Mittwoch, 25. Dezember 2013

Trockene Alkoholiker

Trockene Alkoholiker führen ein Leben auf zwei Ebenen -- ein, erst mal, ganz normales, in dem plötzlich, scheinbar ganz von selbst, Dinge gelingen, die man im Suff immer ersehnt hat, und in dem man plötzlich mit Schwierigkeiten umgehen kann, die früher im Alkohol ersäuft wurden. Aber möglich ist das nur für den, der immer weiß, daß dieses Leben auf sehr dünnem Eis abläuft. Immer nur ein Glas vom Rückfall. in die alte Scheiße entfernt, besonders dann, "wenn es dir zu schlecht geht beim Nichtsaufen oder wenn es dir zu gutgeht beim Nichtsaufen".

Herhaus hatte es einmal fast drei Jahre lang im Alleingang versucht, ohne ständige Erinnerung durch andere an die zweite Ebene der nur schlummernden, nie wieder heilbaren Krankheit. Er ist damals gescheitert. Inzwischen hat er gelernt, daß es nicht damit getan ist, ein "Leben als Trockenleiche" zu führen, daß für einen Alkoholiker Nichttrinken radikale Lebensänderung bedeutet -- ehrliche, ständige Kleinarbeit an sich und im Alltag. "Stagnation in der Sucht heißt Rückfall", weiß der Autor.

Die "Begabung in täglicher Genauigkeit", die Herhaus von sich als Schriftsteller verlangt -- wir trockenen Alkoholiker brauchen sie alle zum Leben. Es ist unser Vorteil gegenüber Traumtänzern und Lebenslügnern jeder Art, daß wir es uns auf den Tod nicht leisten können, dies auch nur einen Augenblick zu vergessen.

Horst Zocker über Ernst Herhaus: Kapitulation
Copyright @ Der Spiegel, 26.09.1977

Mittwoch, 18. Dezember 2013

Die Sache reif werden lassen

Charlotte stand betroffen. Sie war geistreich genug, um schnell einzusehen, dass jene Recht hatten; aber das Getane widersprach, es war nun einmal so gemacht; sie hatte es recht, sie hatte es wünschenswert gefunden, [...] sie verteidigte ihre kleine Schöpfung [...]. Sie war bewegt, verletzt, verdriesslich; sie konnte das Alte nicht fahren lassen, das Neue nicht ganz abweisen; aber entschlossen wie sie war, stellte sie sogleich die Arbeit ein und nahm sich Zeit, die Sache zu bedenken und bei sich reif werden zu lassen.

Johann Wolfgang von Goethe
Die Wahlverwandtschaften

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Das Ende der Welt, wie wir sie kennen

"Mein Vater starb, weil er zuviel trank. Sechs Jahre zuvor war meine Mutter gestorben, weil sie zuviel getrunken hatte. Ich trank zuviel. Der Apfel fällt nicht sehr weit vom Stamm." So beginnt Robert Goolrick seine "Scenes from a Life", wie es im Untertitel der englischen Originalausgabe heisst.

Die Figur aus der Literatur, der sich seine Mutter am ähnlichsten sah, war Lady Brett Ashley aus Fiesta: "Weil ich an die Art glaube, wie sie gelebt hat. Du ruinierst erst dein eigenes Leben, und dann, ganz langsam, ruinierst du auch die Leben all derer um dich herum." Einfacher und direkter lässt sich kaum sagen, was der Alkohol mit den Menschen, die ihm verfallen sind, und ihren Nächsten, anrichtet.

Wir lesen von der despotischen Grundschullehrerin Mrs. Lackman, vom Schicksal des kleinen, rothaarigen Bauernjungen, der sich vom Drogendealer zum erfolgreichen Bauunternehmer wandelte, von Elizabeth Taylors lavendelfarbenen Augen, vom sturen Bruder, der sein Essen erst essen will, wenn ihm die Mutter sagt: "Iss dein Mittagessen, Cowboy" ...

Bei Goolricks dreht sich alles um die Cocktailstunde und ums Abendessen, die Eltern waren nicht nur gut darin, Partys zu geben, sondern auch auf Partys zu gehen und nach Hause fuhr man, wenn man noch nicht zu betrunken zum Autofahren war.

Im Alter von einundreissig beginnt Robert "sehr viel zu trinken. Der Alkohol verlieh mir die Kraft, die Gesellschaft anderer zu ertragen, die Last meiner selbst zu ertragen."

Er beginnt, sich zu ritzen, versucht sich umzubringen, landet in einer Klinik. Der eine Krankenhausflügel war für die Alkoholiker, der andere für die Verrückten, er landete bei den Verrückten: "... wir hatten eine Menge Selbstmitleid und ebenso viel Mitleid mit den anderen. Irgendwie besass der Wahnsinn anderer Menschen eine greifbarere Realität als unser eigener, und so beschissen es auch uns selbst gehen mochte, so waren wir doch immer wieder berührt davon, wie unglaublich erbärmlich es anderen in ihrem Leben ging." Roberts Diagnose ist Anhedonie, die Unfähigkeit, Genuss zu empfinden.

Die Geschichten der meisten Leute in der Klinik "verliefen nicht linear, ihre Depression war diffus, unspezifisch und schrecklich, bedeutete einfach Tag für Tag Angst und Furcht und Unruhe."

Eine Mit-Patientin, Psychiaterin, Mitte dreissig, hübsch, wirkte nicht besonders depressiv, doch hatte sie bereits dreimal versucht, sich umzubringen, begann eines Abends über Volleyball und Sucht zu sprechen:"Die Sache mit Alkoholikern und Drogenabhängigen ist, dass sie kein Gefühl für Grenzen haben, kein Gefühl dafür, wo Schluss ist ... Deshalb werden sie überhaupt Alkoholiker und Drogenabhängige. Sie wissen nicht, wo und wann sie aufhören müssen ... Volleyball ist ein ganz einfaches Spiel ... Achtet mal darauf, wenn ihr den Ball, sagen wir, in die linke Seite des Spielfeldes schlagt, dann wird der typische Drogenabhängige dem Ball hinterher laufen. Er wird sein Feld verlassen und dem Ball folgen. Alle werden das tun. Wir können sie schlagen."
Niemand glaubt ihr, doch alle hören ihr zu, weil sie so überzeugt davon ist. Und sie gewinnen das Spiel. Es ist ein Rätsel, niemand kann es sich erklären.

Darüber, dass Robert in der Klapsmühle war (er nimmt an, dass nur seine Grossmutter davon wusste), wurde nicht gesprochen, darüber, dass er als vierjähriges Kind von seinem betrunkenen Vater vergewaltigt wurde (die Mutter sah zu, die Grossmutter wusste davon), wurde auch nicht gesprochen, es wurde einfach weiter gemacht "bis es ihnen gleichgültig geworden war, noch zu lesen oder sich anständig anzuziehen oder sich die Fussnägel zu schneiden oder sich gegen ihren Alkoholismus, Krebs und Schmutz, die Baufälligkeit und die Ratten im Haus zu wehren, wie haben sie weitergemacht?".

"Das Ende der Welt, wie wir sie kennen" ist ein beklemmendes und bewegendes Buch.

Robert Goolrick
Das Ende der Welt, wie wir sie kennen
btb Verlag, München 2013

Mittwoch, 4. Dezember 2013

Wie Wir Sterben Lernen

"... wenn man erst einmal fünfzig war, gab es kein Entrinnen vor der Tatsache, dass man eine einfache Fahrkarte für eine Nonstopfahrt zur Endhaltestelle hatte", heisst es in Kate Atkinsons Das vergessene Kind (Knaur Taschenbuch, 2010). Und wenn man wie ich gerade sechzig geworden ist, gilt das umso mehr. Für den dreiundvierzig Jahre alten Christian Schüle beginnt diese Nonstopfahrt zur Endhaltestelle hingegen schon bei der Geburt und so recht eigentlich ist das auch logisch, philosophisch gesehen zumindest (er hat Philosophie und Politische Wissenschaft studiert), doch gleichzeitig eben auch ziemlich lebensfremd, denn so empfindet niemand, und vor allem kein Kind.

"Wie Wir Sterben Lernen" ist ein ärgerliches Buch, denn da deckt einer mit ganz vielen Worten und ausufernder Beredsamkeit zu, was letztlich nur stumm hingenommen werden kann. Der Autor begräbt wortreich, was durch Andeuten und Auslassen erhellt gehört. Und natürlich habe ich trotzdem einiges gelernt, allerdings weniger übers Sterben Lernen, als über den Zeitgeist.

Mit dem im Titel angedeuteten Thema hat dieser Essay übrigens wenig zu tun. Stattdessen wimmelt es von Behauptungen wie: "Der Zeitgenosse will Trost im Diesseits, weil ihn ein Jenseits nicht mehr überzeugt. Diese Beobachtung ist keine empirisch belastbare Wahrheit, sie ist eine Tendenz."

Der Text wird unterbrochen durch sogenannte Introspektionen. In der ersten lese ich: "Seit jeher lebe ich in der Vorstellung, mir meinen eigenen Tod nicht vorstellen zu können. Deswegen kann ich ihn auch nicht fürchten. Was ich fürchte, sind die Umstände meines Sterbens." Ich kann nicht fürchten, was ich mir nicht vorstellen kann? Nun ja, gegen Gefühle kommt der Verstand halt selten an. "Klaus Heuser musste lächeln: Gefühle lenken zu wollen, war natürlich das Aussichtsloseste unter der Sonne." (Hans Pleschinski: Königsallee, C.H. Beck, München 2013).

Der Erkenntnisgewinn in Sachen Sterben-Lernen ist gering: "Sterben zu lernen heisst, gut zu leben ... In gewisser Weise wäre die Kunst des guten Sterbens die konsequente Bejahung des Schicksals. Diese Bejahung bedeutet allerdings kaum, dem sich in den Körper hineinfressenden Schmerz bei der Verrichtung seines Werks tatenlos zuzusehen." Mit anderen Worten: Christian Schüle argumentiert für ein selbstbestimmtes Leben. Und für ein selbstbestimmtes Sterben. Dass das nicht alle wollen, findet er nachvollziehbar und verständlich, "dennoch dräut, als Mahnung am Horizont, der Satz des Sigmund Freud: 'Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein.'"

Gestört hat mich insbesondere die andauernde Bezugnahme auf die Gegenwart. Ständig ist da vom Zeitgenossen die Rede, ganz so, als ob die heutige Zeit speziell aussergewöhnlich wäre ("Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte vollzieht gegenwärtig die spätmoderne Dienstleistungsgesellschaft die Trennung der traditionellen Einheit von Tod, Bestattung und Trauer durch die Entkopplung von Topos und Memoria."), ja, als ob die Heutigen ganz anders sterben würden als das bisher der Fall gewesen ist. In einem gewissen Sinne stimmt das ja auch (und der Autor führt das ausgiebig aus), doch andrerseits ist das natürlich Humbug, denn sterben tut jeder und jede seit jeher immer noch ganz allein.

Christian Schüle fühlt sich "gezwungen, jeden freien Augenblick zu nutzen und jede frei werdende Zeiteinheit sofort mit einer neuen Tätigkeit zu belegen." Genug Zeit hat er nie. Und er schliesst hellsichtig: "Erst wer Zeit als Vorlauf zum Tod wahrnimmt, erkennt ihren wahren Wert. Oder andersherum: Erst wer den Lebenswert der Zeit erkennt, kann sie bewusst wahrnehmen. Ohne Zeit ist Freiheit und Selbstbestimmung nicht möglich – das ist das Verhängnis des Zeitgenossen im Sog seiner Gegenwart."

"Die kulturelle Evolution der vergangenen Jahrhunderte hat das Individuum zum Individualisten gemacht und zu einem Regime der Selbstherrlichkeit geführt (...) Das christliche Menschenbild geht notwendig von der Gottesverfügung aus, das Menschenbild der Gegenwart hingegen von dessen Selbstverfügung." Dieser Selbstverfügung redet Schüle das Wort und das stört mich, ich sehe darin vor allem (aber nicht nur) ein sich über die Massen wichtig nehmendes Ego, doch bin ich weit davon entfernt, zu behaupten, dies sei die Quintessenz dieses Essays, dafür ist er zu differenziert. Zudem findet er auch immer wieder meine Zustimmung. Und ganz besonders diese Erkenntnis: "Das Hinnehmenkönnen, das Nichtleistenkönnen, ist eine ebenso immense Fähigkeit wie das Leistenkönnen. Vielleicht ist es sogar die höchste Fähigkeit eines sich selbst bewusst seienden Lebens."

Christian Schüle
Wie Wir Sterben Lernen
Ein Essay,
Pattloch Verlag, München 2013