Mittwoch, 20. Februar 2013

Bindung und Sucht

Studien würden zeigen, lese ich im Vorwort, dass die Sucht oft damit beginne, "dass grosser Stress, wie er etwa durch schwierige psychische Entwicklungsbedingungen, traumatische Erfahrungen, unlösbare Konfliktsituationen und Ähnliches entstehen kann, nicht mehr gelöst werden kann. Versuchsweise – oft eher zufällig und als 'Notlösung' – wird gegen den Stress ein Suchtmittel eingesetzt, statt eine Bindungsperson zu rufen, um mit ihrer Hilfe den Stress unter Kontrolle zu bekommen oder abzubauen." Gemäss dieser Auffassung ist das Suchtmittel ein "Bindungsperson-'Surrogat'". Anders gesagt: die kurzfristige, rasche Entspannung, die nach dem Gebrauch des Suchtmittels eintritt, hätte auch durch die emotionale Unterstützung der Bindungsperson erfolgen können. Sicher, man kann sich das unschwer vorstellen, doch wie man das beweisen will, ist mir ziemlich schleierhaft.

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Konferenz über Bindung und Sucht (Attachment and Addiction) vom 15. und 16. Oktober 2011 in München. Die Themen sind vielfältig und gehen von der "Internet- und Computerspielsucht bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen" bis zu "Gender – Trauma – Sucht und Bindung: Phänomenologie, Wechselwirkungen, Gegenstrategien".

Auf den Beitrag "Die Bindungstheorie in ihrer Relevanz für die Suchtbehandlung" von Philip J. Flores war ich besonders neugierig, er hält fest: "Um erfolgreich mit ihrer Sucht umzugehen, muss die betreffende Person lernen, 'gesunde' Beziehungen einzugehen. Diese äusserst simple Wiedergabe der Bindungstheorie trifft zwar den Kern der Sache, wird aber den grossen Schwierigkeiten nicht gerecht, die mit der Bewältigung eines so unspektakulären Verhaltens verbunden sind." Was zu geschehen hat, ist dies: zunächst muss die Bindung an die Droge gekappt und dann die "Fähigkeit zu geglückten interpersonalen Bindungen" entwickelt werden. Das ist so in etwa, und Flores weist darauf hin, worum es beim 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker geht.

Fast jeder Beitrag in diesem Band weist daraufhin, dass "eine sichere Bindung einen Schutzfaktor gegen und eine unsichere Bindung einen Risikofaktor für späteren Substanzmissbrauch darstellt." Sucht lasse sich als Bindungsstörung verstehen, meint Andreas Schindler, und fügt hinzu: "Bindung scheint eine Sucht zu sein, von der nur Suppenschildkröten frei sind. Bei allen anderen kann das Bindungsbedürfnis von Suchtmitteln in Geiselhaft genommen werden." Noch einmal: "Bindung scheint eine Sucht zu sein ...". Ob der Mann eigentlich weiss, was Sucht (das kommt von siech und das meint krank) ist?

So recht eigentlich lässt sich dieser Band in einem Satz zusammenfassen: "Die Herausbildung einer sicheren Bindung ist ein Schutzfaktor für das sich entwickelnde kleine Kind, während eine unsichere Bindung mit negativen Folgen verbunden ist, die über die Kindheit und die Adoleszenz hinaus noch bis ins Erwachsenenalter reichen." (S. 151). Ich hätte gerne erfahren, wie das jetzt praktisch geht, dass man von einer unsicheren Bindung zu einer sicheren gelangt, doch leider bietet dieser Band diesbezüglich ("Ist erst einmal das Suchtmittel zur 'festen Bindungsperson' geworden, wird die Therapie schwierig", lese ich auf dem Buchrücken) nicht gerade viel: "In der Therapie geht es darum, eine sichere therapeutische Bindung aufzubauen und in einer mehrere Perspektiven umfassenden Behandlung traumatische Erfahrungen, Sucht und auch psychosoziale Probleme im Auge zu behalten; dadurch können dem Klienten in der therapeutischen Beziehung neue Möglichkeiten der Stressregulation vermittelt werden", meint Herausgeber Brisch. Das ist zwar etwas theoretisch, doch durchaus einleuchtend, nur schreibt derselbe Mann auch: "Das Suchtmittel kann nur dann entzogen werden, wenn in der Therapie neue, intensive, sichere Bindungserfahrungen zur Verfügung gestellt werden können." Ob der Süchtige sich wirklich so lange gedulden kann?

Karl Heinz Brisch (Hrsg.)
Bindung und Sucht
Klett-Cotta, Stuttgart 2013

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