Dienstag, 26. April 2022

Das Tier in uns


Did Frank love nature or fair play?, heisst es in Evelyn Waughs The Loved One. Martin Bleif sieht hingegen Fairness nicht als Gegensatz zur Natur, sondern als "eine universelle, kulturunabhängige, menschliche Eigenschaft", die, wie auch der Sinn für Gerechtigkeit und Empathie, "im Gespür für gemeinsame Ziele und gegenseitige Abhängigkeit verwurzelt ist."

Das Tier in uns ist ein beeindruckendes, vielfältig anregendes Werk – leichte Kost ist es nicht; ich jedenfalls musste mich ziemlich anstrengen und bin mir recht sicher, dass ich vieles nicht verstanden habe, obwohl ich die Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Wissen  des Autors spannend fand. Ganz besonders angesprochen hat mich die Mischung von Persönlichem und Sachlichem, auch natürlich, weil Sachliches und Persönliches sich nur theoretisch trennen lassen.

Mein Interesse an diesem Werk gründet auf meinem eigenen Lebensweg  war es für mich als Jugendlicher keine Frage, dass wir wesentlich von sozialen Gegebenheiten beeinflusst sind, ist es heutzutage ziemlich umgekehrt, sehe ich die Biologie als dominanter als die Kultur. Doch selbstverständlich ist es etwas komplizierter  und genau dies zeigt Martin Bleif überzeugend auf.

Das für mich Erhellendste: Freiheit ist keine biologische Kategorie. Sicher, man kann darüber streiten, ob es Freiheit überhaupt gibt oder eine besonders raffinierte Art von Selbstbetrug darstellt. Es versteht sich: Wir sind durch unsere Biologie begrenzt und zumeist auf Autopilot unterwegs (zugegeben, ich rede von mir), doch wir können entscheiden, wie wir auf etwas reagieren oder was wir gestalten wollen. "Wir sind freier als Tiere, unser WIR und den Stellenwert der Gruppe aktiv zu verändern, zu verschieben oder zu erweitern."

Das Tier in uns ist ein bemerkenswert umfassendes Buch: Da kommt eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Thesen Thilo Sarrazins genau so vor, wie "Eine kurze Geschichte der Menschenrechte", kommen die kulturgeschichtlichen Einschätzungen von Steven Pinker und Norbert Elias ebenso zur Sprache wie die Fossilienfunde des Barons de Cuvier, die zeigten, dass in der Vergangenheit Arten existierten, die es heute nicht mehr gibt.

"Dürfen wir Wahrnehmungen trauen?" lautet einer der Zwischentitel und wird, wie bei Büchern von Akademikern üblich (der Autor ist ausgebildet in Literatur- und Sprachwissenschaft sowie in Medizin), nicht mir Ja oder Nein, sondern mit Relativierungen beantwortet: Zum Einen ist Wahrnehmung immer selektiv, zum Andern ist sie subjektiv. Doch: "Objektkonstanz is eine konstruktive Leistung des Gehirns. Sie ist nicht nur nützlich, sie hat auch den zwingenden Charme der Plausibilität." Zu beachten gilt allerdings, dass das Gehirn "kohärenzverliebt" ist, und das meint: "Es neigt dazu, aus Schnipseln eine möglichst kohärente Geschichte, sein 'Narrativ', zu basteln." Am besten ist dem dadurch zu begegnen, indem man so wach wie möglich durch den Tag geht.

Das Tier in uns ist reich an faszinierenden Untersuchungen. Ein Beispiel soll hier erwähnt werden, das Priming, die Eigenart des Gehirns, Assoziationen herzustellen. So führte etwa das alternierende Poster einer Blumenwiese und eines Augenpaares neben der Kasse der Kaffeemaschine dazu, dass die eingezahlten Geldbeträge massiv variierten. Während der "Augenwochen" waren sie zwei bis sechsmal höher.

"Wer Menschen als Egoisten bezeichnet, unterstellt meist Kalkül und meint, Entscheidungen würden bewusst getroffen, um sich Vorteile gegenüber den Mitmenschen zu verschaffen." Egoisten sind in der Tat so, doch Menschen sind nicht nur Egoisten (viele erfolgreiche hingegen sind es). "Evolution optimiert nicht zwangsläufig zu egozentrischen Kampfmaschinen", so Martin Bleif, der die Vorstellung, der Wolf in uns müsse durch die Institutionen der Zivilisation im Zaum gehalten werden, für einen Mythos hält.

Fazit: Höchst anregende und hilfreiche Aufklärung.

Martin Bleif
Das Tier in uns
Die biologischen Wurzeln der Menschlichkeit
Klett-Cotta, Stuttgart 2021 

Mittwoch, 20. April 2022

Breaking Habits

By the side of the road, 15 April 2022

Most of the time, I'm on autopilot – and that's a good thing for it would simply be too much to have to constantly think that I need to breathe in and out. On the other hand, however, I do find it increasingly irritating that my ingrained habits seem to be in charge of my life.

The other day, after buying groceries at the local supermarket, I came across bargain books that I – being a book addict – couldn't resist having a look at. No, not today, I said to myself, I still have far too many unread books at home. And so I didn't buy one but on the bus back home there was this thriller on my mind that I had laid eyes on and whose author was familiar to me. As soon as I arrived home, I took another bus (the ride takes only a couple of minutes) back to the store, picked up the book and started reading ... put it back ... and went home again. How come? There seems to be a short gap between the thought and the action ... an opportunity to briefly stop the autopilot.

By the way, when waiting for the bus I did not look at my cell phone and instead spotted the flower pictured above ... that I photographed with my cell phone ...

Donnerstag, 14. April 2022

Anleitung für dein Leben

"Hallo, mein Name ist Dr. Soph,
ihr könnt mich Soph oder Sophie nennen.
Ich bin klinische Psychologin."

Dann schauen wir mal, was Frau Mort (ich lege weniger Wert auf akademische Titel als sie es offenbar tut, sonst würde sie – und der Verlag – ihn kaum erwähnen) so zu sagen hat. Viel Vernünftiges, so mein erster Eindruck. "Statt uns zu ermutigen, uns so anzunehmen, wie wir nun einmal sind, mit allen Makeln und Schwächen, verlangt man von uns, eine bestimmte Rolle zu spielen, die wir nach aussen hin jederzeit zu präsentieren haben. Dadurch verbergen wir unser wahres Empfinden – sogar vor uns selber." Und: "Dieses Buch erklärt euch, wie ihr durch eure Umwelt geformt wurdet. Und dass sich gelegentlich eher die Gesellschaft ändern müsste als ihr." Insbesondere der letzte Satz kann nicht genug betont werden, denn es ist kein Zeichen geistiger bzw. seelischer Gesundheit, in einer so kranken Gesellschaft wie der unseren, erfolgreich zu sein. Siehe auch hier.

"Statt zu lernen, wie wir mit unseren Emotionen und Beziehungen umgehen können – unsere häufigsten Stolpersteine als Erwachsene – , bekommen wir gewöhnlich beigebracht, dass es eine Hierarchie von Schulfächern gibt." Und weshalb ist das so? "Sich Zeit zu lassen, durch Versuch und Irrtum zu lernen, Kreativität und Spass zu geniessen – all das brachte die industrielle Entwicklung nicht weiter, und deshalb wurden diese Dinge schlichtweg nicht geschätzt." Das ist auch heute noch so, doch die Schule schlecht machen will die Autorin deswegen nicht. Stattdessen tut sie, was Psychologinnen eben so tun – sie will uns helfen, uns in einem System wohl zu fühlen, das überhaupt nicht auf unser Wohlbefinden ausgerichtet ist.

"Deine Noten sagen nichts  darüber aus, wer du bist", lautet einer der Zwischentitel, ein anderer "Stress ist nichts Schlechtes –  in kleinen Dosen". Dass solche Selbstverständlichkeiten Erwähnung finden, zeigt schon fast überdeutlich, wie prekär es um unsere Seelen stehen muss. 

Sophie Mort geht bei ihrer Hilfestellung strukturiert vor und bedient sich dabei einer einfachen, klaren Sprache. Gleichwohl argumentiert sie differenziert. "Denk immer daran: Fast jeder will sich einfügen." Man beachte das "fast", denn nicht jeder will. Ich zum Beispiel wollte dies fast nie und will es mittlerweile überhaupt gar nicht mehr. Und dann diese beiden ganz wunderbar hilfreichen Sätze: "Die meisten Menschen konzentrieren sich auf sich selber und nicht auf dich. Das kann eine befreiende Erkenntnis sein." In der Tat!

Besonders aufschlussreich fand ich das Kapitel "Werbung, Medien, soziale Netzwerke", in dem unter anderem eine Studie aus dem Jahr 2019 erwähnt wird, die gezeigt hat, "dass die Lebenszufriedenheit einer ganzen Nation 'signifikant' sinkt, wenn ein Land mehr Geld für Werbung ausgibt." Liegt ja eigentlich auf der Hand, oder? Werbung bewirkt nämlich, dass wir immer mehr wollen, kein Wunder, werden wir immer unzufriedener.

Dass soziale Medien süchtig machen, ist bekannt. Was kann man dagegen tun? Sophie Mort gibt in diesem Buch viele nützliche Kurztipps, die zwar recht banal, doch von "common sense" geprägt sind. "Mein Wert bemisst sich nicht nach der Zahl der Likes, die ich bekomme, oder der Follower, die ich erreiche, oder durch irgendeine andere Zahl."

Anleitung für dein Leben ist geprägt von der Vorstellung: Wissen hilft. Nehmen wir zum Beispiel Emotionen. Dazu gibt es wie immer wissenschaftliche Theorien; Sophie Mort leuchtet vor allem die sogenannte Theorie der konstruierten Emotionen ein, die im wesentlichen besagt, dass unser Gehirn nicht auf die unmittelbare Welt reagiert, sondern vorausschauend darauf eingeht, was es prognostiziert. Anders gesagt: Wir antizipieren andauernd, was als vermutlich als Nächstes passieren wird. Und wir tun dies auf der Basis unseres Gedächtnisses bzw. unserer Erfahrungen. Wir sind Sklaven unserer Gefühle. Doch das muss nicht so bleiben; dieses Buch zeigt unter anderem wie eine solche Befreiung gehen kann.

Dass eine klinische Psychologin ein positives Bild von Therapie hat, erstaunt nicht. Nur eben: Gelegentlich schiesst sie übers Ziel hinaus. So schreibt sie: "Eine diagnostizierte. psychische Erkrankung kann erkannt, behandelt und gewöhnlich auch geheilt werden." Ich sehe das weit weniger optimistisch und gehe so recht eigentlich davon aus, dass wir Menschen, vor allem die diplomierten, uns generell überschätzen. Zudem: Die Psychologie ist keine Wissenschaft, auch wenn sie mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet. Nichtsdestotrotz: Anleitung für dein Leben ist ein überaus nützliches Werk, pragmatisch, englisch-nüchtern sowie reich an Tipps, Selbsthilfemassnahmen und praktischen Übungen

Dr. Sophie Mort
Anleitung für dein Leben
Alles, was du wissen musst, um dich selbst
besser zu verstehen und glücklich zu werden
Penguin Verlag, München 2022

Dienstag, 12. April 2022

Meine Büchersucht

 Meine Büchersucht hat mir ungemein wertvolle Erkenntnisse beschert. So lernte ich von John Szarkowski, dass man nur Bücher besprechen sollte, die man mag; von Janet Malcolm, dass alles im Leben uneindeutig ist ausser vor Gericht; von Dostojewski, dass es Gefühle gibt, die wir sogar vor uns selber verheimlichen; von Dainin Katagari, dass man seine Sehnsüchte vergessen und sich um seinen Alltag kümmern solle.

Bücher, mit denen ich starke Emotionen verbinde. Ayn Rand: The Fountainhead; Lionel Shriver: Wir müssen über Kevin reden; Amy Waldman: The Submission; Hanya Yanagihara: Ein kleines Leben … Merke gerade, dass das alle Frauen sind … Klar, es gäbe auch Männer … Doch lassen wir das, es war eine ganz spontane Aufzählung, willkürlich, aus dem Moment heraus.

Nur eben: Die vielen gelesenen und ungelesenen Bücher erdrücken mich auch, nehmen mir die Luft zum Atmen. Nietzsche: „Die Krankheit gab mir insgleichen ein Recht zu einer vollkommenen Umkehr aller meiner Gewohnheiten; sie erlaubte, sie gebot mir Vergessen … Meine Augen allein machten ein Ende mit aller Bücherwürmerei, auf deutsch: Philologie: ich war vom ‚Buch‘ erlöst … die grösste Wohltat, die ich mir je erwiesen habe! – Jenes unterste Selbst, gleichsam verschüttet, gleichsam still geworden unter einem beständigen Hören-Müssen auf andre Selbste – (und das heisst ja lesen!) erwachte langsam, schüchtern, zweifelhaft, – aber endlich redete es wieder.“

Samstag, 9. April 2022

Birds in the Park

Lately, I spent a few days in Porto. It was my first visit to this town and I was astonished what a popular tourist destination it seemed to be. I spent my time walking around town and taking photographs. I often do not know what I'm looking at (the story behind a façade does not particularly interest me), I simply frame what pleases my eyes.
After I had skipped a visit to the famous Livraria Lello (the line of people trying to get in was about 150 meters long) and got somewhat tired of the really fabulous old town, I resorted to the area close to my hotel that looked totally unspectacular to me. Yet there I discovered two parks populated mainly by clochards, pensioners and birds resting on the branches of the various trees before taking off again in order to do their rounds in a truly elegant fashion. 
What comes to mind when thinking back to my time in Porto is my sitting idly on the benches of these two parks and watching the birds performing. Whatever you do, do it well, they seemed to say. And, if possible, elegantly.

Freitag, 1. April 2022

The present is a present

The present is a present. It is rare that I'm aware of it. The times I've tried to change that and become more conscious of it were so many that I cannot count them. I've seemed to embark on new beginnings so often that I wonder why I haven't given up. I'm still wondering.

Postponement can get to be a disease, says a note pinned to my wall. I hardly ever look at it. And if I do,  the effect it has isn't actually lasting. Knowing doesn't help much, or so it seems. Might it be possible to redirect my attention and focus on the here and now? I guess I will definitely start next Monday ... 

This has been my approach for most of my life. And, it feels that it needs changing. My thinking needs changing, that is, for it tells me that there is a beginning and an end. The reality that I experience however is different – it simply is. My only task, therefore, is to simply be.