Mittwoch, 31. Juli 2019

Die dunklen Welten der Depression

"Die dunklen Seiten der Depressions" lautet Andrew Solomons Saturns Schatten im Untertitel, das von John Berger als "das ungewöhnliche Zeugnis eines Leidens – Aufrichtigkeit gepaart mit Aufklärung" charakterisiert wurde. Als Motto ist  dem Buch dieses Zitat von Michael Bulgakov (aus: "Die weisse Garde") vorangestellt: "Alles wird vorübergehen: Leiden, Qualen, Hunger, Blut und Massensterben. Das Schwert wird verschwinden, aber die Sterne werden auch dann noch da sein, wenn von unseren Leibern und Taten auf Erden kein Schatten mehr übrig ist. Die Sterne aber werden immer so da sein, schön und flimmerig. Es gibt keinen Menschen, der das nicht wüsste. Warum also wollen wir unseren Blick nicht zu den Sternen erheben? Warum?"

Dieses Buch, so der Dozent für Psychiatrie an der Cornell University, der, wie er betont, weder Arzt noch Psychologe und auch nicht Philosoph ist, handle in erster Linie vom Lebenskampf schwer geprüfter Männer und Frauen, die ihm ihre Lebensgeschichten erzählt hatten. "Ich möchte einen Beitrag zur Aufklärung von Ärzten und Patienten leisten, damit es ihnen gelingt, die Qualen der Depression zu überwinden."

Saturns Schatten ist ein höchst aufschlussreiches Werk, entstanden aus persönlicher Betroffenheit, das unter anderem klar macht, dass die Depression in einem inneren Zusammenhang mit dem Charakter steht. "Einige Menschen bringen es trotz entsetzlicher Symptome im Leben zu etwas, andere sind schon bei den leichtesten Anflügen der Krankheit völlig am Boden zerstört."

Solomon holt weit aus und bemerkt etwa zum Aufstieg des Supermodels, dass dieses das Selbstbild der Frau beschädigte, indem es unrealistische Erwartungen begründete, und er zitiert unter anderen Schopenhauer mit den Worten: "Unsere Empfindlichkeit für den Schmerz ist fast unendlich, die für den Genuss hat enge Grenzen." Das meint, "dass wir in der Regel, die Freuden weit unter, die Schmerzen weit über unserer Erwartung finden .... Sogar bedarf Jeder allzeit eines gewissen Quantums Sorge, oder Schmerz oder Noth, wie das Schiff des Ballasts, um fest und gerade zu gehen." Wie sagt doch die russische Redensart: Wenn du aufwachst und keine Schmerzen hast, weisst du, dass du tot bist.

Von allen möglichen Seiten beleuchtet Solomon die Depression, geht auf Therapien, Historisches, Armut, Politik und Evolution ein. Und auch auf die Sucht, bei der er auf interessante Untersuchungen hinweist. "Von allen, die je eine Zigarette rauchen, werden ein Drittel in der Folge nikotinsüchtig, bei Heroin sind es etwa ein Viertel, beim Alkohol rund ein Sechstel." Doch weshalb hat Nikotin im Vergleich zu Alkohol ein derart hohe Suchtwirkung? Weil die negativen Aspekte des Nikotrin-Genusses relativ spät auftauchen und der furchtbare Kater am anderen Morgen den Alkoholkonsum in gewissen Grenzen hält.

Saturns Schatten überzeugt nicht zuletzt der eindrücklichen Geschichten wegen. Etwa diese hier. "Wenn Elefanten in Nepal einen Splitter oder Dorn im Fuss haben, kippen die Treiber ihnen Chili ins Auge, worauf sie so sehr mit der brennenden Bindehaut beschäftigt sind, dass man den Dorn entfernen kann, ohne totgetrampelt zu werden. (Der Pfeffer ist schnell wieder ausgeschwemmt). Bei vielen Melancholikern erfüllt Alkohol, Kokain oder Heroin die gleiche Funktion wie das Chili, nämlich als etwas Unerträgliches, dessen Scheusslichkeit von der noch unerträglicheren Depression ablenkt."

Höchst Aufschlussreiches erfährt man auch im Kapitel über Therapien, worin Solomon auch seine völlig absurd anmutende Odyssee auf der Suche nach einem Therapeuten beschreibt. Was macht einen guten Therapeuten aus? "Die guten Psychiater liessen den Patienten erst über sich berichten und stellten dann sofort eine  Reihe von ganz gezielten Fragen, um bestimmte Informationen zu erhalten." Zudem: "Jemand, mit dem du dich tief verbunden fühlst, kann dir wahrscheinlich schon durch lockeres Plaudern sehr helfen, und wenn diese Voraussetzung fehlt, können die ausgefeilteste Technik und die beste Qualifikation wenig ausrichten."

Saturns Schatten ist ein sehr gut geschriebenes und enorm hilfreiches Buch.

Andrew Solomon
Saturns Schatten
Die dunklen Welten der Depression
FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main, April 2019

Mittwoch, 17. Juli 2019

Walking Meditation

In the 1990s, I spent a lot of time in Thailand, and mostly in Bangkok, where I regularly attended Buddhist lectures followed by meditation practice. Sitting meditation was definitely not my cup of tea, walking meditation however appealed to me.

Stand still, look where you want to go, plant that in your head, and now concentrate on your feet, on your walking. Keep in mind: "What arises, ceases. Thoughts will come and go, let them do that but do not cling to them", I remember a monk saying. "Gently come back to concentrate on your feet, how they touch the ground, how you lift them up, and put them down again. Be aware of your sensations, let them come and go. You are on the move - take it easy, do not get too attached to any particular part of the journey."

It might be, of course, that I do not remember correctly or that I misunderstood but what I've just described is what I daily practise. And, it clearly helps to be in the present.

To be where I am, not just physically but also mentally - this is the only goal I find worth pursuing.

Hans Durrer 2019

Mittwoch, 3. Juli 2019

Von der Kunst, Dinge zu sehen

Zwei Essays versammelt dieser Band des 1837 als siebtes von zehn Kindern auf einer Meierei in den Catskill Mountains bei Roxbury in Delaware County (New York) geborenen John Burroughs: Von der Kunst, die Dinge zu sehen sowie Von der Heiterkeit der Landstrasse.

Natürlich ist genaues Beobachten wichtig, doch es genügt nicht. Bei der Kunst, die Dinge richtig zu sehen, geht es deswegen nicht einfach darum, aufmerksam durch die Welt zu gehen, sondern auch darum, dass dies auf der Grundlage der Liebe geschieht, denn: "Die Liebe ist das Mass des Lebens." 

Es geht John Burroughs nicht allein ums Sehen, sondern um die richtige Wahrnehmung. Ihm schwebt ein Mensch vor, der voll und ganz präsent ist. "Er begegnet allen äusseren Eindrücken mit lebendiger Aufmerksamkeit." Und: "Er ist so feinfühlig, dass er bei seinem Abendspaziergang die lauen und kühlen Lüfte in der Luft spürt, seine Nase die flüchtigsten Düfte und seine Ohren die verborgensten Geräusche wahrnehmen." 

Die Beobachtungsgabe kann geübt, die Aufmerksamkeit trainiert werden. Wem es ums wirkliche Sehen zu tun ist, wird lernen, seine Sinne auf die Welt zu richten. "Wenn man mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt ist, dann geht man womöglich durch ein Museum mit Kuriositäten und betrachtet gar nichts."

Die Dinge langsam angehen, innehalten, verweilen – John Burroughs zeigt an ganz vielen Beispielen aus seiner Naturbeobachtung, was er dabei alles entdeckt. Von der Kunst, die Dinge zu sehen ist so recht eigentlich ein wunderbarer Essay über die Achtsamkeit, die es schon gab, bevor der Begriff in Mode gekommen ist.

Dem zweiten Essay in diesem schmucken Bändchen, Von der Heiterkeit der Landstrasse, ist ein Walt Whitman-Zitat vorangestellt, das den Geist dieses Textes treffend charakterisiert: "Zu Fuss und leichten Herzens finde ich Gefallen an der freîen Landstrasse." Er zitiert auch Shakespeare, nach dem die wichtigste Voraussetzung für den Gehenden ein frohes Herz sei.

Auch über die Unterschiede der Amerikaner und der Engländer als Fussgänger lässt er sich eingehend aus; er ist überzeugt, dass das Gehen den wahren Charakter des Menschen zum Vorschein bringt.

Aus dem Nachwort von Klaus Bonn erfahre ich, dass John Burroughs "zwischen  den Jahren 1870 und 1920 der berühmteste und vor allem populärste Nature Writer in den USA" gewesen ist. Gut 1,5 Millionen seiner Bücher waren bei seinem Tod im Jahre 1921 gedruckt worden – eine immense Zahl generell und für die damalige Zeit ganz besonders. Henry James schrieb einmal, Burroughs sei "eine Art reduzierter, aber auch humorvollerer, zugänglicherer und umgänglicherer Thoreau." Wahrlich Grund genug, ihn zu lesen!

John Burroughs
Von der Kunst, Dinge zu sehen
Essays
Limbus Verlag, Innsbruck - Wien 2019