, drückte es in seinem Vortrag an den Lindauer Psychotherapie-Wochen so aus: "Es kann niemals Licht werden, wenn wir uns nicht der Wahrheit stellen, dass wir von tiefster Finsternis bedroht sind."

Eines Nachts muss er aufstehen, er verliert das Bewusstsein und schlägt rückwärts auf den Boden. Als er aufwacht, verdrängt er den Vorfall, er will nicht krank sein. Er leidet unter Kopfweh, dann wiederum empfindet er seinen Kopf als voller Watte, hat den Eindruck, er sehe nicht mehr wirklich, fühlt sich beständig müde. Sein Internist diagnostiziert eine Virusinfektion.

"In meinem Leben vollzog sich allmählich eine eigenartige Veränderung. Die Intensität meines Erlebens wurde schwächer. Die innere Melodie erklang nicht mehr, Erlebnisse verloren an Bedeutung." Er kann nicht mehr malen (im Buch finden sich zahlreiche eindrückliche Beispiele seines Maltalents), verliert das Interesse an Kriminalromanen und Philosophie; er schläft viel, fühlt sich energie- und antriebslos. Er nimmt ein Mittel gegen Wahnvorstellungen. Weder Antidepressiva noch Antipsychotika helfen, Schlafmittel lösen Verwirrung aus. Trotz seines unerträglichen Zustandes denkt er nicht an Selbstmord. "Ich fürchtete mich viel zu sehr vor dem Tod. Dann würde ich vor Gott erscheinen müssen, und der würde mich in die ewige Verdammnis stossen."

Es folgt ein Aufenthalt in der Klinik, gefolgt von eineinhalb Jahren zu Hause und einem zweiten Klinikaufenthalt. Der Gedanke,alles verpfuscht zu haben, verfolgt ihn. Er landet in einer eigentlichen Schuldhölle: "Ich hatte auch meinem Jugendfreund recht gegeben, der mir geschrieben hatte: 'Du hast in Deinem Leben nur an Dich selbst gedacht, nur Dich selbst gesehen, und andere hast Du Deinen Interessen und Deinen Vergnügungen geopfert.'"

Besonders eindrücklich und bewegend sind die Stellen, in denen er über sein inneres Ringen, seinen Widerstand und Kampf gegen seine Schuldgefühle und Selbstvorwürfe berichtet: "Ein Übermass an Schuldgefühlen kann dazu führen, dass man die vielen Gaben, die man nicht genutzt hat, betrauert und dadurch die Zeit, die noch vor einem liegt, vertut und so ein Schicksal auf sich herabbeschwört, das dem des Alkoholikers gleicht, der zu argumentieren pflegt: Ich höre nicht auf zu trinken, denn dann hätte ich schon eher aufhören können."

Was ihm schlussendlich hilft, ist Tylciprin, ein Medikament, von dem er selber mit Nachdruck abgeraten hatte. Und was ihm auch hilft: sich auf das Hier und Jetzt zu beschränken und zu handeln. "Ich tat das, was auf der Hand lag, was andere gern wollten und was ich selbst gern tat. Ich schaute nicht nach innen, fragte mich nicht, wie es in meiner Seele aussah. Es gibt keinen Weg zu sich selbst als den über andere Menschen und über Aktivitäten."

Piet C. Kuiper
Seelenfinsternis
Die Depression eines Psychiaters
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010

Mittwoch, 14. August 2013

Die mächtigste Droge der Welt

Diesem eindrücklichen, informativen und gut lesbaren Werk ist ein Geleitwort des Nachtschatten-Verlegers Roger Liggenstorfer vorangestellt, in dem er unter anderem Paracelsus zitiert: "Alle Dinge sind Gift, auf die Dosis kommt es an!" und das Buch treffend mit diesen Worten zusammenfasst: "Dieser reichhaltige erste Band einer geplanten Trilogie besticht auch als eigenständiges Werk. Er zeigt die lange Geschichte des Alkohols, das Verhältnis zum Trinken in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften und die Beziehung zur Religion auf spannende und eindrückliche Art. Und nicht zuletzt erzählt er auch von den berühmtesten Trinkern: ein Stelldichein der aussergewöhnlichsten Säufer und Trinkerinnen aus allen Gesellschaftsschichten. Ich wünsche bei der Lektüre dieses berauschenden Buches viel Spass und Erkenntnisgewinn und bin mir sicher, dass die Leserin, der Leser danach die mächtigste Droge der Welt mit neuen Augen sehen werden."

Der Autor, der 1963 in Wien geborene Wolfgang P. Schwelle, der Handels-, Politik- und Kommunikationswissenschaften studiert hat, schreibt zur Verbreitung des Alkoholtrinkens: "... überall dort, wo Alkohol nicht verboten ist, wird er konsumiert. Und überall dort, wo er das ist, ebenso."
 Gemäss der WHO haben geschätzte 76 Millionen ein massives Alkoholproblem. Das meint aber eben auch, dass etwa drei Viertel der Alkohol-Konsumenten mit der Droge ganz gut umgehen können. Trotzdem: "De facto ist der Alkohol unzweifelhaft die mit sehr grossem Abstand am häufigsten konsumierte sowie zugleich unterm Strich auch die gefährlichste Droge der Welt." Das liegt nicht zuletzt daran, dass unter den Folgen unkontrollierten Trinkens nicht nur die Trinker, sondern auch alle anderen, die mit ihnen zu tun haben, zu leiden haben.

Gegliedert ist das Buch in 5 Kapitel. Und die sind 1) Die Geschichte des Alkohols, 2) Alkohol und Religion, 3) Alkohol und Gesellschaft, 4) Berühmte Trinker und 5) Und übrigens ... wo auf die Frage eingegangen wird, ob Tiere eigentlich Alkohol trinken.

Ich will hier auf das Kapitel über berühmte Schriftsteller und das Trinken (es gibt auch Kapitel über Musiker und Komponisten, Sportler, Schauspieler, Politiker ...) etwas näher eingehen. Ein Alkoholnebel liege über der Weltliteratur, behauptet der Hanser-Verleger und Schriftsteller Michael Krüger. Dass Scott Fitzgerald gesoffen hat, oder Hemingway, das war mir bekannt, dass jedoch Goethe sich "angeblich immer die Hände vor Freude gerieben hat, wenn eine neue Weinlieferung eintraf", war mir neu, wie auch, dass Friedrich Schiller, "von manchen Autoren als schwerer, von anderen als mässiger Trinker" bezeichnet worden sei. Auch Shakespeare soll ein Trinker gewesen sein, allerdings kein schwerer. Überrascht hat mich auch, dass Patricia Highsmith aussergewöhnlich hohe Mengen von Alkohol konsumiert hat: Erwähnt werden aber auch die Schriftsteller, die trocken geworden sind und George Bernard Shaw, der jede Form des Alkoholkonsums ein Leben lang ablehnte: "Ich brauche keine Stimulanzien, ich brauche viel eher Sedativa."
Bei den Schweizer Schriftstellern fehlt übrigens Max Frisch, der in seinem Entwurf zu einem dritten Tagebuch schrieb:"Dass ich Alkoholiker sei, habe ich früher schon gesagt. Jetzt ist es keine Koketterie mehr. Nur in einer Klinik gelingt der völlige Entzug."

Es ist nun aber eben nicht so, dass dieses Buch einfach unsere Neugier befriedigt ("Wusste gar nicht, dass der oder die auch ..."), vielmehr bietet es ganz unterschiedliche und äusserst vielfältige Aufklärung über Alkohol. So weist der Autor etwa darauf hin, dass es "dieser Wunsch nach einer gelegentlichen Auszeit von all den Problemen, von der oft als brutal empfundenen Wirklichkeit und von der durchrationalisierten Nüchternheit des modernen Lebens" ist, weshalb der Gebrauch (und das schliesst den Missbrauch ein) von Alkohol wohl kaum je verschwinden wird. Übrigens: Die Inuit sind, bis die europäischen Eroberer kamen, ohne Drogen ausgekommen. "Freilich nicht, weil sie so diszipliniert und gesundheitsbewusst waren, sondern weil dort, wo sie leben, auf Grönland und im hohen Norden Kanadas, einfach nichts wächst, was als Droge hätte herhalten können."

"Alkohol. Die mächtigste Droge der Welt" ist uneingeschränkt zu empfehlen. Weil der Autor etwas zu sagen hat, dies differenziert tut und zudem unterhaltsam zu schreiben weiss. Und weil er Humor hat. So ist ein Kapitel überschrieben mit "Von Auguryo bis Zivjeli". "Auguryo" sagt man auf Somalisch für Prost. Und jetzt raten Sie mal was "Zivjeli" heisst? Prost natürlich, auf Serbokroatisch.

Wolfgang P. Schwelle
Alkohol
Die mächtigste Droge der Welt
Band 1
Geschichte, Religion, Gesellschaft und Kurioses
Nachtschatten Verlag, Solothurn 2013

Mittwoch, 7. August 2013

The Eden Express

Having grown up in the '60s, I instinctively decided to like this book when coming across these sentences in the foreword to the 2002 edition: "We truly didn't know that drugs were bad for you. How could we have known for sure that drugs weren't good? For many of us experiencing with drugs was more a matter of covering all the bases in a search for what might be helpful and positive. Getting high or escaping was not the point." That rings so true that I'm astonished that I haven't read, seen or realised that before. Like Vonnegut, I subscribed to R.D. Laing's view that insanity was essentially a sane reaction to an insane society. And, I still think that there is quite something to it. At the same time, however, I find Vonnegut's assertion that "there is nothing good about being mentally ill except that it gave me a strong and undiluted desire to not be mentally ill" thoroughly convincing.

Mark Vonnegut went to Swarthmore, graduated with a B.A. in religion, moved with friends to a remote farm in British Columbia: "It was really Eden, there was no other way to describe it." And then, from out of nowhere, something changed: "I began to wonder if I was hurting the trees and found myself apologizing. Each tree began to take on personality. I began to wonder if any of them liked me. I became completely absorbed in looking at each tree and began to notice that they were ever so slightly luminescent, shining with a soft inner light that played around the branches."

More and more, Mark is acting strangely. There are times when he is scared and shaking, he is going nuts. "Most people assume it must be very painful for me to remember being crazy. It's not true. The fact is, my memories of being crazy give me an almost sensual glee. The crazier I was, the more fun remembering is." No, this is not a plea for craziness for the sentences that follow read: "I don't want to go nuts again, I'd do anything to avoid it. Part of the pleasure I derive from my memories comes from how much I appreciate being sane now ... It's regrets that make painful memories. When I was crazy I did everything just right." It's not least for insights like these that I'm fond of this book.

So how did the people around Mark cope with his craziness? "After a while a reasonable routine for dealing with me was worked out. A twenty-four-hour watch was set, sharp and dangerous objects were put away, and things calmed down a little. There was some talks about hospitals ... a lot of telephoning ... And then along came Warren. Actually we went to see him. Warren was a holy man of sorts who was supposed to drive the evil demons out of me or maybe just talk me down or at least come up with some explanation for what was wrong with me." Warren's "therapy" is a disaster, Mark is worse off than he was before. "Warren himself was hauled off to the nut house a few weeks after I was."

In a nutshell: Mark had lost control of his life. "The simplest way to describe it is that my stress tolerance had been whittled down to nothing in a process that went back far beyond the time when everyone got so interested in the appropriateness of my actions."

The second time at the hospital, Mark learns that he has schizophrenia and that it is probably genetic, biochemical, and curable. At first he's doubtful "that there was any medical problem. It was all politics and philosophy. The hospital bit was just grasping at straws when else failed." He however gradually starts to realise that the problem was indeed biochemical and that proved to be  tremendously helpful (Thorazine was the solution for him), not least because no one was to blame anymore.

In sum: a compelling insider's account of insanity, and valuable help for understanding the sixties.

From the afterword:
The clinical definition of schizophrenia has been changed since the book came out. Today, Mark Vonnegut would be very likely be classified as manic depressive.

Mark Vonnegut
The Eden Express
A Memoir of Insanity
Seven Stories Press, New York 2002