Sonntag, 30. Dezember 2012

How not to drink

She slowly sips her beer, I drink five colas. We both smoke. She wins two games, I win three. We talk easily, no uncomfortable silences, no akward pauses, She asks me how often I want to drink and use I tell her always. She asks me if being in a bar is hard I tell her I can get alcohol wherever I want, wherever I am, there are liquor stores on every block, being in a bar is no different than being anywhere else. She asks me if it's hard not drinking, I tell her it's miserable, that I spend a lot of my time crying, that sometimes I feel like I want to die. She asks me how I deal with it, I tell her that I always know that at some point I will feel better and If I'm patient and hold on, that point will come.

James Frey
My Friend Leonard

Sonntag, 23. Dezember 2012

Nothing to satisfy

Total freedom is found in realizing that there is nothing to satisfy. And this realization is found in the flow of life itself.

Dainin Katagiri
We have to say something
Manifesting Zen Insight

Sonntag, 16. Dezember 2012

Logical validity is not a guarantee of truth

He remembered his last failed attempt to get sober and how he was no longer writing and asked himself what he had to lose. He came to understand that the key this time was modesty. “My best thinking got me here” was a recovery adage that hit home, or, as he translated it in “Infinite Jest,” “logical validity is not a guarantee of truth.” He knew it was imperative to abandon the sense of himself as the smartest person in the room, a person too smart to be like one of the people in the room, because he was one of the people in the room. “I try hard to listen and do what [they say],” he wrote Rich C., “I’m trying to do it easy … this time,” not “get an A+…. I just don’t have enough gas right now to do anything fast or well. I’m trying to accept this.”

Not that things came easily. The simple aphorisms of the program seemed ridiculous to him. And if he objected to them, someone inevitably told him to do what was in front of him to do, driving him even crazier. He was astonished to find people talking about “a higher power” without any evidence beyond their wish that there were one. They got down on their knees and said the Thankfulness prayer. Wallace tried once at Granada House, he told Costello, but it felt hypocritical. (All the same, Wallace liked to quote one of the veteran recovery members, the group known in “Infinite Jest” as “the crocodiles,” who told him, “It’s not about whether or not you believe, asshole, it’s about getting down and asking.”).

D.T. Max
Every Love Story is a Ghost Story: A Life of David Foster Wallace
Viking Penguin, New York 2012

Sonntag, 9. Dezember 2012

Umgang mit Borderline-Patienten

Ob ein Buch was taugt, merkt man häufig schon nach den ersten paar Seiten. Und Ewald Rahns Umgang mit Borderline-Patienten taugt was. Mehr: es ist ein wirklich gutes Buch. Das liegt einmal daran, dass der Autor (Arzt für Nervenheilkunde und Psychotherapeut) gut verständlich zu schreiben weiss. Und es liegt auch daran, dass er kompetent zu informieren versteht.

Bei der Borderline-Störung geht es vor allem um eines: um heftige Emotionen. Weshalb Bordis denn auch bei vielen Helfern ein ganz schlechtes Image haben Dass sie sehr schwierig und man sich vor ihnen hüten solle, ist so recht eigentlich noch das Harmloseste, was man über Bordis zu hören kriegt. Ewald Rahn sieht das etwas anders: "Weil auch Borderline-Patienten existenzielle Grundfragen aufwerfen und dem Helfer ein Entrinnen nicht gestatten, führt der Umgang mit Borderline-Patienten zu einem Lernprozess bei den Helfenden. Diese Erfahrung werden viele bestätigen können, die sich mit Borderline-Patienten auseinandergesetzt haben."

Übrigens: Die Borderline-Störung ist keine Modediagnose; die Störung gibt es schon lange, wurde jedoch früher eher als Form der Hysterie verstanden. Zudem leiden viele Bordis an einer Abhängigkeitserkrankung. Rahn nennt Sucht, Minderbegabung und Essstörungen und weist darauf hin, dass in der Hierarchie der Erkrankungen "die Suchterkrankung an erster Stelle steht, weil damit die grösseren Lebensrisiken verbunden sind." Und das meint: Es gilt zuallererst, die Sucht in den Griff zu kriegen. Gelingt dies, werden damit meines Erachtens auch ganz wesentliche Aspekte der Borderline-Erkrankung verschwinden beziehungsweise zu einem Stillstand gebracht werden.

Umgang mit Borderline-Patienten ist in der Reihe Basiswissen erschienen und "wendet sich vor allem an jene, die sich bislang noch nicht umfassend mit der Borderline-Störung befasst haben und die sich einen übersichtlichen Einblick in das Thema verschaffen wollen." Gefragt habe ich mich, was sich "umfassend mit der Borderline-Störung" befassen wohl heissen könnte, denn wirklich klar zu fassen beziehungsweise einzugrenzen ist diese Krankheit (wie übrigens auch alle anderen seelischen Krankheiten) ja nicht und deswegen (weil das eine uferlose Geschichte ist) ist eine "umfassende" Auseinandersetzung damit gar nicht möglich.

Ich will hier kurz auf den *Umgang mit der Diagnose" eingehen: Die Diagnose könne stigmatisieren und zur Festlegung auf bestimmte soziale Rollen führen, meint Rahn. Andrerseits suche der Betroffene aber eben auch nach Klarheit, von der er sich konkrete Bewältigungsmöglichkeiten erhoffe, die aber eben auch Ängste auslösen könne. Rahn empfiehlt, mit der Diagnose offen umzugehen. Das ist sicher sinnvoll, nicht zuletzt, weil die Borderline-Krankheit, all der Überlappungen mit anderen seelischen Störungen wegen, ja auch gar nicht eindeutig definiert werden kann. Ich selber finde die Stigmatisierung nicht wirklich problematisch (auf der sozialen Ebene geschieht vieles, was wir nur in geringem Ausmass beeinflussen können; wir können jedoch lernen, uns sozialen Zuschreibungen nicht widerstandslos auszuliefern) und auch, ob die Diagnose hundertprozentig stimmt (kann sie das überhaupt?), erachte ich nicht als so zentral. Wichtiger erscheint mir, konkretes Tun auszuhandeln und dann zu sehen, ob dieses hilft. Wenn nicht, versucht man es eben mit einem anderen Handeln. Konkret: Wenn jemand mit einer geringen Frustrationstoleranz geschlagen ist, ist unwesentlich, ob diese wegen einer Borderline-Störung oder einer Neurose besteht. Wichtig ist allein, dass man diese pragmatisch handelnd angeht.

Fazit: ein ausgesprochen nützliches Buch.
Besonders hilfreich fand ich die recht ausführlichen Fallbeispiele sowie den Abdruck des aufschlussreichen Dialogs, den  O.F. Kernberg im Jahre 2008 zum Thema Therapievereinbarungen veröffentlicht hat.

Ewald Rahn
Basiswissen: Umgang mit Borderline-Patienten
Psychiatrie-Verlag, Bonn 2011

Genesung bedeutet ...

Wir Alkoholiker sind gut beraten, physische und psychische Schmerzen als notwendig und unerlässlich für unser weiteres Wachstum – als Mittel eines letztlich doch guten Zweckes – zu akzeptieren als sie weiterhin als Defekt wahrzunehmen (...) Angelus Silesius nannte das Leiden ein Ross, das uns am schnellsten zur Vollkommenheit trägt. Genesung bedeutet, den Schmerz anzunehmen und durch ihn hindurchzugehen.

Jürgen Heckel
sich das Leben nehmen
Alkoholismus aus der Sicht eines Alkoholikers
A1 Verlag, München 2010

Sonntag, 2. Dezember 2012

Wie man sich ändern kann

Voraussetzung für Veränderungsprozesse ist die Bereitschaft, etwas ändern zu wollen. „The readiness is all“, sagt Horatio in Hamlet.

Was es zudem braucht, ist Motivation, entweder eine positive (ich will) oder eine negative (ich muss).
Nehmen wir das Erlernen einer Sprache. Manche sind von sich aus motiviert, sei es, dass sie die Sprache (der Ton, das kulturelle Umfeld etc.) begeistert, sei es, dass sie sie lernen müssen, um mit bestimmten Menschen verbal kommunizieren zu können. Anderen hingegen fehlt die Neugier, das Interesse, der Antrieb, sie müssen erst motiviert werden.

Wie motiviert man? Indem man Geschichten erzählt. Zum Beispiel diese hier von Saint-Exupéry: Stellen Sie sich eine Gruppe von Menschen an einem Fluss vor. Es gibt weder eine Brücke noch eine passierbare Stelle, um auf die andere Seite zu gelangen. Als einzige Möglichkeit bleibt, ein Boot zu bauen. Niemand aus der Gruppe hat bisher ein Boot gebaut, niemand weiss, wie das geht. Wie motiviert man nun eine solche Gruppe, ein Boot zu bauen? Indem man ihr Schritt für Schritt zeigt, wie ein Boot gebaut wird – das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist, der Gruppe so lange von der anderen Seite des Flusses vorzuschwärmen, dass sie sich schlussendlich von sich aus und ohne Anleitung an den Bootsbau macht. Ich ziehe die zweite Variante vor.

Die Geschichten, die man erzählt, brauchen keine positiven zu sein. Erzähle ich zum Beispiel von den Fehlern, die ich selber in anderen Kulturen gemacht habe, wird mir die grösstmögliche Aufmerksamkeit sicher sein, denn so blöd wie ich will schliesslich niemand sein.

Auch brauchen die Geschichten keinen konkreten praktischen Bezug zu einer konkreten Problemstellung zu haben. So kann ich zum Beispiel davon erzählen, dass Fotografien nichts anderes als perfekte Illusionen sind – alles ist bekanntlich im Fluss, unser Hirn produziert keine festen Bilder mit Rahmen, die Bilder in unserem Kopf gehen übergangslos ineinander über. Und was soll mir eine solche Erkenntnis nützen? Nun ja, trotz der Tatsache, dass es Fotos gar nicht geben kann, gibt es sie. Der Grund? Wir kreieren sie. Und glauben an sie. Genauso wie wir die Welt, in der wir leben, kreieren. Und an sie glauben. „Man is made by his belief. As he believes, so he is“, sagt die Bhagavad Gita. Jedenfalls teilweise. Und das meint: wir können diese (unsere) Welt auch anders gestalten.

Hans Durrer, 2012

Sonntag, 25. November 2012

Depression! Wie helfen?

Wer sich mit seelischen Krankheiten auseinandersetzt, wird mit der Zeit feststellen, dass viele Bücher sich nicht an die Direkt-Betroffenen, sondern an die Angehörigen richten. Ganz so, als ob Angehörige der Hilfe mehr bedürften als Direkt-Betroffene. Und das scheint in der Tat so, denn der Kranke, um überleben zu können, hat häufig (nein, nicht immer) gelernt, mit seiner Krankheit umzugehen. Jedenfalls mehr oder weniger. Das kann man von Angehörigen meist nicht sagen: sie sind schnell einmal überfordert, fühlen sich hilflos.

Dieses Buch wurde von zwei Betroffenen geschrieben (und hat schon deswegen meine Sympathie), dem früheren Unternehmer John B. Kummer, der lange Jahre immer wieder Opfer von Depressionen geworden und seit nunmehr 20 Jahren frei von Rückfällen ist sowie dem Sachbuch Autor Fritz Kamer, der durch mehrere Krankheitsfälle in seinem näheren und weiteren Umfeld mit der Problematik vertraut geworden ist.

Die Kernaussage des Buches lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Je mehr wir über die Krankheit Depression wissen (nur etwa die Hälfte der Depressionen werden überhaupt erkannt), desto besser werden wir mit ihr umgehen können. Das gilt sowohl für die an der Krankheit Leidenden als auch für ihre Angehörigen. Und natürlich gilt das auch für diejenigen, die Depressive behandeln.

Ganz entscheidend, so lerne ich, sei die Früherkennung. Dafür findet sich in diesem Buch eine Checkliste 'Innere Symptome der Depression'. Als Symptome finden sich da auf "der psychischen Seite Niedergeschlagenheit, Interesselosigkeit (auch auf sexuellem Gebiet), Antriebslosigkeit, Entscheidungsschwäche, Konzentrationsprobleme, Selbstanklagen, Minderwertigkeitsgefühle, Beschäftigung mit dem Tod (theoretisch oder gar praktisch), auf physischem Gebiet Schmerzen, besonders in Kopf und Bauch, deren Herkunft und Grund nicht auszumachen ist."

Kennzeichnend für den Depressiven (Frauen sind mit gemeint) ist die Überforderung: "Das Erfüllen von Erwartungen wird zum Lebensprinzip, die Überforderung wird zu einem Lebensmuster." Besonders hilfreich fand ich dies: "Was der Kranke uns sagt (wenn er überhaupt mit uns spricht), ist selten das, was er denkt. Wenn wir uns dessen bewusst sind, fällt uns der Umgang mit ihm leichter."

Was können Angehörige tun? Die Depression als Krankheit akzeptieren, sich  zurück halten mit gut gemeinten Ratschlägen, geduldig bleiben und sich nicht überfordern. Denn: "Es wäre von Grund auf falsch zu glauben, dass wir Angehörigen unsere lieben Depressionskranken heilen können. Alles, was wir tun können, ist ihnen (und uns) das Leben etwas erleichtern."

Immer mal wieder wird darauf hin gewiesen, dass Therapie und Medikation wichtig seien (die Ärztin Christine Rummel-Kluge schreibt: "Ziehen Sie einen Arzt zu Rate!"), ganz so, als ob die Therapie von Seelenerkrankungen eine wissenschaftliche Disziplin sei. Skeptisch bin ich auch über die Aussage, es bestehe "die achtzigprozentige Sicherheit, dass unser Partner, Vater, Frau. Tochter, Sohn, Freund wieder ganz gesund wird, mit dem Unterschied vielleicht, dass er oder sie das Leben anders anschaut und geniesst als vor der Krankheit." Anders gesagt: Man kann nicht wirklich wissen (beziehungsweise messen), ob eine Therapie bewirkt, was sie zu bewirken vorgibt..

Ich selber halte mehr von der Selbsthilfe der Betroffenen (und das schliesst die Angehörigen mit ein), weshalb mir denn auch diese Schilderung von John Kummer ganz besonders gut gefallen hat:
"Wir fuhren also los Richtung Klinik. Unterwegs wuchs meine Angst immer mehr, bis ich sagte: 'Du, das mit der Klinik ist ein Fehler, wir fahren zurück.' Im Nachhinein bewundere ich meine Frau in der damaligen Lage. Sie hatte das Steuer fest in der Hand, Entschlossenheit im Gesicht, Augen geradeaus und sagte nur das eine Wort aus zusammengepressten Lippen: 'Mitnichten.'
Das war dann auch das Ende meiner Schwellenangst und ich liess den Rest des Tages willenlos an mir vorbeiziehen. So schlimm war es dann auch wieder nicht. Allerdings war es auch wieder meine Frau, die mir nach vielen Wochen telefonisch riet: 'Du, sag dem Arzt, dass du nach Hause willst, denn was die dort mit dir machen, das können wir beide zuhause auch.' Das geschah dann auch so."

Fritz Kamer / John P. Kummer
Depression? Wie helfen?
Das Buch für Angehörige
Kösel-Verlag, München 2012

Sonntag, 18. November 2012

Borderline verstehen und bewältigen

 Dieser Ratgeber solle deutlich machen, schreibt Ewald Rahn im Vorwort, "dass die Auseinandersetzung mit der Diagnose nur ein Teil des Problems und der Problemlösung darstellt und dass vor allem dem subjektiven Erleben eine Schlüsselrolle zukommt." Wahre Worte! Denn es gilt ganz generell: Im Bereich der seelischen Störungen sind Definitionen und Zuordnungen oft recht willkürlich. Zudem sind im Falle von Borderline die Überlappungen mit Depression, Sucht, Neurose etc. derart, dass man sich ernsthaft fragen kann, ob es diese Krankheit überhaupt gibt. Die Antwort ist: Ja, es gibt sie, doch ihre Ausprägungen sind alles andere als einheitlich, sondern individuell ganz verschieden. Anders gesagt: den Boderliner gibt es nicht, es gibt nur Menschen, die mehr oder weniger unter der Borderline-Problematik leiden. Und nicht einmal das tun sie ständig, sondern häufig nur in bestimmten Situationen.

Auch wenn die "Borderline-Störung" ein noch junger Begriff ist, das Phänomen wurde bereits im 17. Jahrhundert beschrieben. So berichtete der  Arzt T. Sydenham von Menschen, "die durch ihre ausserordentliche 'Launenhaftigkeit' auffielen. Sie würden ohne jedes Mass jene lieben, die sie alsbald ohne jeden Grund hassen würden; die ausserordentlichen Aufregungen des Geistes dieser Kranken entstünden, so Sydenham, aus plötzlichen Ausbrüchen von Wut, Schmerz, Angst und ähnlichen Emotionen."

Verlaufsstudien zeigen, "dass viele Betroffene im Laufe ihres Lebens Selbstheilungskräfte entwickeln, die es ihnen ermöglichen, die Krankheitssymptome zu kompensieren und für sich Perspektiven zu finden."

Die Borderline-Störung, so Rahn, lasse keine radikale Lösung zu. "Sind die Erwartungen zu hoch, stellen sich sehr schnell Überforderungen ein und Enttäuschungen sind die Folge. Damit steigt das Leid sogar noch." Die Überwindung der Borderline-Störung solle deshalb in Stufen angegangen werden.

Welche Therapie für welchen Patienten günstig ist, lässt sich schwer sagen, doch kann eine Therapie "im Allgemeinen keine unmittelbare Veränderung der Lebensgestaltung bewirken". Vielmehr dient sie dazu, "die Möglichkeiten des Patienten zu erweitern, um die durch die Krankheit bedingten Symptome zu meistern."

Man ist in der Tat gut beraten, wenn man sich bei seelischen Störungen von einer Therapie nicht allzu viel erwartet, auch weil über das Innenleben des Menschen verbindliche Aussagen zu machen, der Subjektivität der Empfindungen wegen, schlicht nicht möglich ist. Genauso unmöglich ist übrigens, wissenschaftlich begründbare Aussagen über das Seelenleben zu machen. Wie schrieb doch Gerry Spence in "Half-Moon and Empty Stars": "He had learned that what most called knowledge was argument. Even the scientists couldn't agree on most things."

PS: Für mich besonders interessant an diesem gut geschriebenen und informativen Ratgeber waren unter anderem die Ausführungen zu Drogen und Alkohol: "Es ist sinnvoll, sich immer wieder die negativen Folgen des Konsums vor Augen zu führen. Auch der Gewinn an Lebensqualität und das Mehr an Genuss sollten immer wieder erinnert werden." Das ist ziemlich banal? Sicher, doch deswegen nicht falsch. Und überhaupt: Magische Formeln gibt es bei Seelenerkrankungen nun einmal nicht.

Ewald Rahn
Borderline verstehen und bewältigen
Balance buch & medien verlag, Bonn 2010

Sonntag, 11. November 2012

Addicted Medics

Thousands of doctors are continuing to treat patients while hiding their own problems with drink, drugs and depression because of a "culture of invincibility" among health professionals.

Each year hundreds of medics are treated for addiction and mental health issues, according to official statistics. But researchers investigating the issue say that this masks a much bigger problem, with thousands of doctors concealing their symptoms.

The extent of ill-health among doctors – often put down to burn-out caused by the high-pressure demands of their job – was highlighted in a General Medical Council report detailing 1,384 doctors who had been assessed for underlying health concerns over the past five years. Of these, 98 per cent were diagnosed with alcohol, substance misuse or mental health issues.

Some 544 doctors were found to have drink-related problems and 598 were diagnosed with mental conditions such as neuroses.

For more, see here

Sanchez Manning
The doctor battling drink and depression will see you now ...
The Independent on Sunday, 4 November 2012

Sonntag, 4. November 2012

Sigmund Freud

Freud als Graphic-Novel, was soll das bringen? Nun ja, eine etwas andere Sicht auf den Erfinder der Psychoanalyse zum Beispiel. Da die Graphic-Novel meist nicht besonders textlastig ist, müssen die Autoren dieses Genre die Fähigkeit haben, die Sachen auf den Punkt zu bringen, eine Gabe, die Corinne Maier, die Autorin von FREUD, zwar beherrscht, auch wenn sie gelegentlich übers Ziel hinausschiesst: ich jedenfalls finde es daneben, Freud als Frauenfeind zu charakterisieren.

Dass Freud der Liebling seiner Mutter war, habe ich bestimmt auch schon mal gelesen, doch dann offenbar wieder vergessen, bis ich jetzt bei dem simplen Satz: "Ich war der Liebling meiner Mutter" erneut darauf gestossen bin. Ich bin mir recht sicher, dass ich das nicht mehr vergessen werde.

Freud erforschte die Geschlechtsorgane der Aale, befasste sich mit Kokain, einer damals noch unbekannten Substanz, und lernte in Paris, dass Ärzte über Nervenkrankheiten so ziemlich gar nichts wissen. Er beschloss, auf diesem Gebiet aktiv zu werden.

Das Unbewusste schien Freud zentral. Über den Traum sagt er, dass dieser "der Königsweg zum Unbewussten" sei. "Die Schubladen bleiben während des Schlafs geöffnet und können während des Traums durchsucht werden."

Schizophren, verrückt, obsessiv, neurotisch, depressiv, paranoid, das sind für Freud nur Etiketten. Und überhaupt: normal ist niemand. Gibt es dann also gar nichts zu heilen? "Doch, es heisst weniger zu leiden und sich für das eine oder das andere entscheiden zu können."

Was Freud vor gut hundert Jahren erkannt hat, gilt auch heute noch: dass nämlich das Verlangen unterdrückt wird und es darum geht, dieses Verlangen zu befreien, und zwar mit viel Freud(e).

Fazit: Ein in der Verkürzung manchmal nicht unproblematisches Werk, das unterhält und Lust macht, sich wieder einmal etwas eingehender mit Freud zu befassen.

Corinne Maier - Anne Simon
FREUD
Knesebeck Verlag, München 2012

Sonntag, 28. Oktober 2012

Vom Umgang mit Alkoholikern

Im Vorwort zu Dirk R. Schwoons Umgang mit alkoholabhängigen Patienten findet sich dieser zentrale  Satz: "Es ist kein Verdienst, nicht alkoholkrank zu sein, sondern das Resultat günstiger Fügungen, Umstände und Entscheidungen."

Der Titel Umgang mit alkoholabhängigen Patienten ist insofern irreführend, als der Autor zwar durchaus Anregungen gibt, wie man sich auf die Arbeit mit Alkoholkranken vorbereiten kann/soll, doch der grösste Teil des Buches bietet ganz einfach vielfältige und nützliche Informationen zum Thema Alkoholsucht.

Kritisch anzumerken ist dies: 
Unter dem Titel "Veränderungsprozesse" schreibt er: "Das Tiefpunktmodell der Veränderung ist überholt. Es hat keine wissenschaftliche Grundlage und führt zu inhumanen Konsequenzen. Je früher das Alkoholproblem erkannt und behandelt wird, desto mehr Ressourcen, auf die man zurückgreifen kann, bleiben erhalten." Sicher, je früher man ein Alkoholproblem erkennt, desto besser. Und ja, das Tiefpunktmodell ist schon nicht wahnsinnig human, doch es funktioniert, nicht bei allen, doch bei einigen. Übrigens: die Anonymen Alkoholiker praktizieren dieses Modell und über den Erfolg von solchen Selbsthilfegruppen schreibt Schwoon an anderer Stelle: "Es lässt sich mit Fug und Recht annehmen, dass durch Selbsthilfegruppen insgesamt mehr Menschen ihre Alkoholprobleme überwunden haben als durch alle professionellen Behandlungsangebote zusammen."

. Was mich an Schwoons Argumentation ganz besonders stört, ist sein Glaube an die Wissenschaft, denn empirisch nachweisen lässt sich im Bereich von menschlichen Verhaltensänderungen so recht eigentlich gar nichts. Kein Mensch kann zum Beispiel sagen, weswegen jemand trocken wird. Und empirische Modelle können darüber schon gar keine Auskunft geben, denn wie will man denn Motivation eigentlich messen? Nehmen wir einen Alkoholiker, der nach einem Klinikaufenthalt nicht mehr säuft: Liegt es an den in der Klinik praktizierten therapeutischen Massnahmen? Liegt es daran, dass es in der Klinik mit anderen Alkis zusammen war und sich mit ihnen ausgetauscht hat? Liegt es daran, dass er vor dem Klinikaufenthalt bereits so stark motiviert war, mit dem Saufen aufzuhören, dass er es auch ohne Therapie geschafft hätte? etc. etc. All das lässt sich nicht messen und auch nicht wirklich wissen.

Was der Autor zu den Hintergründen von Rückfällen anmerkt, ist so wenig aussagekräftig, dass er es eigentlich hätte lassen können. "Rückfälle sind ein dynamisches Geschehen. Sie entwickeln sich prozesshaft über viele Vorläufer. Sie werden aktuell durch intrapersonelle und durch interpersonelle Faktoren ausgelöst."

Nicht schlecht gestaunt habe ich über die Aussage, dass "nur etwa 50% der Alkoholkranken Craving aus eigenem Erleben kennen, und auch diese beschreiben es nicht immer als entscheidenden Auslöser für ihre Rückfälle." Gefragt habe ich mich, ob Alkoholkranke wirklich wissen können, was der entscheidende Auslöser für ihren Rückfall gewesen ist.

Besonders angesprochen haben mich die gleichzeitig wohlwollenden und kritischen Ausführungen zum Stufenmodell von Prochaska und DiClemente (dieses Modell erlaubt es, nicht jeden Rückfall als ein grundsätzliches Scheitern aufzufassen; fraglich ist jedoch, ob es wirklich abgrenzbare Stadien gibt) sowie zum "Motivational Interviewing" von Miller und Rollnick, das davon ausgeht, "dass abhängigkeitskranke Menschen sehr wohl ihre eigenen Lösungsansätze entwickeln können, wenn sie ihre persönlichen Resourcen mobilisieren. Denn weder ihre lebensgeschichtlichen noch ihre krankheitsbedingten Erfahrungen müssen sie daran hindern, wieder selbst die Verantwortung für sich und ihr Handeln zu übernehmen." Dieses Buch liefert dazu hilfreiche Anregungen.

Dirk R. Schwoon
Basiswissen: Umgang mit alkoholabhängigen Patienten
Psychiatrie-Verlag, Bonn 2008

Sonntag, 21. Oktober 2012

Borderline verstehen

Das vorliegende Buch ist in zwei Teile gegliedert. Teil eins behandelt Transaktionsanalytisches Grundwissen in Bezug auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung, Teil zwei befasst sich mit Borderline verstehen - Schluss mit der Verantwortungsübernahme durch Partner und Bezugspersonen, womit so recht eigentlich fast alles darüber gesagt ist, was sich Angehörige von Bordis merken sollten.

Das Vorwort zu Teil zwei (die beiden Teile können unabhängig voneinander gelesen werden, genau besehen handelt es nämlich um zwei Bücher) lässt die Leser wissen, dass die Autorin "selbst in einem von Borderline geprägten System, beeinflusst von perverser Kommunikation und ebensolchen Interaktionen aufgewachsen" ist. Sie weiss also aus eigener Erfahrung und nicht nur aus Büchern, wovon sie schreibt. Das bewahrt sie jedoch nicht davor, gelegentlich in reine Spekulation abzudriften. So sieht sie etwa einen "fast logischen Zusammenhang" zwischen dem "unnatürlichen Umgang mit unseren Säuglingen und der Ausprägung einer Borderline-Störung". Ja, sie geht so weit zu behaupten: "Nur wenn das Kind auch tatsächlich seine symbiotische Verbundenheit mit der Mutter ausleben kann, hat es eine Chance auf eine ungestörte Entwicklung. Nur im permanenten Körperkontakt, so wie er in nicht zivilisierten Völkern, wie bei den Yequana-Indianern Venezuelas oder bei den Papua Neuseelands zwischen Mutter und Kind selbstverständlich ist, kann sich das Gehirn des Kindes störungsfrei entwickeln." Nachprüfbar sind diese Behauptungen nicht, denn das Buch liefert keine Quellenangaben, zudem leben die Papua nicht in Neuseeland, sondern in Papua Neuguinea.

Manuela Rösel sieht die Ursachen der Borderline-Störung ausschliesslich auf der sozialen Ebene und ortet die Ursachen in der frühkindlichen Entwicklung. Das ist nicht zuletzt deswegen problematisch, weil man dabei auf Erinnerungen angewiesen ist und die können bekanntlich täuschen. Und überhaupt: Wer kann schon immer mit Sicherheit sagen, was Ursache und was Wirkung ist? Gut möglich ist überdies, dass die Wichtigkeit, die der frühkindlichen Entwicklung in den letzten Jahren zugemessen worden ist, vielleicht überschätzt und künftig ganz anders bewertet werden wird.

Frau Rösel führt zwar neurobiologische Forschungen an, etwa der verkleinerte Hippocampus bei Menschen, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden oder das Zusammenspiel der Neurotransmitter (Dopamin, das Belohnungs- und Glückshormon, wird bei Bordis nur unzureichend ausgeschüttet), kommt dann aber zu diesem erstaunlichen Schluss: "Die Borderline-Forschung sucht akribisch weiter nach genetischen Voraussetzungen. Anthropologische Forschungsarbeiten deuten aber zweifelsfrei darauf hin, dass diese, sollten sie auffindbar sein, wohl ausschliesslich in den zivilisierten Ländern eine Rolle spielen. Persönlichkeitsstörungen, wie Borderline, existieren in nicht zivilisierten Gesellschaftsformen, in denen Kinder die symbiotische Verschmelzung mit der Mutter natürlich ausleben, nicht." Eine abenteurliche Logik: Was auch immer diese Forschungen ergeben werden, die Antwort kennen wir bereits. Zudem: Auch hier finden sich keine Quellenbelege.

Der transaktionsanalytische Ansatz, den Frau Rösel für Borderline-Störungen propagiert, geht auf Eric Berne zurück. Dieser beschrieb die Spiele, die die Erwachsenen spielen, und an denen sich die Autorin orientiert, "dabei aber eine eigene Identifikationsstruktur und zum Teil auch andere Spielbezeichnungen verwendet". Das ist auch deswegen ein guter Ansatz, weil Bordis ganz ausgeprägt zum Spielen neigen, finden sie doch darin den so dringend benötigten Halt. Voraussetzung um aus diesen oft destruktiven Spielen auszusteigen, ist die Lebensanschauung: Ich bin o.k. - Du bist o.k. Zudem gilt: "Solange der Betroffene aber nicht bereit ist, den eigenen Leidensdruck zu akzeptieren und sich dem Risiko auszusetzen, Verantwortung dafür zu übernehmen, ist jede Unterstützung vergeblich."

Nützlich sind auch die praktischen Hinweise, wie sich Angehörige bei typischen Borderline-Verhaltensweisen (ständige Verfügbarkeit, abrupte Kontaktabbrüche, Realitätsverzerrungen, niedere Frustrationstoleranz etc.) verhalten sollen.

Manuela Rösel glaubt nicht, dass Borderline heilbar ist. Doch: "Wenn Betroffene die unglaubliche Kraft und Energie, die sie zur Kompensation ihrer Störung nutzen, für deren Überwindung einsetzen würden, könnten sie sich durchaus eine gute Lebensqualität erarbeiten." Genau so ist es!

Manuela Rösel
Borderline verstehen
Starks-Sture Verlag, München 2012

Sonntag, 14. Oktober 2012

Schluss mit dem Eiertanz

Was Borderliner und ihre Angehörigen lernen müssen, so Larry J. Siever im Vorwort, sei, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. "Für beide Parteien gilt: Einzig die Übernahme von Verantwortung für das eigene Verhalten als Erwachsener eröffnet die Chance zu authentischer Veränderung, unabhängig von der Lebensgeschichte." Das klingt einfacher als es ist (man lese M. Scott Pecks The Road Less Travelled), doch es ist notwendig.

"Wie verhält man sich als Angehöriger eines Borderline-Betroffenen richtig?", fragt der Klappentext und antwortet wie folgt: "Der Angehörige ist nicht der Therapeut des Borderliners. Dies ist nicht die Aufgabe des Angehörigen. Man präge sich folgende Grundsätze ein:
- Ich bin nicht die Ursache der Störung
- Ich kann die Störung nicht kontrollieren
- Ich kann die Störung nicht heilen
- Ich lasse den Borderliner in Ruhe
- Ich lebe mein eigenes Leben"

Anders gesagt: haltet Euch raus, lasst die Spezialisten machen. Nun ja, das würde voraussetzen, dass die Spezialisten wissen, was zu tun ist, und da habe ich so meine Zweifel. Und die beiden Autoren sehen das offenbar auch so, sonst könnten sie kaum Sätze schreiben wie diesen: "Wurde der Borderliner bereits von mehreren psychologischen Profis betreut, ist es durchaus möglich, dass jeder eine abweichende Diagnose gestellt hat."

Es gelte, so lerne ich, wenn es zu einer Aussprache mit einem Borderliner komme, immer diese Worte von John M. Grohol  im Hinterkopf zu behalten: "Man kann niemanden zwingen, sein Verhalten zu ändern. Schliesslich handelt es sich für die Person, die an der Störung leidet, nicht nur um 'Verhaltensweisen' – es sind Bewältigungsstrategien, auf die sie sich zeitlebens gestützt hat."

Man kann es nicht genug betonen – und ist froh, dass dieses Buch es auch tut: Wer unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet, ist nicht mit ihr identisch. Wichtig ist auch dies: Borderliner denken und fühlen nicht wie andere. "Um das Verhalten von Borderlinern verstehen zu können, muss man aus der eigenen komfortablen Welt heraustreten und die Reise in die Welt der Borderliner antreten. Dies gilt umso mehr, als ja auch von den Borderlinern erwartet wird, sich in der Welt des Angehörigen zu bewegen."

Boderliner leiden an der Welt. "Beherrscht von der Angst vor dem Verlassenwerden, können sie überkritisch sein und so schnell in Wut geraten, dass andere schliesslich den Plan fassen, sie zu verlassen. Da der Borderliner nicht imstande ist, sich den Ursachen seines Schmerzes zu stellen, weil sein Selbstbild darunter leiden würde, gibt er anderen die Schuld und schlüpft selbst in die Rolle des Opfers." Ist der Borderliner wirklich nicht imstande, sich den Ursachen seines Schmerzes zu stellen? Einige sind es zweifellos und dürfen deswegen auch berechtigte Hoffnung auf Besserung haben.

Verdrängung, wird eine Borderlinerin zitiert, sei eine Bewältigungsstrategie, die helfe, Schmerz und Angst unter Kontrolle zu halten. Das gilt nicht nur für Borderliner, will man da sofort hinzufügen, nur ist eben das Ausmass an Schmerz und Angst, unter dem ein Borderliner leidet, wesentlich grösser als dasjenige eines 'Normalos' "Bitte, bitte, bitte nehmt den Borderlinern, die noch nicht so weit sind, sich dem schwarzen Loch in ihrem Innern zu stellen, nicht die Verdrängung. Vielleicht hält nur sie uns am Leben." Doch warum fällt es den Borderlinern so schwer, sich zu stellen? Ist die Angst wirklich so überwältigend, dass man sie nicht direkt angehen kann? Und falls ja, wieso? Die beiden Autoren erklären es so: "Man stelle sich vor, man fühle sich völlig leer, als habe man praktisch kein eigenes Ich. Und nun soll man auch noch zugeben, mit dem Wenigen, das man als eigenes Ich identifizieren kann, stimme etwas nicht. Für viele Menschen mit Borderline ist dies, als hörten sie auf zu existieren – für jeden ein entsetzliches Gefühl. Um dies zu vermeiden, greifen Borderliner oft zu einem wirkungsvollen, weit verbreiteten Abwehrmechanismus: der Verdrängung. Sie behaupten, mit ihnen sei alles in Ordnung, trotz deutlicher Hinweise auf das Gegenteil. Sie sind eher bereit, den Verlust wichtiger Dinge oder Menschen hinzunehmen – ihrer Arbeit, von Freunden und Familie – als sich selbst zu verlieren. Übrigens: wer dies begreift, wird den Mut von Borderlinern zu schätzen wissen, die sich Hilfe suchen."

"Schluss mit dem Eiertanz" ist voll solcher nützlicher und hilfreicher Erläuterungen und sei hiermit wärmstens empfohlen. Auch wegen dieser Empfehlung, die sich nicht nur an Angehörige von Borderlinern, sondern so recht eigentlich auch an Borderliner selbst richtet: "Die Welt bleibt nicht stehen, wenn ein Angehöriger ein wenig Zeit für sich braucht und sich diese auch nimmt. Ja, er wird sogar erfrischt und gestärkt zurückkehren."

Paul T. Mason / Randi Kreger
Schluss mit dem Eiertanz
Für Angehörige von Menschen mit Borderline
Balance Ratgeber
BALANCE buch & medien verlag, Bonn 2010

Sonntag, 7. Oktober 2012

Vom Finden des Glücks

Ich schwankte in der Tat nie in der Überzeugung, dass Glück der Prüfstein aller Verhaltensregeln und der Endzweck des Lebens sei, aber jetzt dachte ich, dieser Zweck lasse sich nur erreichen, wenn man ihn nicht zum unmittelbaren Ziel mache. Bloss diejenigen sind glücklich, dachte ich, welche ihren Sinn auf irgendetwas anderes als auf das eigene Glück gesetzt haben - auf das Glück anderer, zum Beispiel auf die Veredelung der Menschheit, ja sogar auf irgendeine Kunst oder Beschäftigung, welche als ein ideales Ziel, nicht als Mittel zum Zeck, sondern um ihrer selbst willen erstrebt wird. Während man nach etwas anderem zielt, findet man das Glück unterwegs.

John Stuart Mill: Selbstbiografie

Sonntag, 30. September 2012

Fallen lassen

1995 zeigte die österreichische Schriftstellerin Brigitte Schwaiger zum ersten Mal einer psychiatrischen Krankenschwester ihre sich selbst zugefügten Hautverletzungen. "Sie hätte das Wort "Borderline-Syndrom" aussprechen müssen, dann wäre ich nicht noch jahrelang wegen endogener Depression behandelt worden. Ein Borderliner kann depressiv sein, kann entsprechende Medikamente schlucken, doch erfordert das Borderline-Syndrom, die Borderline-Persönlichkeitsstörung eine Spezialbehandlung."

Zwei Jahre später, 1997, suchte sie einen Psychiater auf. Sie hörte Stimmen. "Ein ganzes Konzert war es einmal, so wie ich in Träumen manchmal von einem Abgrund in den anderen falle." Ende 2001 fühlte sie sich dann "so kaputt vom vielen Nachgrübeln über mein unglückliches Leben, dass ich mich, es war der 19. Jänner 2002, auf die Baumgartner Höhe einliefern liess." Ihre Freunde besuchen sie dort nicht. "Es kommt ja niemand zu dir, wenn du psychisch krank bist. Allen erscheinst du fad. Du hast immer Depressionen, du lachst nie ...".

"Fallen lassen" ist eine beklemmende Lektüre und dabei voll von Sätzen, die ich mir angestrichen habe, weil ich sie auf die eine oder andere Art bemerkenswert fand."Sie raucht fast pausenlos, es rauchen fast alle psychisch Kranken eigentlich fast pausenlos ...". Eigenartig, wie kommt das nur? Geben Zigaretten einem Halt? "Man hat ja, wenn man ausser Borderline auch angstkrank ist, oft Angst." Und da hatte ich doch bisher immer gedacht, Angst sei ein Teil der Borderline-Krankheit; offenbar nicht nur, es kann das auch eine eigene Krankheit sein.

Borderliner sind extrem sensible Menschen, sie haben ein ganz aussergewöhnliches Sensorium für die Stimmungslagen anderer Menschen und sind so recht eigentlich geradezu dafür geschaffen, anderen zu helfen. Bedauerlicherweise werden sie dabei häufig ausgenutzt. "Warum hat er nicht den psychosozialen Dienst angerufen? Warum die alte Brigitte Schwaiger, die immer da war, wenn man sie brauchte, der man alle Sorgen erzählen konnte, und die gemieden wurde, wenn die Sorgenkinder eine gute Zeit hatten. Erfolge etc. und erst wieder, wenn eine Ehe geschieden war, traten sie wieder an und ein. Dann durfte ich Partnerberatung spielen, ohne Honorar natürlich, und der Dank war, dass die jeweiligen Partnerinnen dann auf mich eifersüchtig waren ...".

Borderliner, da sind sich viele, die sich eingehend mit diesem Phänomen auseinandergesetzt haben, einig, brauchen eine Spezialbehandlung. Und auch wenn nicht wirklich klar ist, wie eine solche auszusehen hat, die Patienten-Durchmischung in psychiatrischen Kliniken (wohl aus ökonomischen Gründen) ist alles andere als ideal. "Was habe ich gemein mit einem Heroinsüchtigen, damit meine ich, dass seine Welt mir fremd und meine ihm, dass Gedankenaustausch kaum möglich ist, dass es keine Gesprächsebene gibt, und was habe ich gemein mit einem Patienten, der wegen Panikattacken hier ist, bei dem aber keine Selbstmordproblematik vorliegt?" Und, an anderer Stelle: "Der Selbstschädiger soll nicht mit jemanden, der gern andere schädigt, beisammensein müssen."

"Wenn es einmal für einen Menschen keine Schande mehr ist, dass er in psychiatrischer Behandlung war, kann man vernünftig über vieles sprechen." Brigitte Schwaiger, indem sie sich ge-outet hat, differenziert und klug, hat ihren Teil dazu beigetragen, damit wir über Borderline und psychiatrische Behandlung vernünftig reden können.

Brigitte Schwaiger
Fallen lassen
Czernin Verlag, Wien 2006

Sonntag, 23. September 2012

Gunderson: Borderline

"Dieses Buch handelt von der klinischen Versorgung von Patienten mit Borderline Persönlichkeitsstörung. Es erhebt Anspruch auf Vollständigkeit und sollte alle anerkannten Therapien umfassen", schreibt Gunderson in der Einleitung. Und: "Patienten mit Borderline Persönlichkeitsstörung sind selten untherapierbar, doch um sie erfolgreich zu behandeln, werden Therapeuten gebraucht, die Spezialwissen und besonderes Training haben." Mit anderen Worten: ist der Therapeut besonders qualifiziert und anerkannt ("Es ist mir gelungen, viele Jahre als anerkannter Therapeut mit Borderline-Patienten zu arbeiten ..."), wird es nicht nur zu positiven Veränderungen, "die weitgehend die dysphorische Stimmungslage dieser Menschen verbessern und ihr Sozialleben begünstigen", sondern auch dazu kommen, "dass die Angehörigen der Patienten, aber auch die Therapeuten sowie die Kosten des Gesundheitswesens entlastet werden, die sonst noch wesentlich höher ausfallen würden." Ich habe da so meine Zweifel, denn bei der Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS) handelt es sich wesentlich um ein seelisches Leiden und ob da Therapie messbare Resultate zeigen kann, ist zumindest fraglich. Wer kann schon wirklich wissen, ob allfällige Verbesserungen der Therapie geschuldet sind oder ob sie nicht auch sonst eingetreten wären?

"Um die nötigen Qualifikationen zu erwerben, sind im Allgemeinen zwei bis drei Jahre relativ umfassender, vorzugsweise unterschiedlichster Kontakte nötig, wie sich etwa bei einer Tätigkeit in stationären oder Wohneinrichtungen ergeben." Sicher, eine solche Ausbildung schadet nicht, doch garantiert sie auch Behandlungserfolg? Gunderson bringt es auf den Punkt, wenn er festhält: "Viele Therapeuten sind nicht gut im Umgang mit BPS-Patienten. Vielleicht ist also der Erfolg von Kernberg und Linehan bei Borderline-Patienten weder ihrer theoretischen Ausrichtung noch ihrer Ausbildung zuzuschreiben." Woran also dann? "Möglicherweise liegt das Geheimnis in den abschätzig als nicht-spezifisch bezeichneten Komponenten ihres Angebots. Kernberg und Linehan haben gleichermassen charismatische Ausstrahlung. Sie haben Autorität: Sie verkörpern Zuversicht, Klarheit, Kraft und Sicherheit."

"Aufmerksam, herausfordernd und eingehend" sind gemäss Gunderson die Qualitäten, die gute Borderline-Therapeuten mitbringen müssen. Dass diese nicht einfach so gelernt werden können, versteht sich von selbst.

Dieses Buch gibt umfassend Auskunft zum aktuellen Forschungs- und Behandlungsstand, lässt einen der Verlag wissen. Der Autor führt unter anderem aus, wie man zu einer sicheren Diagnose kommt, erläutert, welche Therapiemöglichkeiten es gibt und diskutiert allgemeine Erwägungen zur Therapie, zum therapeutischen Umfeld und zur Interaktion zwischen Patient und Behandelnden. Zudem finden sich in dem Buch zahlreiche Tabellen, Abbildungen und Fallvignetten.

Gunderson schliesst sein Werk mit der Hoffnung, dass die Tragödien und das Veränderungspotential der Borderline-Patienten "Eingang finden in das Denken der breiteren Gesellschaft, von der die Gemeinschaft derer, die in der psychiatrischen Versorgung arbeiten, nur ein kleiner Teil ist." Dabei weiss er: "... letzten Endes ist dieses Ziel nur durch die Hilfsappelle zu erreichen, die von diesen Patienten, zu ihrem eigenen Vorteil, weiterhin ausgehen werden." Leider ist das nicht die einzige holprige Formulierung in diesem ansonsten empfehlenswerten Buch.

John G. Gunderson
Borderline
Diagnostik, Therapie, Forschung
Verlag Hans Huber, Bern 2005

Sonntag, 16. September 2012

Erschöpfung und Depression

Der Mediziner Michael Spitzbart misstraut der herkömmlichen Medizin schon lange. "Sosehr diese Medizin Lorbeeren bei der Behandlung akuter Krankheiten einheimst, sosehr versagt sie bei der Therapie chronischer Leiden ... Nehmen Sie einem Hautarzt beispielsweise die Cortisonsalbe weg, ist er um die Hälfte seiner Therapiemöglichkeiten beraubt. Und, schwupps, das Ekzem ist wieder da." Woran liegt's? Am System, meint Spitzbart, denn dieses behandle das Symptom und nicht die Ursache.

Wahnsinnig originell ist dieser Ansatz zwar nicht, zudem setzt er voraus, dass Ursache und Symptom eindeutig zugeordnet werden können und das ist bei seelischen Leiden einigermassen fragwürdig. Gemäss Dr. med. Spitzbart steckt hinter Depression und Burnout oft ein gestörter Hormonstoffwechsel. "Doch: Wenn man das Blut nicht untersucht, kann man die Ursache für das Problem nicht finden. Und genau darauf habe ich mich in meiner Praxis spezialisiert: Der richtige Bluttest bringt Klarheit, die Substitution fehlender gehirnaktiver Eiweissbausteine schnelle Besserung. Was allerdings nicht heisst, dass das Leben dann wie eh und je weiterläuft. Bitte nicht! Jeder Betroffene sollte sich fragen: Warum ist es soweit gekommen? Wo liegt der Hund begraben? ...".

Alles klar also: bei Depression und Burnout zum Bluttest in die Praxis Dr. med. Spitzbart! Zugegeben, mich stört diese unverholene Selbstanpreisung, andrerseits spricht ja noch nicht unbedingt gegen den Mann, dass er ehrlich sagt, worum's ihm letztlich geht,

"Wenn die Hormone im Gehirn verrückt spielen, können Sie sich auf die Couch legen, so lange Sie wollen", bringt Spitzbart seinen Ansatz auf den Punkt: "Keine Biographie ist lupenrein und ohne Trauma verlaufen. Und angenommen, man findet eine scheinbare Ursache für ein späteres Unbehagen heraus: Geht es Ihnen dann besser, nur weil Sie jetzt die Ursache kennen? Sie sind weiterhin unglücklich, nur akademisch auf einem leicht höheren Niveau."

Als Gründe, die das Ausbrennen begünstigen, nennt Spitzbart sechs. Als da sind: Existenzängste, die ständige Erreichbarkeit, das Multi-Duty-Life, das Leistungsstreben, stressige Chefs, Depersonalisierung. Will Dr. Spitzbart vielleicht den modernen Kapitalismus abschaffen? Nicht doch, er propagiert die Spitzbart-Methode und die besteht darin, die Hormonproduktion anzuregen, und zwar die eigene, keine künstliche von aussen. Wenig überraschend kommen dann auch Patienten zu Wort, die sich über ihren Burnout und ihre Genesung äussern.

PS: Der Titel ist übrigens irreführend, denn über Depression erfährt man in diesem Buch praktisch nichts.

Dr. med. Michael Spitzbart
Erschöpfung und Depression:
Wenn die Hormone verrückt spielen
Kösel-Verlag, München 2012

Sonntag, 9. September 2012

Borderline - die andere Art zu fühlen

Es gibt Bücher, bei denen merkt man schon bei den ersten paar Sätzen ("Bei der Recherche im Internet zum Thema Borderline und Beziehung mussten wir mit Entsetzen feststellen, wie viele Artikel, Ratgeber und chat-rooms die Menschen, die mit dieser Diagnose leben müssen, diskriminieren und völlig realitätsfremd darstellen .... Ratschläge wie Finger weg, bloss nicht auf solche Menschen einlassen oder gar verlassen Sie einen Borderliner nie ohne Polizeischutz, haben uns motiviert, unsere Erfahrungen einerseits und den wissenschaftlichen Hintergrund andererseits in einem Buch zusammenzufassen."), dass man sie mögen wird – und auch sofort weiterempfehlen will. Borderline - die andere Art zu fühlen von Alice und Martina Sendera ist so ein Buch. So recht eigentlich schon des 'wertfreien' Titels wegen. Und auch des schön blühenden Kaktus auf dem Umschlag wegen: "Der Kaktus symbolisiert das charakteristische Verhalten von Abwehrbereitschaft und Angst durch andere verletzt und enttäuscht zu werden, die Blüte die Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit, Schönheit und Liebe, aber auch die Anziehungskraft, die Borderline-Menschen oft auf andere ausüben." Wie Sonja K. Sutor so treffend schreibt: "... vielleicht können Sie dem Kaktus zeigen, dass er auf seine Stacheln verzichten kann, wenn Sie bei ihm sind. Vielleicht können Sie selbst lernen, die Stacheln schon im Vorhinein zu sehen und aufzupassen, sich nicht zu verletzen ...".

Doch was ist eigentlich Borderline? In erster Linie eine Emotionsregulations-Störung. Borderliner leiden unter extremen Spannungsgefühlen; ihre emotionale Sensitivität ist angeboren, doch trägt das soziale Umfeld entscheidend zur Borderline-Störung bei.

Verschiedene Konzepte zur Borderline-Pathologie werden in diesem Werk vorgestellt. Besonders eingeleuchtet hat mir das Modell von Marsha Linehan: Borderliner haben häufig als Kinder traumatische Erfahrungen gemacht, auf ihre Gefühlsäusserungen ist nicht angemessen reagiert worden, weswegen diese Kinder nicht gelernt haben, eigene Erfahrungen und Gefühle adäquat zuzuordnen und keine effektive Emotionsregulationsfähigkeit entwickeln. Das zeigt sich etwa in unangemessenen, starken Wutausbrüchen, Impulsivität, affektiver Instabilität, Hochstress, Selbstverletzung oder einem "Muster von instabilen und intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen, das sich durch einen Wechsel zwischen extremer Idealisierung und Abwertung auszeichnet."

Als Borderline-Grundgefühle gelten Wut (Otto Kernberg), Scham und Schuld (Marsha Linehan), die Borderline-Angst (Sven-Olaf Hoffmann) und die Leere. Diese Gefühle sind nicht nur rascher und intensiver vorhanden als bei Normalos, sie entziehen sich – im Hochstress und bei grosser Nähe – auch der kognitiven Kontrolle. "Viele Übungen aus dem Skills-Training zielen darauf ab, neue Wege zu trainieren, um diesem Kreislauf zu entkommen. Das heisst auch im neurobiologischen Sinn, dass das Bahnen neuer Wege möglich ist, die bereits erfolgten neuronalen Bahnungen und Inhalte jedoch löschungsresistent sind ...".

Ist Borderline heilbar? Nach Auffassung von Alice und Martina Sendera sind "die typischen Verhaltensweisen und Reaktionen therapierbar und veränderbar", doch wird "eine gewisse emotionale Vulnerabilität" wohl lebenslang bestehen bleiben. Steuern können Borderlines "durch das Erlernen von bewertungsfreiem Wahrnehmen, Beschreiben und Erkennen von Primärgefühlen und der Verinnerlichung des Leitsatzes Ich bin nicht mein Gefühl." Ich finde diesen Leitsatz wunderbar hilfreich – und nicht nur für Borderliner – , doch wie bewertungsfreies Wahrnehmen (ein derart hochgestecktes Ziel lädt geradezu zum Scheitern ein) gehen soll, ist mir schleierhaft. So recht eigentlich bewertet der Mensch doch immer, bewusst und unbewusst, und ich kann daran auch gar nichts Problematisches erkennen – sofern man dieser Wertung nicht eine übertriebene Bedeutung gibt.

Borderline - die andere Art zu fühlen ist ein unbedingt empfehlenswertes Buch. Verständlich geschrieben, aufklärend, erhellend, mit vielen Beispielen, Übungen und Anregungen. Und vor allem: die Autorinnen verstehen, Mut zu machen: "... finden wir viele ermutigende und positive Eigenschaften, die Fähigkeit zur Leidenschaft, Offenheit, ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, ein gutes Gespür für zwischenmenschliche und emotionale Prozesse machen den Borderline-Menschen zu einem Partner, der facettenreich ist und den man nicht missen möchte."

Alice Sendera / Martina Sendera
Borderline – die andere Art zu fühlen
Beziehungen verstehen und leben
SpringerWienNewYork, Wien 2010

Sonntag, 2. September 2012

Erfahren & Denken

Zuerst das Geständnis, dass Denken mir nichts bringt. Ich bin auf Erfahrung angewiesen. Leider. Erfahren geht ja viel langsamer als denken. Denken kann man schnell. Denken geht leicht. Denken ist keine Kunst. Denken ist grossartig. Durch Denken wird man Herr über Bedingungen, unter denen man sonst litte. All das ist Erfahren nicht ... Erfahrungen sind nicht so leicht beherrschbar wie das Denken, Durch Denken herrscht man ja selber. Erfahrungen ist man eher ausgeliefert. Aber sie aufzeichnen hilft. Das ist auch eine Erfahrung.

Martin Walser: Tod eines Kritikers

Sonntag, 26. August 2012

Wenn lieben weh tut

"Ein Kommunikations-Ratgeber für Partner in der Borderline-Beziehung" präzisiert der Untertitel, worin es in diesem Buch geht. Im Vorwort wird es dann noch etwas genauer: "Die Voraussetzung für die Beziehung zu einem Menschen, der an der Borderline-Symptomatik leidet, ist also in erster Linie die Fähigkeit sich selbst zu lieben, sich und andere bewusst wahrnehmen zu können und diese Fähigkeiten so einsetzen zu können, dass sie verbindend wirken."

Die Liebe, schreibt die Autorin, sei womöglich "das zentrale Thema in der Borderline-Problematik" – ein überzeugender Ansatz, wie ich finde – , zitiert dann einige bekannte Namen und deren Idealvorstellungen von Liebe und kommt zum "scheinbaren" Schluss, dass Borderline-Persönlichkeiten "tatsächlich nicht in der Lage sind zu lieben". Nicht nur Borderline-Persönlichkeiten, ist man da versucht hinzuzufügen.

Doch lieben kann man lernen, meint Manuela Rösel, und bleibt in Ihren diesbezüglichen Ausführungen auch durchaus realistisch. Überzeugender (weil pragmatischer) fand ich jedoch ihre Forderung, dass Partner von Bordis "bewusste, verständige und auch konsequente Stabilität" aufbringen müssen.

Im Kapitel über Kommunikation fehlt natürlich der Hinweis auf Watzlawick nicht, der behauptet hat, dass man immer kommuniziere, man also nicht nicht kommunizieren könne. So zutreffend das sein mag, hilfreich ist dieses Wissen nicht wirklich. Sinnvoller wäre, sich eines Begriffs von Kommunikation zu bedienen, der sich an bewusst intendierter Kommunikation orientiert.

Mit dem Modell der Gewaltfreien Kommunikation nach M.B. Rosenberg befasst sich die Autorin ausführlich, wobei sie u.a festhält, "dass ich für das, was ich fühle, selbst verantwortlich bin." Das ist ein ziemlicher Unsinn, denn für meine Gefühle kann ich nichts. Wie ich auf sie reagiere, dafür bin ich verantwortlich, das kann ich auch beeinflussen und steuern.

Für Borderliner kann ganz plötzlich und ohne äusseren Anlass "ein Gefühl präsent sein, welches sich für ihn keiner Situation zuordnen lässt. Urplötzlich entstehen daraus Panik, Angst, Hilflosigkeit oder Wut, da es keine Chance für den Betroffenen gibt, dieses Gefühl einer konkreten Situation zuzuordnen. Wenn dieser Zusammenhang nicht erkennbar ist, kann auch keine Handlungsorientierung erfolgen, d.h. der Betroffene ist seinen Gefühlen völlig hilflos ausgeliefert. Es sei denn ... er schafft sich eine Realität, die zu seinem Gefühl passt. Somit erhält er die Möglichkeit, sich Orientierung und so eben auch Handlungsfähigkeit zu schaffen." Mit anderen Worten: Borderliner und Partner befinden sich hinsichtlich ihrer Realitätswahrnehmung und ihres emotionalen Erlebens auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen. Die verzerrte Wahrnehmung des Borderliners ist eine Selbsthilfestrategie, "die ausschliesslich der emotionalen Orientierung dient und nicht der bewussten Schädigung des Partners."

So recht eigentlich sind das "good news", macht es doch klar, dass in der Begegnung mit Borderlinern eine grosse Chance liegt. "Die Chance der schonungslosen Selbstwahrnehmung und Auseinandersetzung mit eigenen Werten und Bedürfnissen."

Manuela Rösel
Wenn lieben weh tut
Starks-Sture Verlag, München 2012
www.starks-sture-verlag.de

Sonntag, 19. August 2012

Free for love

If we learn to accept our imperfection with humor, as the reflection of our very humanity, we will experience humility and tolerance, we will understand that we are already filled with forgiveness, we will see the gift of our lives, the chains will fall away, and we will be free - free not so much from fear or 'dependence,' but free for love, for life itself.

Ernest Kurtz & Katherine Ketcham
The Spirituality of Imperfection

Sonntag, 12. August 2012

Von der Liebe

Alles ausser der Liebe ist überbewertet.
Sie ist das Einzige, das die Menschheit vor dem Untergang bewahren kann. Denn wer liebt, will, dass es dem Geliebten gut geht, dass es dem Kind gut geht, der Familie oder dem Freund.

Sybille Berg

Sonntag, 5. August 2012

Codependence & Love

The message of all spirituality is that, in some mysterious way, we are all one - that therefore the joy and the sorrow of any one of us is the joy and the sorrow of all of us. Recognizing and living that reality is not 'codependence': it is love.

Ernest Kurtz & Katherine Ketcham
The Spirituality of Imperfection

Sonntag, 29. Juli 2012

Sich annehmen

Sich annehmen –
Das Schwierigste von der Welt, sich als das zu nehmen, was man ist –
und nicht zu verachten, was man ist. Sich dareinfinden, dass man sterblich ist – – und unwissend – – sich ehrlich mit dem abfinden, was sich durch keinerlei Handlungen ändern lässt – vorbehaltlich derer, die man noch entdecken könnte und die es ändern würden.

Paul Valéry

Sonntag, 22. Juli 2012

Über Borderline

Jerold J. Kreismans und Hal Straus' "Ich hasse dich - verlass mich nicht: Die schwarzweisse Welt der Borderline Persönlichkeit" liegt jetzt in einer komplett aktualisierten und erweiterten Neuausgabe vor (Kösel Verlag, München 2012).

Im Vorwort lese ich, dass es sich bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung noch immer um eine Krankheit handelt, die die Allgemeinheit verwirrt und viele Fachleute in Schrecken versetzt. Kein Wunder, denn: "In gewisser Weise kämpfen wir alle mit demselben Problemen wie die Borderline-Persönlichkeit - die Bedrohung durch Trennung, die Angst vor Zurückweisung, die Verwirrung der Identität, Gefühle von Leere und Langeweile." Stimmt, doch was macht denn jetzt die Borderline-Persönlichkeit aus? Das Ausmass, die Intensität. "Der Unterschied besteht jedoch darin, dass nicht alle Menschen so sehr von dem Syndrom kontrolliert werden, dass es ihr Leben stört oder beherrscht."

Schaut man sich die schematische Darstellung "der Position der Borderline-Persönlichkeit in Bezug auf andere psychische Störungen" auf Seite 45 an, wird einem schnell klar, dass man auch heute noch von einer einigermassen klaren Definition, worum es sich bei Borderline handeln könnte, weit entfernt ist, denn da gibt es (wie bei allen seelischen Störungen) unzählige Überlappungen mit Sucht, Depression, Aufmerksamkeitsdefiziten, Narzissmus, Panikattacken etc. etc.

Die Borderline-Persönlichkeit erlebt die Welt als schwarzweiss. "Der Betroffene ist emotional gesehen ein Kind und kann menschliche Widersprüche und Mehrdeutigkeit nicht tolerieren." In der Borderline-Welt gibt es also keine Abstufungen, keine Grauzone, keine Nuancen und Schattierungen, so die Autoren. Doch kann das wirklich sein? Obwohl als Grundmuster durchaus plausibel, scheint dies bei genauerer Betrachtung etwas arg verkürzt, denn: "Obwohl es der Borderline-Persönlichkeit äusserst schwerfällt, ihr Privatleben zu bewältigen, kann sie im Beruf produktiv sein - besonders dann, wenn die Arbeit gut strukturiert, klar definiert und unterstützend ist." Es ist nicht einzusehen, weshalb ein gut strukturiertes, klar definiertes und unterstützendes Privatleben nicht ebenfalls positive Resultate zeigen könnte.

Treffend halten die Autoren fest: "Das grösste Hindernis auf dem Weg zur Veränderung für die Borderline-Persönlichkeit ist die Neigung alles in absoluten Extremen zu bewerten. Die Borderline-Persönlichkeit muss entweder ganz perfekt sein, oder sieht sich als völliger Versager. Sie ist nicht gewillt, mit den Karten zu spielen, die an sie ausgeteilt wurden. Wenn sie nicht sicher ist, dass sie gewinnen kann, spielt sie nicht aus, was sie auf der Hand hat. Die Situation bessert sich, wenn sie lernt, ihre Karten zu akzeptieren, und erkennt, dass sie immer noch gewinnen kann, wenn sie geschickt spielt."

Was die Borderline-Persönlichkeit letztlich lernen muss, ist Selbstverantwortung. "Darin unterscheidet sich die Borderline-Persönlichkeit in nichts von jeder anderen Behinderung. Ein Mensch, der im Rollstuhl sitzt, löst Mitgefühl aus, aber dennoch ist er verantwortlich dafür, eine Rollstuhlrampe zu finden, wenn er Ausflüge unternehmen möchte, und seinen Rollstuhl in einem guten Zustand zu halten, sodass er stets einsatzbereit ist." Wie sagte doch Leo Tolstoi so treffend: "Wahres Leben wird gelebt, wenn kleine Änderungen eintreten." Besonders eindrücklich illustrieren das die verschiedenen Fallgeschichten in diesem informativen Buch.

Jerold J. Kreisman und Hal Straus
Ich hasse dich - verlass mich nicht
Die schwarzweisse Welt der Borderline Persönlichkeit
Kösel Verlag, München 2012.

Sonntag, 15. Juli 2012

Toshihiko Seko

Doch so sehr mir der Langstreckenlauf auch liegt, es gibt immer Tage, an denen ich träge und schwerfällig bin und keine Lust habe. Eigentlich sogar viele. Dann denke ich mir alle möglichen Ausreden aus, um mich zu drücken. Kurz nachdem der Olympialäufer Toshihiko Seko sich von dem aktiven Sport zurückgezogen hatte und Trainer des S&B-Teams geworden war, machte ich ein Interview mit ihm, bei dem ich ihn fragte: "Kommt es bei einem Läufer Ihres Niveaus auch vor, dass Sie keine Lust haben und lieber zu Hause im Bett bleiben würden?" Herrn Sekos Gedanken standen ihm ins Gesicht geschrieben, und in einem Ton, dem man anhörte, für wie blöd er meine Frage hielt, sagte er: "Selbstverständlich. Andauernd."

Haruki Murakami: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede.

Sonntag, 8. Juli 2012

Learning healthy behaviors

Substance abusers can learn healthy behaviors that provide the same (albeit less potent) good feelings they used to seek from a bottle, a pill or a needle. In fact, that may be what makes some rehab programs so effective for certain addicts. The behaviors these programs encourage — socializing, seeking companionship, anticipating, planning and finding purpose — are all part of an ancient, calibrated system that rewards survival behaviors with drugs from an animal’s inborn pharmacy. 


Barbara Natterson-Horowitz / Kathryn Bowers: Our Animal Natures 
The New York Times, 9 June 2011

Sonntag, 1. Juli 2012

Celebrity redemption

It's a cliché now that when celebs get caught with their hand in the cookie jar, or their nose in the sherbet, they go to rehab. (People like me, who can take stuff or leave it, outrage the prevailing orthodoxy with our refusal to make an addiction out of an amusement.) But sadly, just as all junkies are one atom of the same vast (dishonest, self-pitying, boring) entity – a bit like the Borg – so Reformed Characters are identically dull. From Kerry Katona to Will Self, from Russell Brand to Tara P-T, Not Doing Drugs becomes as central and boastful in their lives as Doing Drugs once was; they still can't bear not to be stage-centre, but now they expect respect for their abstinence rather than their indulgence.

Julie Burchill: Celebrity redemption is even more sickening than celebrity excess
The Independent, 14 April 2011

Sonntag, 24. Juni 2012

Dire "oui"

Dire "oui" est une attitude intérieure qui nous ouvre au mouvement de la vie, à ses imprévus, ses inattendus et ses surprises. C'est une sorte de respiration qui nous permet d'accompagner intérieurement la fluidité de l'existence. Accepter les balancements des joies et des peines, des bonheurs et des malheurs, accepter la vie telle qu'elle est, avec ses contrastes et ses difficultés, son imprévisibilité. Bien des souffrances viennent de la négation de ce qui est ou de la résistence au changement.

Frédéric Lenoir: Petit traité de vie intérieure

Sonntag, 17. Juni 2012

The source of information

Part of me clings to the idea that I am the most disadvantaged person trying to get sober - a joke, given that I'm thin and white and employed, HIV-negative, with insurance and reasonably straight teeth. Before I judge somebody or indulge a groundless fear, Joan says I'm supposed to ask myself: What is your source of information? If the answer is - as it usually is - I thought it up, I should dismiss the idea.

Mary Karr: Lit

Sonntag, 10. Juni 2012

Uns Stuf um Stufe heben

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten
An keinem wie an einer Heimat hängen
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen
Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.

Hermann Hesse

Sonntag, 3. Juni 2012

Pissing all over it

If you've got one foot in yesterday and one foot in tomorrow, you're straddling today - pissing all over it rather than living in it.

Sonntag, 27. Mai 2012

The right to make choices

A tiny kernel of locked-in feelings began to unfold when I first attended A.A. meetings and self-knowledge then became a learning task for me. This new self-understanding brought about a change in my responses to life's situations. I realized I had the right to make choices in my life, and the inner dictatorship of habits slowly lost its grip.

From: Daily Reflections

Sonntag, 20. Mai 2012

Welcoming Problems

It is through the pain of confronting and resolving problems that we learn. As Benjamin Franklin said, "Those things that hurt, instruct." It is for this reason that wise people learn not to dread but actually to welcome problems and actually to welcome the pain of problems.

M. Scott Peck: The Road Less Travelled

Sonntag, 13. Mai 2012

The Higher-Power Thing

You have to give the higher-power thing a try - it's the one suggestion you skirted. You didn't pray.
Jenny doesn't pray, I say, and she's been sober twenty years. (Jenny is one of the sober ladies I'm getting to know).
And Jenny's disposition?
Mean as a snake, I confirm.
You might find sober people who don't pray, but all the happy ones have some kind of regular meditative or spiritual practice.

Mary Karr: Lit

Sonntag, 6. Mai 2012

Hinter den Kulissen der Psychotherapie


Dies ist ein auf vielfältige Art und Weise nützliches Buch – weil es zeigt, was es mit den verschiedenen Psychotherapien so auf sich hat. Und weil es einem klar macht, dass weit weniger dahinter steckt, als der Laie gefälligst glauben soll. So hält der Autor fest: „Im Grunde kann jeder Mensch im Alltag psychotherapeutisch tätig sein; die menschliche Psyche ist gar nicht so variabel wie man denkt. Ein offenes Ohr für seine Mitmenschen, das Anwenden vernünftigen Denkens und Zulassen von Mitgefühl und vielleicht das Kennenlernen der ein oder anderen psychotherapeutischen Technik (die ja alle letztendlich dem Alltag entspringen), können schon genügen.“

Man lernt einiges in diesem Buch. Dass zum Beispiel Freud unter Depressionen litt, diese aber mit seiner Psychoanalyse nicht heilen konnte. Oder dass es Menschen, die bei Unfällen Verletzungen davon tragen, schneller besser geht, wenn sie nicht dauernd über das Warum (der Unfall passiert ist) nachdenken. Oder dass der entscheidende Faktor einer erfolgreichen Therapie die Beziehung zwischen Therapeut und Klient ist. Oder dass das NLP die Verantwortung für den therapeutischen Prozess dem Therapeuten und nicht dem Klienten zuschreibt. Und und und ...

Der Diplompsychologe Ulrich Buchner wirft den Psychoanalytikern, Tiefenpsychologen, Kognitiven Verhaltenstherapeuten und Humanistischen Psychologen vor, dass sie ihre Klienten zu Objekten machen, die das Konzept und Glaubenssystem des Therapeuten übernehmen müssen. So sei für Verhaltenstherapeuten ein Mensch nichts weiter als „die Summe seiner Lerngeschichte“, Humanistische Psychologen hingegen glaubten, „dass der Mensch alle Fähigkeiten in sich trägt, die er zum (Über-) Leben benötigt – man müsse sie nur aus ihm herauskitzeln.“

Buchner vertritt dezidiert einen Anti-Mainstream-Standpunkt: „Die Psychoanalyse behauptet, dass alle Probleme aus der Kindheit stammen. Ich behaupte die Umkehrung: Die Menschen haben der Psychoanalyse viel zu viel Glauben und Vertrauen geschenkt, und die Gesellschaft hat ihr Glaubenssystem übernommen – nur deswegen sind die Menschen heutzutage davon überzeugt, dass ihre Probleme aus einer missratenen Kindheit stammen.“

So recht eigentlich gibt es das Unbewusste gar nicht, meint Buchner. Und fügt hinzu: Dass wir das Wörtchen „unbewusst“ in der Umgangssprache so häufig verwenden, basiere „auf einer gewissen Unschärfe der Sprache“. Um seine diesbezügliche Sichtweise darzulegen, geht er auf Sartres Das Sein und das Nichts ein, worin vier Arten oder Ebenen des Bewusstseins skizziert werden. Seine Schlussfolgerung? „Nix mit 'Unbewusstsein', sondern einfach verschiedene Stufen des Bewusstseins bzw. der Wahrnehmung. Also: Tiefenpsychologie ade!“ 

Fazit: eine anregende und hilfreiche Lektüre.

Ulrich Buchner
Wenn Irre Irrenärzte werden
Hinter den Kulissen der Psychotherapie
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2012

Sonntag, 29. April 2012

Stopping to drink

But Bruno says he really stopped drinking not because of AA but because of Luca. One day, the two of them went to the shop across the road, a place run by Algerian immigrants, where we buy milk when we run out, and vegetables, or fruit. Luca looked at the high shelf, the bottles of dark wine, pointed and said, "Daddy." After that, Bruno only ever had one more drink – on my birthday. It was the saddest birthday, the day of his last drink. Not because I grieved for the passing of his alcoholism, but because I knew, instinctively, that he would change and never again be the man I married. Because, in fact, part of that love was based on the passion, the drink, the fury, the rage, the anger, the drive, that made him so intense. Without it, there was a smaller person who looked sad and hardened by life.

© Janine di Giovanni 2011.
Extracted from Ghosts by Daylight: A Memoir of War and Love (Bloomsbury)

Sonntag, 22. April 2012

Life is difficult

Life is difficult.

This is a great truth, one of the greatest truths. It is a great truth because once we truly see this truth, we transcend it. Once we truly know that life is difficult - once we truly understand and accept it - then life is no longer difficult. Because once it is accepted, the fact that life is difficult no longer matters.

Most do not fully see this truth that life is difficult. Instead they moan more or less incessantly, noisily or subtly, about the enormity of their problems, their burdens, and their difficulties as if life were generally easy, as if life should be easy. They voice their belief, noisily or subtly, that their difficulties represent a unique kind of affliction that should not be and that has somehow been especially visited upon them, or else upon their families, their tribe, their class, their nation, their race or even their species, and not upon others. I know about this moaning because I have done my share.

Life is a series of problems. Do we want to moan about them or solve them? Do we want to teach our children to solve them?

M. Scott Peck
The Road Less Travelled

Sonntag, 15. April 2012

Alkohol & Medien

Es erstaunte ihn immer wieder aufs Neue, wie das Gehirn Worte, Melodien, Blumendüfte bewahren und dann Jahre nachdem sie die Sinne berührt hatten, wieder freisetzen konnte. Und es war nie vorhersehbar, wann sie wieder auftauchten, es konnte durch einen Klang, einen Anblick oder Geruch ausgelöst werden, der mit dem ursprünglichen Erlebnis gar nichts zu tun hatte. 
William S. Cohen: Die Verschwörer 

 Am Dienstag, dem 26. Januar 2010, einen Tag, bevor das World Economic Forum (WEF) in Davos seine Pforten öffnete, wurde Markus Reinhardt, der Kommandant der Graubündner Kantonspolizei und Sicherheitsverantwortliche des WEF, tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden. Er hatte sich mit seiner Dienstwaffe das Leben genommen. 

 Reinhardt hatte während einiger Jahre “ein Alkoholproblem” gehabt, im Regierungsrat wusste man davon. Seine direkte Vorgesetzte, die Direktorin des Justizdepartements, Barbara Janom Steiner, äusserte sich während einer Pressekonferenz so: “Die Alkoholprobleme haben seine Arbeit nie beeinträchtigt.” Weiter sagte sie: “Ich hatte den Eindruck, dass Reinhardt das Alkoholproblem allmählich in den Griff bekam.” Und, wie der Tages-Anzeiger schrieb: “Sie habe unter Beizug eines Vertrauensarztes Massnahmen vereinbart, damit Reinhardt seines Problems Herr werde.” 

 Die Medien fragten nicht nach, mit was für Massnahmen die Politikerin und der Vertrauensarzt glaubten, einen offenbar Alkoholkranken zur Räson bringen zu können, stattdessen wurden sie auf ihre typische Art aktiv. Der Tages-Anzeiger befragte Roberto Zalunardo, interimistischer Generalsekretär der Polizeikommandanten, der sagte, dass Kommandanten unter grossem Druck stünden, dass man an der Spitze sehr einsam sei und mit der Tatsache, dass sehr viele Anforderungen an einen gestellt werden, müsse umgehen können. Als Leser hatte man das Gefühl, dass, wenn einer damit nicht klar komme, er zum Alkohol Zuflucht nehmen könnte. Nun ja, dass Leute saufen, weil sie Druck nicht aushalten, ist zwar eine weit verbreitete Auffassung, doch sie ist falsch. Alkoholiker brauchen keinen Grund um zu saufen, sie finden immer einen.

Die Fortsetzung findet sich in:
Hans Durrer: Warum rennen hier alle so? 
Rüegger Verlag, Zürich/Chur 2013

Sonntag, 8. April 2012

In the morning

He knew, from long experience with his father, that alcoholics were best conversed with in the morning.

Jonathan Franzen: Freedom

Sonntag, 1. April 2012

Brave, open & honest

You should learn from that man, and you should learn from what he did up here today. He was brave and he was open and he was honest and he made himself vulnerable to everyone in this Room. That's what being here is all about, and that's the kind of attitude that is gonna keep him sober.

James Frey
A Million Little Pieces

Sonntag, 25. März 2012

Sucht

"Sucht ist ohne ein süchtiges Bedürfnis nicht erklärbar. Bedürfnisse aber und ihre Befriedigung hängen in hohem Masse mit den subjektiven Möglichkeiten und Chancen innerhalb unserer Gesellschaft zusammen. Insofern sind politische Forderungen nach Verboten von Alkohol und anderen Genussmitteln (vor allem bei Jugendlichen) oder suchtpolitische Ziele wie Abstinenz sinnlos, solange wir in einer Gesellschaft leben, die das menschliche Bedürfnis nach glücklichem Leben negiert", lese ich auf der vierten Umschlagseite des von Klaus Weber im Hamburger Argument Verlag herausgegebenen Bandes "Sucht".

Ich bin mir nicht sicher, was ich von diesen Aussagen halten soll. Ist das etwa ein Plädoyer dafür, dass wir alle mehr Chancen haben sollten, unsere süchtigen Bedürfnisse zu befriedigen? Meint das vielleicht, dass in einer Gesellschaft, in der das menschliche Bedürfnis nach glücklichem Leben nicht negiert wird, Verbote von Alkohol und anderen Genussmitteln oder suchtpolitische Ziele wie Abstinenz sinnvoll seien?

Der Herausgeber Klaus Weber schreibt in der Einleitung zu diesem Band:
"Süchtiges Handeln soll wieder als subjektiv begründetes Handeln in gesellschaftlichen Zusammenhängen gedacht werden und nicht als Folge einer organischen, genetischen oder sonstigen Störung und auch nicht als vererbte Disposition etc. Wie wenig die heutige Psychiatrie mit ihrem einseitigen medizinischen Störungsmodell, in der Praxis zudem mit fehlenden zeitlichen und personellen Ressourcen in der Lage ist, auf süchtiges Handeln von Menschen deren Begründungen zu eruieren, um einen gemeinsamen Kampf aufzunehmen gegen eine Gesellschaft, in der Sucht fast nötig ist, um die sozialen, politischen und betrieblichen Kränkungen auszuhalten, ist offensichtlich."

Dieser Band geht davon aus, dass es die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, "welche es subjektiv für manche Menschen notwendig machen, sich mit Alkohol in ein anderes Leben zu 'drehen'." Ich halte das zwar für möglich, auch wenn ich den Umkehrschluss, den man aus dieser Behauptung ziehen muss – dass die gesellschaftlichen Verhältnisse für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die ja nicht alkoholabhängig ist, kein Problem darstellen – absurd finde.

Wie auch immer, dieser Band erfüllt einen wichtigen Zweck: er macht deutlich, dass es falsch ist, Sucht auf ein rein individuelles Problem zu verkürzen. "Es ist auffällig, dass die Rückfallthematik gerade zu einem Zeitpunkt in die Diskussion kam, als der Überhang an Therapieplätzen im Rehabilitationsbereich nicht mehr zu übersehen war und viele Kliniken in eine Situation der Unterbelegung brachte." Aber auch zum Widerspruch regt dieser Band an: "Wir gehen davon aus, dass sich Menschen auch zu ihrer Drogenabhängigkeit bewusst verhalten können und dies auch tun." Ja, sicher, doch das gilt eben dann nicht mehr, wenn etwa ein Alkoholiker den ersten Schluck getrunken hat.

Klaus Weber (Hg.)
Sucht
texte kritische psychologie 2
Argument Verlag, Hamburg 2011

Sonntag, 18. März 2012

Dafür danke ich allen

David Servan-Schreiber lehrte an der Universität Pittsburg, wo er das Zentrum für integrative Medizin gründete. Im Alter von 31 Jahren wurde bei ihm ein aggressiver Hirntumor diagnostiziert, dem er 19 Jahre lang erfolgreich widerstand. Kurz nach Veröffentlichung dieses Buches erlag er am 24. Juli 2011 seiner Krankheit.

„Man sagt sich mehr als einmal Lebewohl“ ist ein streckenweise bewegendes und auf vielfältige Art hilfreiches Buch. Besonders hilfreich empfand ich Sätze wie diese:

„In kritischen Situationen ist die beste Vorbeugung gegen Verzweiflung, wenn man sich ganz auf das Handeln konzentriert.“

„Was für ein herrliches Gefühl, wenn man erkennt, dass man nicht Künstler sein muss, um das eigene Leben als einen kreativen Prozess zu leben!“

Ganz wunderbar gefallen hat mir auch diese Stelle hier:

„Es gibt ein sehr schönes Bild in dem Roman 'Freitag oder das Leben in der Wildnis'. Michel Tournier spricht darin von einem Büffelschädel, der in einem Raum hängt, und wenn der Wind hindurchstreicht, entstehen Töne. Wer erzeugt die Musik: der Schädel, der Wind oder das Zusammentreffen der beiden?“

Verständlich, wenn auch weniger überzeugend sind des Autors Anstrengungen, seinen von ihm entwickelten Antikrebs-Lebensstil zu verteidigen. Und noch weniger überzeugend, ja so recht eigentlich fast schon befremdend, fand ich seine Aussage: „Ich bedauere nichts.“ Ich hätte mir den Mann lernfähiger gewünscht! Wobei: ganz so einfach macht er es sich ja dann doch nicht.

Hinweisen möchte ich jedoch vor allem auf dies:

„Die grosse Erkenntnis, die ich während meiner wissenschaftlichen Laufbahn in den letzten zwanzig Jahren gehabt habe, ist auch die grösste Entdeckung der modernen Ökologie: Es ist der einfache und grundlegende Gedanke, dass das Leben der Ausdruck von Beziehungen in einem Netz ist und nicht eine Reihe punktueller Ziele, die einzelne Individuen verfolgen. Das gilt für Ameisen, Giraffen und Wölfe genauso wie für Menschen. Ich hatte das Glück, durch meine Beziehungen zu all jenen, die sich für ökologische Ideen begeistern, meine Kreativität ausdrücken und etwas zum grossen Ganzen beitragen zu können. Dafür danke ich allen."

David Servan-Schreiber

Man sagt sich mehr als einmal Lebewohl
Verlag Antje Kunstmann, München 2012