Mittwoch, 25. Dezember 2019

Zum Zeugen werden

Mir schwebte etwas Neues vor. Nur was?

Fündig wurde ich bei „Zen im Alltag“ von Charlotte Joko Beck, das ich vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal gelesen habe. Angestrichen habe ich mir damals unter anderem: „… wenn wir wirklich beobachten, was in unseren Köpfen passiert, dann sehen wir, dass wir ständig um Wunschträume kreisen, wie wir sein sollten oder nicht sein sollten, oder wie jemand anders zu sein hätte; wie wir in der Vergangenheit waren, wie wir in der Zukunft sein werden oder wie wir die Dinge hinbiegen können, dass wir bekommen, was wir haben wollen.“

Eine neue Lebenseinstellung, bei der das Üben zum Zeugen zu werden im Vordergrund steht, ist also gefragt. Bei diesem Üben geht es darum, „uns die Angst bewusst zu machen, anstatt in unserer Zelle der Angst aufgeregt herumzulaufen und zu versuchen, sie zu verschönern und uns dabei besser zu fühlen. Alle unsere Bemühungen im Leben sind solche Fluchtversuche – wir versuchen, dem Leiden zu entfliehen, dem Schmerz darüber, was wir sind. Selbst Schuldgefühle sind eine Flucht. Die Wahrheit jedes Augenblicks ist immer die, dass wir einfach sind, was wir sind. Das bedeutet, dass wir unsere Unfreundlichkeit spüren, wenn wir unfreundlich sind. Aber das wollen wir ja nicht. Wir wollen uns für freundliche Menschen halten. Oft aber sind wir es nun einmal nicht.“

Es geht also um Akzeptanz, uneingeschränkte Akzeptanz. Wenn wir diese erlangen, werden wir ein anderer Mensch sein. In diesem Abschnitt meines Lebens, so nehme ich mir vor, will ich das versuchen. „Wenn wir uns selbst erleben, wie wir sind, dann entspriesst aus diesem Tod des Ich, aus diesem verdorrten Baum, eine Blüte – ein Bild aus dem wunderschönen Vers des Shōyō Rōku. Die Blüte blüht nicht aus einem geschmückten, sondern einem verdorrten Baum. Wenn wir von unseren Idealen Abstand nehmen und sie genau betrachten, indem wir Zeugen sind, dann kehren wir zu dem zurück, was wir sind, und das ist die Klugheit des Lebens selbst.“

Hans Durrer, 2019

Mittwoch, 18. Dezember 2019

Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern

Dieses Buch erschien zuerst im Jahre 2007, erfuhr seither zahlreiche Neuauflagen und ist jetzt vollständig überarbeitet worden. Mit anderen Worten: Es ist ein Klassiker und solche werden, wie wir alle wissen, selten gelesen. In diesem Falle wäre das bedauerlich, denn nur schon die Kapitelüberschriften lassen erahnen, dass man hier umfassend informiert wird.

Die insgesamt 17 Kapitel  und 3 Exkurse befassen sich unter anderem mit den Bausteinen des Gehirns, der Verankerung der Persönlichkeit in diesem, dem Bewusstsein und dem Unbewussten, unterschiedlichen Aspekten der Neurobiologie sowie mit Fragen der Motivation, der Steuerung von Willenshandlungen und und und.

Hier will ich das Kapitel etwas näher  betrachten, das mir am nächsten steht. "Über die Möglichkeit, sich selbst zu verstehen und zu verändern." Es beginnt mit diesem höchst  wesentlichen Satz: "Die Frage 'Wer bin ich?' ist zentral für unser westliches Denken, das man im Gegensatz zu vielen anderen Kulturen ich-zentriert genannt hat." Fragt sich nur, ob es dieses Ich überhaupt gibt  für den Buddhismus und einige wenige Philosophen (David Hume etwa) jedenfalls nicht. Nun gut, Sokrates hat trotzdem für Selbsterkenntnis plädiert, Goethe von ihr abgeraten. 

Gerhard Roths Position ist diese: "Wir sind nicht ein Ich, sondern mehrere Iche, die irgendwie miteinander zusammenhängen (....) Wir sind uns letztlich selber undurchdringlich. Das Ich kann sich nicht oder nicht gründlich, d.h. auf den Grund durchschauen." Feststellen können wir: Manchmal dominiert die körperliche Empfindung, ein andermal das denkende Ich, dann wieder das furchtsame  er herrscht ein ständiges Hin und Her, Rauf und Runter in unserem Bewusstsein.

Roth unterscheidet zwischen  dem Bewusstsein und dem Vorbewussten einerseits (das sind grösstenteils die gesellschaftlichen Konditionierungen, die wir jedoch als eigene Überzeugungen ansehen) und dem Unbewussten andererseits, das per definitionem nicht erkannt werden kann. Das Vorbewusstsein entscheidet, welche Botschaften aus dem unbewussten Teil bewusst werden sollen und die wir dann als unsere Gefühle, Wünsche, Gedanken, Motive und Ziele erleben. Das bewusste Ich glaubt – fälschlicherweise – diese Zustände selbst hervorgebracht zu haben. "Das ist die Illusion der Urheberschaft des bewussten Ich."

Der Mensch, da nicht Herr im eigenen Haus, schätzt sich selten richtig ein. Nicht zuletzt ist er ein Meister der Selbsttäuschung. "The first principle", sagte der Physiker Richard Feinman einmal, "is not to fool yourself. And you are the easiest person to fool." Was dagegen helfen kann ist genaues Hinschauen, nüchternes Betrachten sowie die Dinge aus Distanz einschätzen.

Obwohl wir keinen Zugang zu unserem Unbewussten haben (In uns ist viel mehr angelegt als wir wissen können, man denke etwa ans Temperament), ist es durchaus möglich, sich zu verändern. In Grenzen. Vorausgesetzt, man schafft es, sich selber zu motivieren. "Man kann es lernen, seine Impulse und seine Ungeduld zu zügeln, Durststrecken zu überstehen, sich selbst zurückzunehmen, selbstgenügsam zu werden, aber auch mehr Ehrgeiz, mehr Ordnung, mehr Pünktlichkeit zu entwickeln. Allerdings funktioniert all das nur, wenn die eigene Persönlichkeitsstruktur dies unterstützt. Die haben wir leider nicht in der Hand", schreibt Gerhard Roth. 

Fazit: Ein überaus nützliches Werk.

Gerhard Roth
Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern
Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Klett-Cotta, Stuttgart 2019

Mittwoch, 11. Dezember 2019

Wagnis und Verzicht

In Dharamsala trafen sich der Religionswissenschaftler Michael von Brück (Jahrgang 1949) und der Dalai Lama (Jahrgang 1935) und unterhielten sich ausführlich über persönliche Erfahrungen, Bildung, Erziehung, Politik, Religion, Medien, Ökologie und Technologie sowie anderes mehr. Diese höchst aufschlussreichen Gespräche liegen nun unter dem Titel Wagnis und Verzicht als Buch vor.

Wer denn ein besonderer Mensch in seinem Leben gewesen sei, fragte Michael von Brück einleitend, worauf der Dalai Lama meint, jeder Mensch solle sein eigener Lehrer sein. "Es kommt auf selbstständiges Denken und gültige Argumente an, und nicht auf autoritäre Botschaften, die einige für wichtig halten, die für andere jedoch irrelevant sind."

Nicht nur eine überaus vielfältige Palette an Themen wird in diesen Gesprächen angesprochen – im Gegensatz zu vielen anderen Büchern, geht es in diesem sehr praktisch zu und her. So plädiert der Dalai Lama nicht nur für gute Bildung, sondern erläutert auch konkret, was er darunter versteht.

"Der richtige Gebrauch der Vernunft muss erlernt werden. Menschen müssen so erzogen werden, dass sie sich der Komplexität der Welt bewusst werden, und auch der Tatsache, dass Lösungen, ganz gleich auf welchem Gebiet, ebenfalls komplex sind. Nur auf der Basis von Wissen lassen sich Ängste überwinden und Mut entwickeln." 

Bildung bedeutet die Schulung der inneren Werte und des inneren Friedens, die heutigen Schulen sind hingegen Orte der Ausbildung für das materialistisch ausgerichtete Leben.

Von der Vernunft Gebrauch zu machen heisst auch "unsere Wahrnehmung zu schulen und dann die tatsächlichen Wahrnehmungen korrekt zu interpretieren. Die meisten unserer negativen Emotionen sind Reaktionen auf das, was vermeintlich passiert, doch beruhen sie nicht auf der Wirklichkeit, wie sie ist, sondern auf Unwissenheit."

Als Kind habe er seinen aufbrausenden Vater gehasst, sagt der Dalai Lama. "Wie hast Du diesen Hass überwunden?", fragt Michael von Brück. "Die Zeit hat ihn geheilt." (sie hatten keine grundlegenden Meinungsverschiedenheiten). Es sind diese klaren und unprätentiösen Antworten, die mir dieses Buch speziell teuer machen. Auch auf die Frage: "Hast Du Angst vor dem Tod?", antwortet der Dalai Lama simpel und direkt. "Nein." Und führt dann aus: "Da ich weiss, dass ich dem Tod nicht entgehen kann, hat es in meinen Augen keinen Sinn, Angst davor zu haben. Ich sehe den Tod so, als würde man abgetragene Kleider wechseln, doch ist das nicht das Ende aller Dinge."

Besonders beeindruckt haben mich die Ausführungen über Leerheit und Verbunden-Sein. Leerheit meint, dass Lebewesen und Objekte nicht aus sich selbst beziehungsweise aus eigener Kraft entstehen. Anders gesagt: Ein klares getrenntes Ich gibt es nicht, denn alles ist miteinander verbunden, existiert nur in Abhängigkeit voneinander. Nichts exisitert so, wie es scheint. "Dinge und Ereignisse sind nicht unabhängig voneinander, vielmehr ist alles miteinander verknüpft. Ein beliebiges Etwas ist das, was es ist, nur in Beziehung zu etwas anderem."

Wie kann man also gegen seine egoistische, selbstbezogene Haltung angehen? Durch Reflexion, die uns erlaubt, zu erkennen, dass dem Ego nachzugeben meist zu Angst, Isolation und Unglücklichsein führt. Falls man diesem krank machenden Separatismus entgehen will, empfiehlt sich als logische Konsequenz die Nächstenliebe. Das geduldige Einüben einer altruistischen Einstellung wird uns zufriedener machen. 

"Mein Erkennen geht in Erleben über" zitiert Michael von Brück Albert Schweitzer und  kommentiert das so:  "Damit sagt er doch Folgendes: Ich weiss, dass alle Dinge miteinander verbunden sind. Sowohl die modernen Naturwissenschaften als auch unsere je eigene Lebenserfahrung lehren uns genau das. Doch auch wenn ich dies weiss und vielleicht auch eine tiefere Einsicht in solche Zusammenhänge gewinne, folgt daraus für das Leben meist nichts, wenn nicht eine emotionale Empfindung und das Gefühl von Ehrfurcht hinzukommen, erst dann nämlich wird dieses Wissen um die Einheit der Dinge zur prägenden Erfahrung. Eine solche Erfahrung verbindet Herz und Verstand, sie verändert meine Motivation wirklich."

Fazit: Differenziert, anregend und ausgesprochen hilfreich.

Dalai Lama
Michael von Brück
Wagnis und Verzicht
Kösel, München 2019

Mittwoch, 4. Dezember 2019

Die psychotische Gesellschaft

"Diese Welt verschlägt mir den Atem. Man kommt gar nicht mehr hinterher mit dem Mitdenken und Mitfühlen, und doch beginnt jede Veränderung mit dem Annehmen und Beschreiben dessen, was ist", hält Ariadne von Schirach treffend fest. Nur hält sie sich selber nicht dran und beginnt stattdessen mit einer Zuschreibung. Konkret: Sie behauptet, die gegenwärtige "Auflösung des Allgemeinen" erinnere "stark an das Krankheitsbild einer Psychose." Ich sehe das zwar ähnlich, doch "Annehmen und Beschreiben dessen, was ist", ist das nicht, sondern Denken in gängigen psychiatrisch-akzeptierten Kategorien.

Nun gut, warum auch nicht? Psychotisch meint primär Realitätsverlust. Grundsätzlich gilt: "Der psychotische Mensch hat seinen Geist und sein Urteilsvermögen verloren, sein Leben ist ihm fremd geworden." Dazu kommen – das psychiatrisch-diagnostische Feld arbeitet zwar mit wissenschaftlichen Methoden, ist jedoch keine Wissenschaft – Wahnideen, Ängste, Störungen des Ich-Erlebens, Ohnmachtsgefühle sowie mangelnde Krankheitseinsicht. Für die psychotische Gesellschaft bedeutet das, dass sie sich nicht mehr begreifen und deswegen auch nicht bewusst verändern kann. Das beschreibt meines Erachtens die gegenwärtige Situation, in der zunehmend auch Aberwitziges wie etwa  Verschwörungstheorien an Boden gewinnen, recht gut.

Die Autorin arbeitet als freie Journalistin und Kritikerin und lehrt Philosophie und chinesisches Denken und behauptet unter anderem: "Alles, was geschieht, hat einen Grund, doch es ist nicht unbedingt sinnvoll – schon gar nicht auf eine Weise, die sich uns Menschen mit unserer beschränkten Wahrnehmungskapazität erschliessen würde." Ein Satz, der unsere beschränkte Wahrnehmungskapazität treffend illustriert, denn schliesslich ist auch ein Denken vorstellbar, in dem es keine Gründe gibt.

Ariadne von Schirach geht ihr Thema Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden so an, wie das alle, die an Hochschulen unterrichten, tun – sie erzählt von ihrem Fachgebiet. Und so erfahren wir, dass Platons und Aristoteles' Denken das Trennende (und den Einzelnen) betonte, während das Denken des alten China den Einzelnen in seinem Bezug zum Ganzen sah. Und wir lesen von Kierkegaard, der meinte, der Mensch solle der werden, der er sei. "Zu werden, der man ist, heisst, sowohl ein Gefühl für seine eigenen Beschränkungen als auch für seine Potenziale zu entwickeln und Letztere zu verwirklichen", hält die Autorin fest, die mit diesem Buch eine weltanschauliche Ideengeschichte (von Martin Heidegger über Eugen Bleuler zu Naomi Klein) vorlegt..

Obwohl ich diesen Ansatz dem psychologischen, der sich häufig in recht banalen Allerweltsweisheiten erschöpft, vorziehe, habe ich mich gefragt, was denn nun praktisch zu tun sei, um Angst und Ohnmacht zu überwinden. Sich dem eigenen Dasein bewusst zu stellen, meint Ariadne von Schirach. "Angst und Ohnmacht zu überwinden heisst, sich ihnen endlich zu stellen." Nur eben: das erfordert Mut – und der fehlt den meisten

Nichtsdestotrotz: wir brauchen ihn nicht nur, diesen Mut – er ist unabdingbar, damit wir nicht noch kränker werden, denn wir leben in einer Zeit, "die das Eitle, Bequeme und Gierige im Menschen fördert und bestärkt." Das Resultat ist eine kranke Gesellschaft, die auf den eigenen Untergang zusteuert.

Es spricht sehr für dieses Buch, dass sich die Autorin auch die wirtschaftlichen Bedingungen, die eine psychotische Gesellschaft ermöglichen und befördern, vornimmt. Sie tut das unter anderem unter Bezugnahme auf Ayn Rand, die gemeinhin als glühende Verfechterin des Kapitalismus gilt. Ariadne von Schirach geht sie wesentlich differenzierter an und schält Wesentliches heraus: "Rands Figuren sind emotionslos, kompetent und kontrolliert." Und: "Wer nur für sich lebt, ist durch ebendieses Selbst begrenzt ...".  Die Folge ist das generelle Abgetrennt-Sein, von sich, den anderen und überhaupt allem, womit wir verbunden sind.

Gemäss Ariadne von Schirach gibt es einen Ausweg. "Kann ein Mensch, der verrückt war, wieder normal werden? Meistens. Wenn er Hilfe bekommt. Und sie annehmen kann. Heilung ist das Finden eines neuen Sinns."  Einverstanden. Das Problem ist nur, dass der Mensch sich nicht ändern will. Keiner. Ausser er muss.

Ariadne von Schirach
Die psychotische Gesellschaft
Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden
Tropen, Stuttgart 2019

Mittwoch, 27. November 2019

Heilen aus eigener Kraft

Alles hängt mit allem zusammen, das ist ein Gemeinplatz. Was es konkret bedeutet, in Bezug auf unseren Körper, erfährt man in diesem Buch. Mehr noch: "Das Gros der Leiden, die uns befallen, wird von den natürlichen Verteidigungsmechanismen des Körpers geheilt. Diese zu verstehen und zu lernen, wie wir sie uns zunutze machen können, wird womöglich eines der wichtigsten Zukunftsgeschenke der Wissenschaft an den Menschen und seine Gesundheit sein."

Daniel M. Davis, Professor für Immunologie, der Lehre von den Abwehrmechanismen gegen Krankheitserreger wie Bakterien, Viren und Pilzen sowie andere körperfremde Stoffe, berichtet in Heilen aus eigener Kraft davon, "wie und warum das Immunsystem so und nicht anders arbeitet." Und erzählt dabei auch, wie aufregend und schwierig die wissenschaftliche Forschung ist.

Das Immunsystem des Körpers reagiert auf Zeug, mit dem der Körper zuvor nicht in Kontakt gekommen ist. Er erkennt es als Gefahr und wehrt sich dagegen. Bis 1989 galt dies als allgemein akzeptiert. Doch dann begannen Charles Janeway und seine Frau Kim Bottomly sich zu fragen, weshalb etwa Nahrungsmittel, Staub oder harmlose Darmbakterien (die alle keine Gefahr darstellten) keine Immunreaktion auslösten. Verfügten menschliche Immunzellen über Mustererkennungsrezeptoren, die imstande waren, charakteristische Strukturen von Erregern zu erkennen? Ja, das tun sie und dieses Buch erzählt, wie man ihnen beziehungsweise einigen von ihnen auf die Spur gekommen ist.

Das war gar nicht so einfach, denn es galt vielerlei Hindernisse zu überwinden. "Es liegt in unserem Wesen, dass wir versuchen, Problemen mit Strategien beizukommen, die in der Vergangenheit funktioniert haben. Doch zu wissen, was vormals funktioniert hat, kann uns auch blind für Erkenntnisse machen, die nötig sind, um wichtige Schritte vorwärts zu tun." Klar, Professor Davis bezieht sich hier auf  die wissenschaftliche Forschung, doch diese Sätze gelten auch ganz allgemein für die Lösung von Problemen.

Zu beachten galt zudem auch dies: "Wir sehen weniger mit unseren Augen, als vielmehr mit unseren Gehirnen. Unser Gehirn filtert und interpretiert alles, was die Sinnesorgane unseres Körpers wahrnehmen, und aus diesem Grund sehen wir häufig nur, was wir suchen und bemerken das Unerwartete nicht ....". Doch nicht nur diese Unaufmerksamkeitsblindheit steht der Erkenntnis im Weg, auch unsere Annahmen und Interpretationen erweisen sich oft als Hîndernisse.

Daniel M. Davis ist ein ausgesprochen begabter Erzähler, der unter anderem deutlich macht, dass die Art der Pionierforschung, die in der Immunologie stattfindet, keine 'Plan-Wissenschaft' ist, der Fortschritt verdankt sich vielmehr einigen wenigen Individuen. "Der kreative Prozess für Künstler und Wissenschaftler kann sich unter Umständen in vieler Hinsicht bemerkenswert ähneln. Genau wie Schriftsteller schlagen auch Wissenschaftler mit den Flügeln, jammern herum und sind nahe am Verzweifeln, wenn sie versuchen, einen  Plot und eine Struktur zu finden, die hinhaut." Und natürlich gibt es auch Neid, Konkurrenz-Denken und Missgunst.

Die Komplexität des Immunsystems ist atemberaubend, die Aufgabe des Wissenschaftlers, so Davis, vergleichbar einem Mann (ja klar, es kann auch eine Frau sein), dem ein Ball gegeben wurde, und der jetzt herausfinden musste, was überhaupt gespielt wird. ".... was passiert, wenn dendritische Zellen mit diesen oder jenen anderen Zellen in unterschiedlichen Konstellationen zusammengebracht werden: Vermehren sie sich, sterben sie oder schütten sie dieses oder jenes Proteinmolekül aus? Macht es einen Unterschied, ob man sie eine Stunde oder über Nacht zusammenlässt'? Verändern sie ihre Gestalt, werden sie abgestossen oder angezogen, bewegen sie sich langsamer oder schneller, werden sie grösser oder kleiner, entwickeln sie mehr oder weniger Fortsätze, schalten sie dieses oder jenes Gen an  oder ab?"

Heilen aus eigener Kraft zeigt eindrücklich auf, dass unser Immunsystem  kein statisches Gebilde, sondern dauernd in Bewegung ist, beeinflusst unter anderem von Stress, Alter, Tageszeit und unserer seelischen Verfassung. Doch auch wenn die neuesten Erkenntnisse bahnbrecend sind, bleibt das Immunsystem  (wie jedes grosse System, vom Sonnensystem bis zum Finanzsystem) ein Rätsel. Dieses zu entschlüsseln, dazu liefert dieses Buch wesentliche Erkenntnisse. Darüber hinaus trägt das Ergründen von Einzelheiten dazu bei, uns als das zu sehen, "war wir wirklich sind, und das befreit uns aus dem Gefängnis der Engstirnigkeit."

Fazit: Ein gut geschriebenes, spannendes Buch, das uns viel über die Immunologie und noch mehr über den Menschen lehrt.

PS: Wer sich wundert, ein Buch über Immunologie auf einem Sucht-Blog zu finden - dieses Werk lehrt einen das Staunen, eines der besten Mittel gegen die Sucht.

Daniel M. Davis
Heilen aus eigener Kraft
Wie ein neues Verständnis unseres
Immunsystems die Medizin revolutioniert
DVA, München 2019

Mittwoch, 20. November 2019

Wie ein Wunder

Am 6. Mai 2015 erlitt der Arzt und Moderator Dierk Heimann, Jahrgang 1968, einen Schlaganfall. Er zitiert dazu seinen Lieblingssatz aus dem Musical "Cinderella": "Unmögliche Dinge passieren jeden Tag." Sowohl sein Schlaganfall (er gehörte nicht zu einer Risikogruppe) wie auch seine (fast gänzliche) Wiederherstellung sind statistische Ausnahmen.

"Das Leben ist nicht fair. Im Guten wie im Schlechten. Es gibt nicht immer einen erkennbaren Sinn. Medizin ist Statistik, und Statistiken haben keinerlei Aussagekraft für den Einzelnen", schreibt er. Und: Er habe es oft vermisst, dass seine Therapeuten mit ihm redeten und so nimmt er sich vor, es in diesem Buch anders zu halten – und er tut es dann auch, offen und persönlich. Nur schon deswegen lohnt die Lektüre.

Wie hat er es geschafft, wieder gesund zu werden? Indem er den Schlaganfall als eine weitere Herausforderung des Lebens begriff. "Sie haben sich immer etwas vorgenommen, das hat dann nicht geklappt – also haben Sie es anders gemacht. Das war Ihr Erfolgsrezept", sagte ihm einmal ein Kollege. Ein gutes Rezept für alle Lebenslagen, wie ich meine.

Wie ein Wunder beginnt mit einem eindrücklichen Prolog, der einem vor Augen führt, dass ärztliches Wissen, wenn man selbst Patient ist, nicht immer hilft. So ist Dierk Heimann auf die mit dem Schlaganfall einhergehende Sprachlosigkeit nicht vorbereitet. "Obwohl ich das von Berufs wegen doch eigentlich können müsste. Auch meiner Frau fiel es schwer. Sie ist Psychiaterin und in  Fragen der Kommunikation noch besser ausgebildet als ich." Woraus man lernt: eine Ausbildung in Kommunikation (Anlage und Talent sind entscheidender) wird generell überbewertet.

Etwas studiert oder etwas erfahren zu haben, ist nicht dasselbe. Deutlicher als bei Dierk Heimann habe ich das selten so gelesen: "Für mich kann ich sagen: Obwohl ich als Arzt viel über Schlaganfälle und ihre Auslöser, Ursachen, Beschwerden, Diagnostik und Therapie wusste – was ich hier gerade erlebe, ist etwas völlig Neues. Ich weiss jetzt, wie es sich anfühlt – und es ist mehr, als ich vorher auch nur erahnen konnte. Es ist anders. Es ist schlimmer."

Das Gehen bereitet ihm Mühe. Das Spechen, Lesen und Schreiben ebenso. Seine Wahrnehmung inklusive der Selbstwahrnehmung ist massiv beeinträchtigt. Er zwingt sich, er lügt, er schindet sich – er tut, was viele erfolgreiche Menschen tun, die nicht wissen, wie man pfleglich mit sich selber umgeht. Und da seine Anstrengungen nicht ohne Erfolg bleiben, fühlt er sich bestätigt.

Seine Lage zu akzeptieren ist nicht sein Ding. Sich helfen lassen auch nicht. Erst im Nachhinein merkt er, dass ihn das viel Kraft gekostet hat. Er wehrt sich, er kämpft. Seine  Willenskraft ist beeindruckend, seine Sturheit trägt Früchte. "Mir gelingt es, einen Grossteil von Frust, Ärger und Wut in Trotz zu verwandeln. Trotz gegen das Schicksal. Trotz gegen alle Prognosen. Ich nenne es meinen Genesungstrotz."

"Will ich zuviel?", fragt er sich. Das ist doch offensichtlich, denkt es in mir, doch Dierk Heimann sieht das anders. "Ich bin es gewohnt, mir selbst viel zuzumuten. So möchte ich sein. Mich hat das immer nach vorne gebracht." Er will auch kein neues Leben, er will sein altes zurück. Und er tut dafür, was er kann. "Bewegung ist mein Weg."
.
Sein Bemühen um Aufrichtigkeit ist beeindruckend. Nicht nur schreibt er über Sex, sondern offenbart auch seine Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit – und wie er verbissen dagegen angeht. Gelassenheit gehört nicht zu seinen Charakterzügen, er will die Kontrolle behalten, seine Fassade aufrecht zu erhalten, ist ihm enorm wichtig. Dass er das zugibt, nötigt mir Respekt ab.

Sein Verarbeitungsmuster ist narzisstisch, auch weiss er, dass er für die meisten der Prototyp des Horrorpatienten ist: "ein besserwissender, bislang gesunder Arzt, der sein Schicksal noch nicht angenommen hat." Dieses Wissen nützt ihm nicht viel. Als er von einem Oberarzt die Einschätzung kriegt, sein Schlaganfall sei auf seinen vielen Stress zurückzuführen, verbittet er sich diese "Küchenpsychologie in 15 Sekunden". Da er ein gescheiter Mann ist, gelingt es ihm auch ohne Weiteres plausible Gegen-Argumente zu finden. "He was so smart, he missed the point completely", ist mir da durch den Kopf gegangen..

Dierk Heimann ist seinen eigenen Weg gegangen. Dabei hat er auch eine Lebensschule durchgemacht, die ihn ganz viel über sich selber sowie Geschäfts-Freundschaften, Ärzte und Krankenkassen gelehrt hat. Und auch über die Familie und echte Freunde. Verstehen gelernt hat er nicht zuletzt auch das Wesentlichste, was es im Leben zu verstehen gilt: "Meine Zeit ist die des Lebens. Jetzt." 

Aufrichtigkeit befreit. Wie ein Wunder legt davon eindrücklich Zeugnis ab.

Dr. med. Dierk Heimann
Wie ein Wunder
bene! Verlag, München 2019

Mittwoch, 13. November 2019

Living in the Present

The present moment is all we have. Yes, we have plans and goals, a vision for tomorrow. But now is the only time we possess. And it is enough.

We can clear our mind of the residue of yesterday. We can clear our mind of fears of tomorrow. We can be present, now. We can make ourselves available to this moment, this day. It is by being fully present now that we reach the fullness of tomorrow.

Have no fear, child, a voice whispers. Have no regrets. Relinquish your resentments. Let Me take your pain. All you have is the present moment. Be still. Be here. Trust. All you have is now. It is enough.

Mittwoch, 6. November 2019

Die Bestie schläft

Die Werbetexterin Andrea Noack, verheiratet, Mutter einer Tochter, ist 52, als sie sich ins Allgemeine Krankenhaus Hamburg (AKH), Sozialpsychiatrische Abteilung, zum Entzug begibt. Zur Behandlung gehört auch Gruppentherapie und wie sie diese beziehungsweise die Teilnehmer (weiblich wie männlich) schildert (niemanden schätzt sie richtig ein), ist echt der Brüller – ich habe Tränen gelacht und mich an Simon Borowiaks Alk erinnert, ein Werk, das auch unter der Rubrik "Eine subjektive und begrenzte Auswahl von Literatur und Filmen zum Thema Alkoholabhängigkeit" am Schluss dieses Buches aufgeführt wird.

Anschaulich und unprätentiös schildert Andrea Noack ihren Klinikaufenthalt, erzählt von sich und ihren Mitpatienten, klärt darüber auf, was unter Suchtdruck zu verstehen ist und macht klar, wie der Bestie Sucht begegnet werden soll: "Die einzige Möglichkeit, der Bestie beizukommen, ist Abstinenz. Konsequente, dauerhafte, hundertprozentige Abstinenz." Genau so isses!

In Gesprächen mit ihrer Therapeutin findet sie heraus, dass es in ihrer Biografie einen guten Grund für ihre Alkoholabhängigkeit gibt. "Diesen Grund herauszufinden und zu verarbeiten, ist das Ziel jeder Suchttherapie. Denn sonst kann Abstinenz auf Dauer nicht gelungen", lese ich im Klappentext. Ich teile zwar diese Auffassung nicht (keinem Grund wohnt eine zwingende Folgerichtigkeit inne: der Grund fürs Saufen kann genau so gut der Grund fürs Aufhören sein), doch wenn dieser Ansatz für Andrea Noack funktioniert, gibt es dagegen keinen vernünftigen Einwand. Whatever works. 

Nichtsdestotrotz: Weder für Alkoholabhängigkeit noch für Abstinenz braucht es einen erkennbaren Grund. Nach Gründen zu suchen ist selten mehr als eine Rechtfertigung für die therapeutische Tätigkeit (und den Lohn dafür). Gründe gehen dem Handeln nicht voran, Gründe werden vom Hirn nachgeliefert.

Gestaunt habe ich, dass Andrea offenbar während Jahren eine Psychoanalyse machte. War denn ihre Trinkerei da kein Thema? Es gibt Analytiker, denen ist die Sucht ihrer Patienten nicht zentral (sie befassen sich lieber mit anderen Störungen), es gibt auch Psychiater, die bemerken sie nicht einmal.

In der Klinik hat sie auch Bekanntschaft mit den Anonymen Alkoholikern und den Guttemplern gemacht, sich dann aber für eine freie Selbsthilfegruppe entschieden, die von Ehemaligen aus dem AKH ins Leben gerufen worden war. Wie alle, die an solchen Treffen teilnehmen, vergleicht sie  sich mit den anderen (So schlimm wie bei dem ist es bei mir definitiv nicht etc. etc.) und fragt sich, ob sie wirklich für immer auf Alkohol verzichten muss. Wie alle Alkis glaubt auch sie, sie sei eine Ausnahme und ist die Regel.

Die Bestie schläft (ein überaus treffender Titel, der deutlich macht, dass es keine Heilung von der Sucht gibt) liefert auch Einblicke in den Alltag von Werbeagenturen und der sieht genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe – eitel, hohl, chaotisch und unprofessionell. Wobei die Kunden der Agenturen auch nicht anders sind. 

 Sie hat einen Rückfall. Und noch einen. Und noch einen. Und noch einen. Jeder wird ausführlich geschildert, spannend liest sich das nicht, doch eine Sucht ist selten spannend.

Sie erhält die Diagnose manisch-depressiv/bipolar, leidet zudem an einer Neigung zur Zwangserkrankung sowie an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie macht erneut einen Entzug, dieses Mal in einer Reha. Eindrücklich schildert sie, was unter Suchtdruck zu leiden heisst, macht gute Erfahrungen mit der EMDR-Behandlung und Psychopharmaka (den für sie richtigen). Sie ist seit mittlerweile acht Jahren trocken. Und raucht auch nicht mehr.

Die Bestie schläft erzählt eine gänzlich alltägliche, ziemlich banale und recht "normale" Geschichte. Und ist genau deswegen zu empfehlen.

Andrea Noack
Die Bestie schläft
Meine Alkoholsucht und wie ich sie überwand
Karl Blessing Verlag, München 2019

Mittwoch, 30. Oktober 2019

Not About Being Right

Recovery is not about being right; it's about allowing ourselves to be who we are and accepting others as they are.

That concept can be difficult for many of us if we have lived in systems that functioned on the "right wrong" justice scale. The person who was right was okay; the person who was wrong was shamed. All value and worth may have depended on being right; to be wrong meant annihilation of self and self-esteem.

In recovery, we are learning how to strive for love in our relationships, not superiority. Yes, we may need to make decisions about people's behavior from time to time. If someone is hurting us, we need to stand up for ourselves. We have a responsibility to set boundaries and take care of ourselves. But we do not need to justify taking care of ourselves by condemning someone else. We can avoid the trap of focusing on others instead of ourselves.

In recovery, we are learning that what we do needs to be right only for us. What others do is their business and needs to be right only for them. It's tempting to rest in the superiority of being right and in analyzing other people's motives and actions, but it's more rewarding to look deeper.

Mittwoch, 16. Oktober 2019

Tod auf Rezept

2018 starben in den USA täglich rund 250 Menschen an hochwirksamen und süchtig machenden Schmerzmitteln (Opioiden), die sie etwa nach einer Operation oder einer Sportverletzung von Ärzten verschrieben bekamen. Die Pharmakonzerne spielten die Risiken einer Sucht herunter, sie tun das nach wie vor. Die Journalistin Beth Macy ist der Opioidepidemie nachgegangen, hat mit Betroffenen und Hinterbliebenen gesprochen und mit Dopesick – Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen einen eindringlichen (und hoffentlich aufrüttelnden) Bericht geschrieben.

Dopesick ist ein Textbuchbeispiel für gelungenen Journalismus nordamerikanischer Ausprägung, also eine spannend erzählte, aufklärende, detailreiche Geschichte. Typisch nordamerikanisch meint in diesem Zusammenhang, dass es sich um eine ungeheure Fleissarbeit handelt, das puritanische Erbe zeigt sich selten überzeugender als im fleissigen Wollen. Daraus resultieren in diesem Buch viele verblüffende Erkenntnisse.

"Bisher haben sich neue Drogen immer von den grossen Städten nach und nach ins Umland ausgebreitet, wie beispielsweise Kokain und Crack. Bei der Opiodepidemie lief es jedoch genau umgekehrt, ihre Ausgangsbasis waren die isolierte Appalachen-Region, Bezirke im sogenannten Rust Belt des Mittleren Westens und das ländliche Maine. Arbeiterfamilien, deren Lebensunterhalt traditionell von Hochrisikobranchen wie dem Kohlebergbau - im Südwesten Virginias, den Stahlwerken im Westen Pennsylvanias und der Holzindustrie in Maine abhing, waren nicht nur die ersten Opfer des Opioidmissbrauchs, sie lebten auch noch in Gegenden, Tälern, Orten und Fischerdörfern, die als politisch irrelevant galten und von denen aus Therapieangebote nur durch stundenlange Fahrten zu erreichen waren." Mit anderen Worten: Ideale Bedingungen für eine Katastrophe – die dann auch  prompt eintraf.

Dopesick ist ganz vieles in einem, doch vor allem ist es eine Geschichte der Gier und ihrer Auswirkungen. Eindrücklich zeigt Beth Macy, wie krank der florierende Kapitalismus ist, der im Dienste des Profits keine Grenzen kennt. Konkret: Die FDA (Food and Drug Administration) erlaubte Fernsehwerbung für Medikamente, die nicht unter die Betäubungsmittel fallen. Die Werbeausgaben stiegen sprunghaft an, genauso wie die Gratisproben und andere Gratisgaben an Ärzte. Die Abhängigkeit von den Schmerzmitteln nahm zu, die Kriminalität ebenso, die Zahl der tödlichen OxyContin-Überdosen begann die durch Kokain und Heroin verursachten Todesfälle zu überschreiten.

Apropos die Kriminalität nahm zu. "Als die Metallpreise stiegen, hatte es Sheriff Parsons mit Dieben zu tun, die von der Friedhofsvase aus Kupfer bis zu den Drähten eines Telefonmastes, den Drogensüchtige umgeworfen hatten, alles mitgehen liessen, was sie in die Finger bekamen." Der Sohn eines Pastors klaute seinem Vater die Waffe und machte sie ihm Pfandhaus zu Geld. Am Rande: dass in Nordamerika Pastoren Waffen zu Hause haben, war mir neu.

Einige Ärzte mucken auf, greifen Purdue, den OxyContin-Hersteller, unter anderem wegen der Werbegeschenke an. Haddox, dessen medizinischer Leiter, verteidigt sich. "Andere Pharmaunternehmen machen das doch auch nicht anders", wandte Haddox ein. "Aber wegen Blutdrucksenkern beklauen die Leute nicht ihre Familien oder brechen beim Nachbarn ein", erwiderte (der Arzt) van Zee.

Die Toten häufen sich, der Widerstand nimmt zu, es kommt zu Gerichtsverfahren, Purdue hat im September 2019 Konkurs angemeldet.

So sehr Dopesick ein Buch darüber ist, was die Sucht mit Menschen macht, so sehr geht es auch weit darüber hinaus, zeigt also, wie alles letztlich mit allem zusammenhängt. Es macht unter anderem deutlich, dass der investigative Journalismus nach wie vor einiges bewirkt und belegt mit konkreten Beispielen, dass, entgegen der politischen Parteien-Propaganda, mit Geld in den USA auch die Justiz zu kaufen ist (und dass das Gegenteil manchmal genauso wahr ist).

 Fazit: Vielfältige, überzeugende und notwendige Aufklärung.

Beth Macy
Dopesick
Wie Ärzte und die Pharmaindustrie
uns süchtig machen
Heyne Hardcore, München 2019

Mittwoch, 2. Oktober 2019

Unsere ichbezogene Perspektive

Dass wir inmitten von Millionen Menschen leben, bleibt eine abgedroschene, aussagelose Tatsache, die unsere alltägliche, ichbezogene Perspektive nicht in Frage zu stellen vermag. Es sei denn, unser Blick fällt etwa auf einen Stapel von zehntausend Sandwiches mit Schinken und Senf, alle aus gleich aussehendem, makellosem, baumwollweissem Brot und in identische Plastikhüllen verschweisst, hergestellt in einer Fabrik in Hull. Sandwiches, die eine Vielzahl schier unfassbar unterschiedlicher Mitbürger in den nächsten zwei Tagen essen werden und für die nun – dank der Sandwiches – in unserer inwendig gerichteten Phantasie schlagartig Platz eingeräumt wird.

Alain de Botton: Freuden und Mühen der Arbeit

Mittwoch, 18. September 2019

Die Kunst, bei sich zu bleiben

Anselm Grün sei Deutschlands bekanntester Benediktiner-Mönch und erreiche mit seinen Büchern und Vorträgen ein Millionenpublikum, lässt der Verlag wissen. Die Publikationsliste des 1945 geborenen Mannes ist in der Tat imposant, Träger des Bundesverdienstkreuzes ist er auch noch, und ich frage mich, was so ein umtriebiger Mann (gibt es eigentlich einen Gedanken, den er noch nicht publiziert hat?) über die Mönche, die sich Ende des dritten Jahrhunderts in die Wüste zurückgezogen hatten, eigentlich wissen kann. Mit anderen Worten: Die Öffentlichkeit suchen (Anselm Grün) und sich in die Wüste zurückzuziehen (die Wüstenväter) schliessen sich doch eigentlich aus, oder vielleicht doch nicht?

Das Ziel der Wüstenväter, so Grün, sei gewesen, "ganz und gar vom Geist Jesu Christi erfüllt zu werden und in seiner Seele auf Gott ausgerichtet zu sein und schliesslich mit ihm eins zu werden. Es war letztlich ein mystischer Weg, ein Weg des Einswerdens mit Gott. Aber der Weg zur mystischen Erfahrung ging sehr konkret über die Handarbeit, das Fasten, das Schweigen, den Verzicht zu bewerten und andere zu belehren."

Es findet sich viel Hilfreiches in diesem Buch, allerdings kaum etwas, das ich in anderen, der Spiritualität und Gott verpflichteten Büchern nicht auch schon gelesen habe. Das Heil liegt im richtigen Üben des Richtigen. Und was ist dieses Richtige? Die bedingungslose Liebe Gottes zu erfahren, sofern man Anselm Grün folgt. Was aber, wenn  einem die "Sehnsucht nach einem authentischen christlichen Leben, das ganz und gar vom Geist Jesu geprägt ist und nicht von der Anpassung an den Zeitgeist" abgeht? Ja, wenn man  (jedenfalls den von kirchlichen Institutionen vertretenen) Gott für eine Erfindung der Menschen hält?

Auch dann sind die Ausführungen der Wüstenväter hilfreich. Weil uns Not tut, immer wieder daran erinnert zu werden, worum es im Leben gehen sollte/könnte/müsste. Etwa um Selbsterkenntnis. "Viele sind auf der Flucht vor sich selbst und kommen deshalb nicht zur Ruhe. Sie haben Angst, das Chaos im eigenen Herzen anzuschauen. Und so müssen sie ständig vor sich davonlaufen." Nichts, dass mir mehr einleuchtet als die Forderung, sich zu konfrontieren, mit dem Leben, dem Tod, dem Universum und sich selbst.

Dann allerdings lese ich: "Ein Weg zur Ruhe ist der Verzicht auf das Richten." Mir ist das zu idealistisch, zu lebensfremd.Wie soll das bloss gehen? Ich mag gewisse Leute nicht und natürlich gibt es auch welche, die mich nicht mögen. Ich urteile, richte, bewerte automatisch alles und jedes, und jede und jeden. Weshalb sollte das ein Problem sein? Jedenfalls dann nicht, wenn ich meine eigenen Bewertungen nicht allzu ernst nehme. Überdies finde ich ohne Urteile zu leben auch gar nicht wünschenswert. Ich zum Beispiel finde, die gegenwärtige nordamerikanische Regierung gehöre hinter Schloss und Riegel.weil sie das Primitivste im Menschen fördert.

"Askese heisst Übung, Training. Die Mönche verstanden sich als Sportler Gottes, die sich in die innere Freiheit eintrainierten. Die Askese war die Einübung in die inneren Haltungen, die die Mönchen bei Jesus Christus als den Weg zur wahren Weisheit erkannten. Sie wollten in ihrem täglichen Übungsprogramm freier werden von Abhängigkeiten." Das war mir gänzlich neu, so hatte ich die Askese noch gar nie gesehen. "Und wie ein Sportler enthaltsam ist, um grössere Leistungen zu erzielen, so verstanden sie den Verzicht auf Ehe, auf ausreichende Nahrung und auf Besitz als Weg, ein besserer Athlet zu werden, der die Feinde der Seele erfolgreich bekämpfen und mit den Dämonen siegreich ringen kann."

Doch wie kämpft man gegen die vielen, einen ständig bedrängenden Gedanken? Indem man praktisch-konkret beginnt. "Bekämpfe nicht alle zugleich, sondern nur einen. All die Gedanken, die ein Mönche haben kann, stammen aus einer einzigen Quelle. Du musst herausfinden, welche Quelle das ist und dich mit ihr vertraut machen. Daraus musst du deinen Blick richten. Denn dadurch kannst du auch alle anderen Gedanken besiegen."

Ein Buch, das hilft, sich auf Wesentliches zu besinnen.

Anselm Grün
Die Kunst, bei sich zu bleiben
Was wir von weisen Mönchen lernen können
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2019

Mittwoch, 4. September 2019

The Turning Point

The turning point in any healing of alcoholics or drug addicts is when they admit their illness and ask for aid. In one way or another, we are all addicts of samsara; the moment when help can come to us is when we admit our addiction and simply ask.

Sogyal Rinpoche
The Tibetan Book of Living and Dying

Mittwoch, 28. August 2019

Wie die Wahrnehmung unsere Emotionen beeinflusst

Ich gehe Bücher voreingenommen an. Alle. Bei Unsere 7 Sinne von Rüdiger Braun stört mich der Untertitel 'Die Schlüssel zur Psyche' (schon wieder so ein Angeber, der glaubt, die Psyche zu verstehen!), was mich hingegen neugierig macht, ist die ebenfalls auf dem Umschlag zu findende Verheissung 'Wie die Wahrnehmung unsere Emotionen beeinflusst'.

Wir erleben unsere Welt mittels unserer Sinne. Als die klassischen fünf gelten: Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Tasten. Vom "sechsten Sinn" redet man, wenn jemand etwas bemerkt, ohne es durch die bekannten Sinnesorgane wahrzunehmen. Unter dem "siebten Sinn" versteht Rüdiger Braun das Bauchgefühl, das uns fraglos häufig leitet.

Rüdiger Braun, geboren 1960, hat Biologie und Philosophie studiert sowie eine Ausbildung als Systemischer Coach und Shiatsu-Therapeut absolviert. Er arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist und behauptet in seiner Einführung, beim sogenannten Bauchgefühl handle es sich "um eine eigenständige Wahrnehmungsfähigkeit, die sich trainieren lässt und ein wertvolles Hilfsmittel bei lebenswichtigen Entscheidungen sein kann." Also ich verlasse mich bei lebenswichtigen Entscheidungen lieber nicht auf mein Bauchgefühl, sondern auf eine möglichst nüchterne Analyse. 

Zugegeben, auch Braun redet nicht einfach der Intuition und dem Bauchgefühl das Wort, sondern plädiert dafür, sie mit Erfahrung, Beobachtung und Üben (etwa von Bewegungsabläufen) zu ergänzen. Mit anderen Worten: sich aufmerksam und lernwillig mit den unterschiedlichsten Lebenssituationen auseinanderzusetzen. 

Unsere 7 Sinne berichtet hauptsächlich darüber, worüber heutzutage an Universitäten geforscht wird. Die von Braun vorgelegte Palette ist überaus vielfältig, doch wie das wissenschaftliche Studien eben so an sich haben, grundsätzliche Fragen beantworten sie nicht. Dafür belegen sie oft, was wir sowieso schon wissen, etwa dass die Augen uns verraten, denn sie lügen nicht. Oder dass wer nicht geniesst, ungeniessbar wird. Geniessen lässt sich übrigens lernen, die sieben Grundregeln dazu lauten: Genuss braucht Zeit; Genuss muss erlaubt sein; Genuss geht nicht nebenbei; Wissen, was einem guttut; Weniger ist mehr; Ohne Erfahrung kein Genuss; Genuss ist alltäglich. 

Neben der Bestätigung von Allerwelts-Weisheiten fördern (sozial)wissenschaftliche und psychologische Studien natürlich auch immer wieder Interessantes zutage. "So kontrollieren Japaner ihre Gesichtsregungen weitaus stärker als Europäer. Sie erscheinen uns dadurch undurchsichtiger, wohingegen wir grobschlächtig oder impulsiv auf sie wirken. Auch wird in Japan und China, im Gegensatz zu Europa und den USA, längerer direkter Augenkontakt selbst in persönlichen Gesprächen eher vermieden." Auch wenn diese kulturelle Konditionierung wie Schicksal klingt, sie ist es nicht, denn der Mensch ist durchaus zur Wahl fähig, muss also nicht den herrschenden kulturellen Vorstellungen entsprechen, kann sich auch dagegen entscheiden.

"Obwohl unsere Antennen nur einen Bruchteil dessen empfangen, was die Welt an Signalen zu brieten hat, ist diese Informationsflut immer noch zu gross, um vollständig verarbeitet werden zu können." Wir müssen also auswählen, damit wir in diesem Überangebot nicht ersaufen. Ob wir das auf Basis eines freien Willens oder nach vorgegebenen Kriterien machen, ist umstritten. Rüdiger Braun glaubt, "dass wir unseren Emotionen und Motivationen zumindest nicht vollkommen willenlos ausgeliefert sind." Die meisten werden das vermutlich ähnlich sehen.

Aus der Hirnforschung wissen wir, dass wir unsere Aufmerksamkeit steuern können. Richten wir sie auf Musik, die uns zusagt, werden wir uns beglückt fühlen. Denn Musik, das wussten die Menschen immer schon, wirkt heilsam. So schrieb Charles Darwin in seiner Autobiografie: "Wenn ich mein Leben noch einmal leben müsste, würde ich mir eine Regel auferlegen, mindestens einmal pro Woche Musik zu hören und Gedichte zu lesen. Dann wären durch diese Übung die Teile meines Gehirns, die inzwischen verkümmert sind, vielleicht noch aktiv."

Rüdiger Braun will dazu ermuntern, den Sinnen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Die Übungen, Tests und kleinen Experimente, die er am Schluss des Buches zusammengestellt hat, können dabei helfen.

Rüdiger Braun
Unsere 7 Sinne
Kösel Verlag, München 2019

Mittwoch, 21. August 2019

Let go of your plan

Letting go can feel so unnatural. We work hard for a promotion, a relationship, a new car, a vacation. Then the universe has the gall to come along and mess up our plans. How dare it! And so, rather than opening ourselves to the experiences that await us, we hold on to the plans that we made for ourselves. Or we hold on to bitterness about our plans going awry.

Sometimes losing our dreams and plans for our future can hurt as much as losing a tangible thing. Sometimes accepting and releasing our broken dreams is part of accepting a loss.

Let go of your expectations. The universe will do what it will. Sometimes your dreams will come true. Sometimes they won’t. Sometimes when you let go of a broken dream, another one gently takes its place.

Be aware of what is, not what you would like to be, taking place.

Mittwoch, 14. August 2019

Vom Glück des Wanderns

Um praktisches Wissen gehe es ihm, schreibt Albert Kitzler, "das das menschliche Leben zum Gegenstand hat." Und er behauptet: "Weise nennen wir nicht jemanden, der viel weiss, sondern der zu leben versteht, der es versteht, mit sich selbst und den anderen umzugehen und die vielfältigen Herausforderungen des Lebens im beruflichen wie im privaten Bereich meistert, auch und gerade dann, wenn es schwierig und leidvoll ist. Weisheit ist Wissen und Können, das heisst die Umsetzung des Wissens im täglichen Leben."

Das ist wohltuend zu lesen und erinnert mich an Ajahn Sumedho, einen nordamerikanischen Theravada-Mönch, der bei einer Meditation in Bangkok gesagt hat (ich zitiere aus dem Gedächtnis): "Meine Damen und Herren, sollten Sie zum Schluss gelangt sein, was ich gerade ausgeführt habe, sei interessant gewesen, so haben Sie mich gründlich missverstanden, denn interessant kann so ziemlich alles sein, auch das Liebesleben der Bienen. Doch das ist nicht, worauf es mir ankommt. Entscheidend ist, ob meine Ausführungen hilfreich waren, ob sie Ihnen dazu dienen können, Ihr Leben qualitativ zu verbessern."

Darum geht es auch Albert Kitzler, der sich nicht nur bei den grossen Denkern der westlichen und fernöstlichen Antike auskennt, sondern Wesentliches auch von seinem Onkel, einem Landwirt, und von und in der Natur gelernt hat.

"Wir verfolgen kein Ziel, wir gehen nicht zu einem Ort, an dem wir etwas zu erledigen haben. Wir verfolgen keine andere Absicht, als zu gehen, zu uns zu kommen, unseren Körper zu fordern, eine Etappe zu bewältigen, eine Gegend kennenzulernen, Eindrücke, Aussichten und das Wetter zu geniessen oder ihm zu trotzen."

Der Philosophie-Coach Albert Kitzler, geboren 1955,  war Filmproduzent und Medienanwalt und bietet, so der Klappentext, seit 2010 "Seminare, Matineen, Vorträge und philosophische Urlaube sowie Einzel- und Unternehmensberatungen an", ist also ziemlich umfassend unterwegs. Und auch Vom Glück des Wanderns. Eine philosophische Wegbegleitung lässt kaum etwas aus – obwohl ein passionierter Bücherleser, fühlte ich mich von der Fülle geballten Wissens regelrecht erschlagen. Kaum ein Gedanke findet sich in diesem Buch, der nicht mit einem philosophischen oder literarischen Zitat untermauert wird. Das will nicht heissen, dass Albert Kitzler nicht selber denkt  – ganz im Gegenteil! – , das meint nur, dass weniger gelegentlich mehr gewesen wäre.

Trotz der vielen Hinweise auf Gelesenes und Studiertes überzeugt Vom Glück des Wanderns. Eine philosophische Wegbegleitung sowohl durch einen ausgeprägt persönlichen wie auch praktischen Bezug. "Für mich ist der Aspekt innerer Sammlung beim Wandern einer der wichtigsten ... Auch jenseits von Wanderungen ziehe ich mich regelmässig in mich selbst zurück, versuche still zu werden, in mich hinein zu horchen, mich zu spüren und mich in meiner Mitte einzurichten ...".

Das erfordert Übung, stetige Übung. "Es ist schwer, sich selbst zu Verhaltens- und Denkweisen zu erziehen, die uns dauerhaft guttun, vor allem am Anfang." Sowieso, sonst könnte es ja jeder (und jede). Und so mühsam sich das anhören mag, es wäre auch eine Welt vorstellbar, wie der Schweizer Autor Hans Albrecht Moser einmal geschrieben hat, wo es diese Möglichkeit des Übens nicht gibt.

"Es mag bisweilen anstrengend gewesen sein", schreibt der Autor zum Schluss, "aber umsonst gewähren die Götter nichts." Das kann schon sein, doch etwas mehr Leichtigkeit hätte dem Glück des Wanderns nicht geschadet. Deshalb ein Tipp: Leichter wird die Lektüre, wenn man dieses Buch in kleinen Häppchen zu sich nimmt.

Albert Kitzler
Vom Glück des Wanderns
Eine philosophische Wegbegleitung
Droemer Verlag, München 2019

Mittwoch, 7. August 2019

Let go of everything, you dweller in distraction!

Listen up, old bad karma patrol. You dweller in distraction. For ages now you have been beguiled, entranced and fooled by appearances. Are you aware of that, are you? Right this very instant when you are under the spell of mistaken perception, you have got to watch out. Don't let yourself get carried away by this fake and empty life. Your mind is spinning around, carrying out a lot of useless projects. It's a waste. Give it up. Thinking about the hundred plans you want to accomplish with never enough time to finish them, just waive down your mind. You are completely distracted by all these projects which never come to an end, but keep spreading out more like ripples in water. Don't be a fool. Just sit tight. You beat your little drum and your audience thinks it is charming to hear. You are reciting words about offering up your body, but you still haven't stopped holding it dear. All this Dharma practice equipment that seems so attractive. Forget about it. If you let go of everything, everything, everything. That's the real point. Even though you don't know how to practice, you must let go of everything. That's what I really want to say.

A vagabond wandering Tibetan monk, around 1900.

Mittwoch, 31. Juli 2019

Die dunklen Welten der Depression

"Die dunklen Seiten der Depressions" lautet Andrew Solomons Saturns Schatten im Untertitel, das von John Berger als "das ungewöhnliche Zeugnis eines Leidens – Aufrichtigkeit gepaart mit Aufklärung" charakterisiert wurde. Als Motto ist  dem Buch dieses Zitat von Michael Bulgakov (aus: "Die weisse Garde") vorangestellt: "Alles wird vorübergehen: Leiden, Qualen, Hunger, Blut und Massensterben. Das Schwert wird verschwinden, aber die Sterne werden auch dann noch da sein, wenn von unseren Leibern und Taten auf Erden kein Schatten mehr übrig ist. Die Sterne aber werden immer so da sein, schön und flimmerig. Es gibt keinen Menschen, der das nicht wüsste. Warum also wollen wir unseren Blick nicht zu den Sternen erheben? Warum?"

Dieses Buch, so der Dozent für Psychiatrie an der Cornell University, der, wie er betont, weder Arzt noch Psychologe und auch nicht Philosoph ist, handle in erster Linie vom Lebenskampf schwer geprüfter Männer und Frauen, die ihm ihre Lebensgeschichten erzählt hatten. "Ich möchte einen Beitrag zur Aufklärung von Ärzten und Patienten leisten, damit es ihnen gelingt, die Qualen der Depression zu überwinden."

Saturns Schatten ist ein höchst aufschlussreiches Werk, entstanden aus persönlicher Betroffenheit, das unter anderem klar macht, dass die Depression in einem inneren Zusammenhang mit dem Charakter steht. "Einige Menschen bringen es trotz entsetzlicher Symptome im Leben zu etwas, andere sind schon bei den leichtesten Anflügen der Krankheit völlig am Boden zerstört."

Solomon holt weit aus und bemerkt etwa zum Aufstieg des Supermodels, dass dieses das Selbstbild der Frau beschädigte, indem es unrealistische Erwartungen begründete, und er zitiert unter anderen Schopenhauer mit den Worten: "Unsere Empfindlichkeit für den Schmerz ist fast unendlich, die für den Genuss hat enge Grenzen." Das meint, "dass wir in der Regel, die Freuden weit unter, die Schmerzen weit über unserer Erwartung finden .... Sogar bedarf Jeder allzeit eines gewissen Quantums Sorge, oder Schmerz oder Noth, wie das Schiff des Ballasts, um fest und gerade zu gehen." Wie sagt doch die russische Redensart: Wenn du aufwachst und keine Schmerzen hast, weisst du, dass du tot bist.

Von allen möglichen Seiten beleuchtet Solomon die Depression, geht auf Therapien, Historisches, Armut, Politik und Evolution ein. Und auch auf die Sucht, bei der er auf interessante Untersuchungen hinweist. "Von allen, die je eine Zigarette rauchen, werden ein Drittel in der Folge nikotinsüchtig, bei Heroin sind es etwa ein Viertel, beim Alkohol rund ein Sechstel." Doch weshalb hat Nikotin im Vergleich zu Alkohol ein derart hohe Suchtwirkung? Weil die negativen Aspekte des Nikotrin-Genusses relativ spät auftauchen und der furchtbare Kater am anderen Morgen den Alkoholkonsum in gewissen Grenzen hält.

Saturns Schatten überzeugt nicht zuletzt der eindrücklichen Geschichten wegen. Etwa diese hier. "Wenn Elefanten in Nepal einen Splitter oder Dorn im Fuss haben, kippen die Treiber ihnen Chili ins Auge, worauf sie so sehr mit der brennenden Bindehaut beschäftigt sind, dass man den Dorn entfernen kann, ohne totgetrampelt zu werden. (Der Pfeffer ist schnell wieder ausgeschwemmt). Bei vielen Melancholikern erfüllt Alkohol, Kokain oder Heroin die gleiche Funktion wie das Chili, nämlich als etwas Unerträgliches, dessen Scheusslichkeit von der noch unerträglicheren Depression ablenkt."

Höchst Aufschlussreiches erfährt man auch im Kapitel über Therapien, worin Solomon auch seine völlig absurd anmutende Odyssee auf der Suche nach einem Therapeuten beschreibt. Was macht einen guten Therapeuten aus? "Die guten Psychiater liessen den Patienten erst über sich berichten und stellten dann sofort eine  Reihe von ganz gezielten Fragen, um bestimmte Informationen zu erhalten." Zudem: "Jemand, mit dem du dich tief verbunden fühlst, kann dir wahrscheinlich schon durch lockeres Plaudern sehr helfen, und wenn diese Voraussetzung fehlt, können die ausgefeilteste Technik und die beste Qualifikation wenig ausrichten."

Saturns Schatten ist ein sehr gut geschriebenes und enorm hilfreiches Buch.

Andrew Solomon
Saturns Schatten
Die dunklen Welten der Depression
FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main, April 2019

Mittwoch, 17. Juli 2019

Walking Meditation

In the 1990s, I spent a lot of time in Thailand, and mostly in Bangkok, where I regularly attended Buddhist lectures followed by meditation practice. Sitting meditation was definitely not my cup of tea, walking meditation however appealed to me.

Stand still, look where you want to go, plant that in your head, and now concentrate on your feet, on your walking. Keep in mind: "What arises, ceases. Thoughts will come and go, let them do that but do not cling to them", I remember a monk saying. "Gently come back to concentrate on your feet, how they touch the ground, how you lift them up, and put them down again. Be aware of your sensations, let them come and go. You are on the move - take it easy, do not get too attached to any particular part of the journey."

It might be, of course, that I do not remember correctly or that I misunderstood but what I've just described is what I daily practise. And, it clearly helps to be in the present.

To be where I am, not just physically but also mentally - this is the only goal I find worth pursuing.

Hans Durrer 2019

Mittwoch, 3. Juli 2019

Von der Kunst, Dinge zu sehen

Zwei Essays versammelt dieser Band des 1837 als siebtes von zehn Kindern auf einer Meierei in den Catskill Mountains bei Roxbury in Delaware County (New York) geborenen John Burroughs: Von der Kunst, die Dinge zu sehen sowie Von der Heiterkeit der Landstrasse.

Natürlich ist genaues Beobachten wichtig, doch es genügt nicht. Bei der Kunst, die Dinge richtig zu sehen, geht es deswegen nicht einfach darum, aufmerksam durch die Welt zu gehen, sondern auch darum, dass dies auf der Grundlage der Liebe geschieht, denn: "Die Liebe ist das Mass des Lebens." 

Es geht John Burroughs nicht allein ums Sehen, sondern um die richtige Wahrnehmung. Ihm schwebt ein Mensch vor, der voll und ganz präsent ist. "Er begegnet allen äusseren Eindrücken mit lebendiger Aufmerksamkeit." Und: "Er ist so feinfühlig, dass er bei seinem Abendspaziergang die lauen und kühlen Lüfte in der Luft spürt, seine Nase die flüchtigsten Düfte und seine Ohren die verborgensten Geräusche wahrnehmen." 

Die Beobachtungsgabe kann geübt, die Aufmerksamkeit trainiert werden. Wem es ums wirkliche Sehen zu tun ist, wird lernen, seine Sinne auf die Welt zu richten. "Wenn man mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt ist, dann geht man womöglich durch ein Museum mit Kuriositäten und betrachtet gar nichts."

Die Dinge langsam angehen, innehalten, verweilen – John Burroughs zeigt an ganz vielen Beispielen aus seiner Naturbeobachtung, was er dabei alles entdeckt. Von der Kunst, die Dinge zu sehen ist so recht eigentlich ein wunderbarer Essay über die Achtsamkeit, die es schon gab, bevor der Begriff in Mode gekommen ist.

Dem zweiten Essay in diesem schmucken Bändchen, Von der Heiterkeit der Landstrasse, ist ein Walt Whitman-Zitat vorangestellt, das den Geist dieses Textes treffend charakterisiert: "Zu Fuss und leichten Herzens finde ich Gefallen an der freîen Landstrasse." Er zitiert auch Shakespeare, nach dem die wichtigste Voraussetzung für den Gehenden ein frohes Herz sei.

Auch über die Unterschiede der Amerikaner und der Engländer als Fussgänger lässt er sich eingehend aus; er ist überzeugt, dass das Gehen den wahren Charakter des Menschen zum Vorschein bringt.

Aus dem Nachwort von Klaus Bonn erfahre ich, dass John Burroughs "zwischen  den Jahren 1870 und 1920 der berühmteste und vor allem populärste Nature Writer in den USA" gewesen ist. Gut 1,5 Millionen seiner Bücher waren bei seinem Tod im Jahre 1921 gedruckt worden – eine immense Zahl generell und für die damalige Zeit ganz besonders. Henry James schrieb einmal, Burroughs sei "eine Art reduzierter, aber auch humorvollerer, zugänglicherer und umgänglicherer Thoreau." Wahrlich Grund genug, ihn zu lesen!

John Burroughs
Von der Kunst, Dinge zu sehen
Essays
Limbus Verlag, Innsbruck - Wien 2019

Mittwoch, 19. Juni 2019

A ramshackle collection of coincidences

You see, dear reader, speaking frankly and without any intention to offend, you are a ramshackle collection of coincidences, held together by a desperate and irrational clinging. There is no center at all. Everything depends on everything else. Your body depends on the environment. Your thoughts depend on whatever junk flows in from the media. Your emotions are largely from the reptilian end of your DNA. Your intellect is a chemical computer that can't add up a thousandth as fast as a pocket calculator. And even your best side is a superficial piece of social programming that will fall apart just as soon as your spouse leaves with the kids and the money in your joint account, or the economy starts to fail and you get the sack, or you get conscripted into some idiot's war. To name this amorphous morass of self-pity, vanity and despair self, is not only the hight of hubris, it is also prove, if anyone needed, that we are above all a disillusional species. We are in a trance from birth to death. Brick the balloon and what do you get? Emptiness. Take two steps in the divine art of Buddhist meditation, and you find yourself on a planet you no longer recognize. Those needs and fears that you thought were the very bones of your being turn out to be no more than bugs in your software.

John Burdett: Bangkok Tattoo

Mittwoch, 5. Juni 2019

Trusting Ourselves

What a great gift we've been given - ourselves. To listen to ourselves, to trust instinct and intuition, is to pay tribute to that gift.

What a disservice not to heed the leadings and leanings that so naturally arise from within. When will we learn that these leadings and leanings draw us into God's rich plan for us?

We will learn. We will learn by listening, trusting, and following through. What is it time to do?... What do I need to do to take care of myself?... What am I being led to do?... What do I know?

Listen, and we will know. Listen to the voice within.

Mittwoch, 29. Mai 2019

Kleine Veränderungen mit grosser Wirkung

Als ich dieses Buch zur Hand nehme, frage ich mich unwillkürlich, ob es nach all den Büchern über Zen, die ich gelesen habe, wirklich noch ein anderes braucht. Doch, ja, denn obwohl ich, wie ich glaube, für mich Wesentliches über Zen begriffen habe, muss ich immer wieder daran erinnert werden, da ich allzu leicht und immer wieder vergesse (und neu akzeptieren lernen muss), dass Zen entscheidend im Üben besteht.

"'Zen' ist die grundlegende Lehre für das Leben der Menschen in unserer Welt. Anders gesagt, es ist eine Übung, eine Denkweise, und sie gibt Hinweise, wie der Mensch glücklich leben kann. Eine Schatzkammer für tiefe, aber leichte Lebensweisheiten."

Im Zen geht es darum, das eigene Dasein im Hier und Jetzt zu erfahren, einfach zu leben und damit wesentlich zu werden. Dazu ist erforderlich, Gewohnheiten ein bisschen zu verändern. "Probiere einmal, dir Zeit zu nehmen, gar nichts zu tun – wenn es dir nur zehn Minuten am Tag gelingt, genügt das schon." Das klingt leicht, doch wer es versucht hat, weiss, dass es das nicht ist, denn dauernd gehen einem Gedanken durch den Kopf, die einen in die Vergangenheit oder die Zukunft entführen.

Der 1955 geborene Priester, Zen-Garten-Architekt und Professor Shunmyo Masuno gibt in Zen Your Life viele praktische Hinweise, wie wir gut leben können. "Versuch, gerade wenn du viel zu tun hast, 15 Minuten früher aufzustehen als sonst (...) Und wenn du in Ruhe eine Tasse Tee oder Kaffee geniesst, betrachte den Himmel aus dem Fenster. Vielleicht hörst du kleine Vögel zwitschern."

Zen Your Life erinnert mich ständig an Offensichtliches, dem ich viel zu wenig Aufmerksamkeit schenke. Etwa dass jeder Tag anders ist. "Der Geschmack der Morgenluft, der Moment des Sonnenaufgangs, der Wind, der über die Wange streicht, die Farben der Bäume und die des Himmels, all das verändert sich ständig."

Kleine Veränderungen mit grosser Wirkung heisst der Untertitel und beschreibt damit genau, worum es in diesem handlichen Buch geht, das man nicht am Stück lesen sollte, sondern in kleinen Stückchen, am besten Tag für Tag. Das Ziel dabei ist, einfach zu werden. "In einem einfachen Leben geht es darum, die physischen und geistigen Lasten abzuwerfen. Das ist die Grundlage des Lebens nach dem Zen-Prinzip."

Zen Your Life ist in 4 Kapitel und insgesamt 100 Schritte unterteilt; es eignet sich bestens, den Tag mit jeweils einem der Schritte zu beginnen.

Fazit: Ein wirklich hilfreiches Buch!

Shunmyo Masuno
Zen Your Life
Kleine Veränderungen
mit grosser Wirkung
FISCHER Krüger, Frankfurt am Main 2019