Mittwoch, 26. Oktober 2016

Kalin Terzijski: Alkohol

Auf dem Umschlag von Alkohol, bei Ink Press in Zürich erschienen, sind Kalin Terzijski und Dejana Dragoeva als Autoren aufgeführt, doch nur von Kalin Terzijski erfährt man, wer er ist: Ein studierter Mediziner, der einige Jahre als Psychiater gearbeitet hat. Im Prolog beschreibt Dejana Dragoeva ihre Mitarbeit bei diesem Buch so: "Meine 'unsichtbare' Rolle bestand darin, die Linien vorzuzeichnen, auf welchen alle Seiten geschrieben wurden. Die Seiten so zusammenzufügen, dass aus einem verstreuten Puzzle unzusammenhängender Gedanken eine Geschichte sowohl mit einer Story als auch mit einem Plot entstand."

Kajo, der Protagonist der Geschichte, wollte schon als Kind Alkoholiker werden, denn er empfindet das Leben als sinnlos. "So gelangte ich zur diffusen, aber immer stärker werdenden Überzeugung, dass ich Alkoholiker werden musste." Er schildert das als einen bewussten Entscheid, zimmert sich rationale Gründe zurecht und glaubt sie offenbar. "Der Rausch ist der einzige Zustand im Leben, der sich lohnt." 

Ich kann mit solchen wenig inspirierenden Selbstrechtfertigungen, die sich gelegentlich als ziemlich abstruses Loblied auf Alkoholiker lesen ("Die Freiheit des Alkoholikers liegt darin, dass er die Welt nicht ändern will.") nichts anfangen, sie ermüden mich nur; andere Aspekte dieses Buches sprachen mich weit mehr an. Die Schilderungen aus der Psychiatrie etwa, als er "der seriöse, traurige, nette, kühle, grausame Arzt gewesen war, der durch die Alleen zwischen den Baracken der Klinik umherwanderte und versuchte, seine eigene Seele zu retten, indem er seine Hand ängstlich den Seelen der anderen entgegenstreckte. Der von der Welt verlassenen Verrückten."

Als er dann die Medizin, die Familie (von seiner Frau und seinem Kind erfahren wir nicht viel  das ist nicht weiter verwunderlich, Alkoholiker sind fast ausschliesslich mit sich selber beschäftigt) und das sogenannt normale Leben aufgibt, "war ich in den Kreisen der normalen Menschen nicht mehr erwünscht."

Doch was sind normale Menschen? Was ist ein normales Leben? 
"Normal nenne ich aus Gewohnheit jene, die vor allen Angst haben, die anders sind als sie. Es graut ihnen vor dem Scheitern, und deshalb hüllen sie sich in Überheblichkeit ein. In diesen Kreisen  der normalen Menschen  sind Verräter gar nicht willkommen. Verräter nennen die Normalen jene, welche der Idee der Unterwerfung unter den gigantischen Mechanismus  unter die Fleischmühle, in welche lebende, blutige Körper eingehen und unmenschliche Werbegesichter und Autobiografien aus Pappe herauskommen  fremdgegangen sind."

Im Laufe der Geschichte tritt immer wieder die Wahrsagerin Marta auf, deren Rolle sich mir nicht wirklich erschlossen hat. Im Klappentext erfahre ich, sie gebe Kajo via diverser Skype-Gespräche "durch einen manipulierten Zwist mit seinem besten Freund Martin Karbovski seine Würde zurück und den unbändigen Willen, ohne Alkohol zu leben und zu schreiben." Das muss ich überlesen haben.

Wie auch immer, jedenfalls hört Kajo auf zu trinken. Und jetzt beginnen die für mich stärksten Szenen dieses Buches. "Eines Abends sass ich am leeren Tisch. Ich starrte die weisse Wand an und trank nicht. Ich trank einfach nicht. Es war grossartig. Als wäre ich in einer gotischen Kathedrale. Als wäre ich selbst eine gotische Kathedrale. Streng, vernünftig und trocken." Er wird zum Kämpfer. "Ich durchlebte die ungeheuren Schmerzen und die Hölle der Abstinenz. Ich zermalmte sie mit meinem Willen. Und war stolz auf mich selbst. Ich war ein Sieger."

PS: Von den ersten Seiten an sei ihr klar gewesen, dass Alkohol kein Bekenntnisbuch sei, sondern ein Poem, über die eigene Generation, schreibt die 1981 in Sofia geborene und mittlerweile in Zürich lebende Übersetzerin Viktoria Dimitrova Popova im Nachwort. "Das war er, der Roman aus Bulgarien, auf den ich seit der Wende gewartet hatte, der auch mich betraf und erschütterte ...".

Kalin Terzijski
Dejana Dragoeva
Alkohol
INK PRESS, Zürich 2015

Mittwoch, 19. Oktober 2016

Develop a new self-respect

You should not dwell too much on the mistakes, faults, and failures of the past. Be done with shame and remorse and contempt for yourself. With God's help, develop a new self-respect. Unless you respect yourself, others will not respect you. You ran a race, you stumbled and fell, you have risen again and now you press on toward the goal of a better life. Do not stay to examine the spot where you fell, only feel sorry for the delay, the shortsightedness that prevented you from seeing the real goal sooner.

Twenty-Four Hours a Day

Mittwoch, 12. Oktober 2016

Sich auf diesen Augenblick einlassen

Abt Muho, 1968 als Olaf Nölke in Berlin geboren und jetzt mit seiner Frau und seinen drei Kindern im japanischen Antaiji lebend, geht es in seinem Buch Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück um die grossen Fragen unseres Menschseins: Wie wollen wir leben? Und wie wollen wir sterben?  "Es geht dabei um die einzige Frage, die zählt: Bin ich wirklich einverstanden mit dem Leben, wie ich es heute lebe?"

Was mich, abgesehen von der ansprechenden Gestaltung, für dieses Buch einnimmt, ist die einfache Sprache, diese ganz wunderbar klaren Sätze, von denen mich nicht wenige überraschen. Positiv überraschen. "Doch je mehr ein Mensch das Leben bejaht, desto mehr wird er sich vor dem Tod fürchten." Logisch, nicht? Eigenartig, das ich das bis jetzt noch nie so gelesen habe.

Leben ist Leiden, heisst es im Buddhismus. Abt Muho drückt das weniger abstrakt aus: "Du bist unzufrieden, und du weisst nicht, warum". Unzufrieden sind wir, weil wir an unserer eigenen Situation verzweifeln, denn die ist so recht eigentlich fast nie, wie sie unserer Meinung nach sein sollte.

"Weil wir die Welt nicht so sehen wollen, wie sie wirklich ist, leiden wir. Die Dinge kümmern sich nicht darum wie wir sie gerne hätten. Sie sind einfach da. Zur Wirklichkeit erwachen bedeutet, die Blindheit und das Verirren zu erkennen. Die durch sie hervorgerufene Unzufriedenheit zu durchschauen."

Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück ist die Geschichte einer persönlichen Sinnsuche. Seine Mutter starb, als Olaf Nölke noch ein Kind war, das lebensbejahende Christentum seines Grossvaters bot keinen Trost. "Ich spürte keine Sehnsucht nach dem Tod, aber auch keine Lust aufs Leben. Meine Grübeleien führten zu nichts."

In einem christlichen Internat entdeckt und praktiziert er, angestiftet von einem Jugendleiter, die Zen-Meditation. In Antaiji lernt er die harte, japanische Zen-Praxis kennen. "Das Leben dort folgt einer einfachen Gleichung: Ein Tag ohne Arbeit ist ein Tag ohne Essen."

Natürlich gehen auch die Klosterbewohner in Antaiji nicht jeden Tag frohgemut ihrer Arbeit nach, natürlich klagen auch sie darüber, dass sie ihnen immer mal wieder zu viel und zu mühsam sei. "Dabei ist das Problem doch oft gar nicht die Arbeit, sondern unsere Einstellung zu ihr. Arbeit bedeutet nicht nur Last und Frustration. Sie gibt uns auch die Chance, unsere Fähigkeiten zu nutzen und zu vervollkommnen."

Und sie gibt uns, wie das Leben überhaupt, die Gelegenheit, uns in Gleichmut zu üben. Er habe immer gemeint, schrieb der japanische Dichter Masaoka Shiki kurz vor seinem Tod, das Erwachen, von dem im Zen-Buddhismus die Rede ist, bedeute, mit Gleichmut zu sterben. "Welch ein Irrtum: Erwachen bedeutet, mit Gleichmut zu leben."

Den einzelnen Kapiteln sind Zitate des Zen-Meisters Sawaki Kodo (1880-1965) vorangestellt, einem  eigenwilligen Mann, der viele Jahre durch Japan gezogen war und erst, als er sehr krank wurde, sich nach Antaiji zurückzog. Hier zwei Beispiele: "Der Buddhismus ist keine Ideologie. Die Frage, die er stellt, lautet: 'Was fange ich mit mir selbst an?'"; "Lebenspraxis bedeutet, den Ort, an dem du jetzt stehst, zum Paradies zu machen. Lebenspraxis bedeutet, das Himmelreich unter deinen Füssen zu entdecken."

Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück ist ein höchst inspirierendes Buch.

Abt Muho
Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück
Warum wir uns vor dem Tod nicht fürchten müssen
Berlin Verlag, München / Berlin 2016

Mittwoch, 5. Oktober 2016

Glück. Ein Tatsachenroman

Was, um Himmels Willen, hat ein Tatsachenroman über Glück auf einem Blog zum Thema Sucht zu suchen? Nun ja, Glück erhoffen sich ja auch viele Süchtige. Dazu kommt, dass für mich Sucht wenig mit chemischen Substanzen, dafür viel mit einer Lebenshaltung zu tun hat. Und nicht zuletzt: Um von einer Sucht loszukommen braucht es auch Glück. Und nicht zuwenig. Ich weiss wovon ich rede, ich selber hatte dieses Glück.

Robert Kisch, so die Verlagswerbung, sei das Pseudonym eines preisgekrönten Journalisten. Und da fragt man sich natürlich (jedenfalls frage ich mich), weshalb jemand, der einen oder mehrere Preise verliehen bekommen hat und diese Tatsache erwähnt haben will, sich hinter einem Pseudonym versteckt. Nun gut, vielleicht wollte das der Verlag, der Autor selber nicht. Was das Ganze noch etwas eigenartiger macht, ist, dass der Autor sein Pseudonym anlässlich des Erscheinens von Glück gelüftet hat, was für diese Besprechung jedoch ohne Belang ist.

Wie gesagt, Robert Kisch ist Journalist und er tut, was Journalisten meist so tun. wenn sie sich kundig machen wollen – sie interviewen erfolgreiche Menschen. So besucht er etwa einen berühmten Unternehmensberater, der ihm unter anderem erläutert, "dass das Thema Spiritualität im beruflichen Kontext vor zwanzig Jahren undenkbar war und heute eher schon ein Gütesiegel ist." Kisch, der sich an seine Zeit als Angestellter eines Möbelhauses erinnert, hat andere Erfahrungen gemacht – im Möbelhaus war Spiritualität eher ein Schimpfwort.

Glück. Ein Tatsachenroman zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass hier einer nicht nur einfach Leute befragt, sondern das Gesagte jeweils eigenständig und mit Bezug auf eigene Erfahrungen bedenkt und kommentiert. Das finde ich spannend, wenn auch nicht immer verständlich: "Stille ist nicht die Abwesenheit von Krach, denke ich, sondern die Abwesenheit meines Unbewussten." Da ich mir des Unbewussten nicht bewusst bin, kann ich mir seine Abwesenheit auch nicht vorstellen.

Robert Kisch ist ein ständig reflektierender Mann, voll der besten und zu vieler Vorsätze. Vorgenommen hat er sich etwa, sich gedanklich auf sein Ende vorzubereiten, sein Sterben zu erlernen, indem er dankbar ist. Er bemüht sich, strengt sich an, geht höchst bewusst durchs Leben, denkt ohne Unterbruch  – "denke ich" ist die häufigste Wendung in diesem Buch.

Er ist voller Selbst-Ermahnungen. Schweigen will er können. Es gelingt selten. Viel zu viele Gedanken stehen ihm ständig im Weg. Doch er gibt nicht auf. Und manchmal gelingt es ihm. "Aber immer dann, wenn ich es tatsächlich schaffe, ist das, was da ist, genau das, was ich will."

Von einem Physiker, den er dokumentieren will, weil er über den Dingen steht und sein Leben nach dem wirklich Wichtigen ausrichtet, lernt er (und ich), dass das, was diese Welt zusammenhält, Energie ist, "ein Konzept, das man als solches nicht beobachten kann." Er glaube nur, was er sehe, zitiert Kisch ironisch den beliebten Skeptikerspruch. "Ja", sagt der Physiker und lächelt, "aber ich habe noch nie einen Gedanken gesehen."

Bei einem Fest trifft Kisch auf Edina, die ihn von früher kennt. Sie ist verheiratet, die beiden beginnen ein Verhältnis. Er verschweigt ihr, dass er ohne feste Arbeit und Klient beim Arbeitsamt ist. Wohl ist ihm nicht in dieser Beziehung, er führt sie trotzdem weiter, denn so eine Leidenschaft hat er noch nie erlebt. Was dem Autor sehr überzeugend gelingt, ist das Nebeneinander von sehr detaillierten, witzigen und oft selbst-ironischen Schilderungen aus dem Alltag einerseits und seiner spirituellen Suche andererseits.

Glück. Ein Tatsachenroman ist gut erzählt, anregend und reich an hilfreichen Einsichten. Wenn er das tue, was gerade im Moment zu tun sei, so der Unternehmensberater, dann mache ihm das keinen Stress. "Stress entsteht dann, wenn ich daran denke, was noch zu tun ist." Und die Zen-Meisterin erklärt, dass man lernen müsse, das anzunehmen, was ist. "Sonst ist man immer damit beschäftigt zu sagen: So, wie es jetzt ist, passt es nicht. Der Geist möchte immer springen, er möchte es immer anders haben, als das Leben gerade ist."

Robert Kisch
Glück
Ein Tatsachenroman
Droemer Verlag, München 2016