Mittwoch, 4. Dezember 2013

Wie Wir Sterben Lernen

"... wenn man erst einmal fünfzig war, gab es kein Entrinnen vor der Tatsache, dass man eine einfache Fahrkarte für eine Nonstopfahrt zur Endhaltestelle hatte", heisst es in Kate Atkinsons Das vergessene Kind (Knaur Taschenbuch, 2010). Und wenn man wie ich gerade sechzig geworden ist, gilt das umso mehr. Für den dreiundvierzig Jahre alten Christian Schüle beginnt diese Nonstopfahrt zur Endhaltestelle hingegen schon bei der Geburt und so recht eigentlich ist das auch logisch, philosophisch gesehen zumindest (er hat Philosophie und Politische Wissenschaft studiert), doch gleichzeitig eben auch ziemlich lebensfremd, denn so empfindet niemand, und vor allem kein Kind.

"Wie Wir Sterben Lernen" ist ein ärgerliches Buch, denn da deckt einer mit ganz vielen Worten und ausufernder Beredsamkeit zu, was letztlich nur stumm hingenommen werden kann. Der Autor begräbt wortreich, was durch Andeuten und Auslassen erhellt gehört. Und natürlich habe ich trotzdem einiges gelernt, allerdings weniger übers Sterben Lernen, als über den Zeitgeist.

Mit dem im Titel angedeuteten Thema hat dieser Essay übrigens wenig zu tun. Stattdessen wimmelt es von Behauptungen wie: "Der Zeitgenosse will Trost im Diesseits, weil ihn ein Jenseits nicht mehr überzeugt. Diese Beobachtung ist keine empirisch belastbare Wahrheit, sie ist eine Tendenz."

Der Text wird unterbrochen durch sogenannte Introspektionen. In der ersten lese ich: "Seit jeher lebe ich in der Vorstellung, mir meinen eigenen Tod nicht vorstellen zu können. Deswegen kann ich ihn auch nicht fürchten. Was ich fürchte, sind die Umstände meines Sterbens." Ich kann nicht fürchten, was ich mir nicht vorstellen kann? Nun ja, gegen Gefühle kommt der Verstand halt selten an. "Klaus Heuser musste lächeln: Gefühle lenken zu wollen, war natürlich das Aussichtsloseste unter der Sonne." (Hans Pleschinski: Königsallee, C.H. Beck, München 2013).

Der Erkenntnisgewinn in Sachen Sterben-Lernen ist gering: "Sterben zu lernen heisst, gut zu leben ... In gewisser Weise wäre die Kunst des guten Sterbens die konsequente Bejahung des Schicksals. Diese Bejahung bedeutet allerdings kaum, dem sich in den Körper hineinfressenden Schmerz bei der Verrichtung seines Werks tatenlos zuzusehen." Mit anderen Worten: Christian Schüle argumentiert für ein selbstbestimmtes Leben. Und für ein selbstbestimmtes Sterben. Dass das nicht alle wollen, findet er nachvollziehbar und verständlich, "dennoch dräut, als Mahnung am Horizont, der Satz des Sigmund Freud: 'Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein.'"

Gestört hat mich insbesondere die andauernde Bezugnahme auf die Gegenwart. Ständig ist da vom Zeitgenossen die Rede, ganz so, als ob die heutige Zeit speziell aussergewöhnlich wäre ("Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte vollzieht gegenwärtig die spätmoderne Dienstleistungsgesellschaft die Trennung der traditionellen Einheit von Tod, Bestattung und Trauer durch die Entkopplung von Topos und Memoria."), ja, als ob die Heutigen ganz anders sterben würden als das bisher der Fall gewesen ist. In einem gewissen Sinne stimmt das ja auch (und der Autor führt das ausgiebig aus), doch andrerseits ist das natürlich Humbug, denn sterben tut jeder und jede seit jeher immer noch ganz allein.

Christian Schüle fühlt sich "gezwungen, jeden freien Augenblick zu nutzen und jede frei werdende Zeiteinheit sofort mit einer neuen Tätigkeit zu belegen." Genug Zeit hat er nie. Und er schliesst hellsichtig: "Erst wer Zeit als Vorlauf zum Tod wahrnimmt, erkennt ihren wahren Wert. Oder andersherum: Erst wer den Lebenswert der Zeit erkennt, kann sie bewusst wahrnehmen. Ohne Zeit ist Freiheit und Selbstbestimmung nicht möglich – das ist das Verhängnis des Zeitgenossen im Sog seiner Gegenwart."

"Die kulturelle Evolution der vergangenen Jahrhunderte hat das Individuum zum Individualisten gemacht und zu einem Regime der Selbstherrlichkeit geführt (...) Das christliche Menschenbild geht notwendig von der Gottesverfügung aus, das Menschenbild der Gegenwart hingegen von dessen Selbstverfügung." Dieser Selbstverfügung redet Schüle das Wort und das stört mich, ich sehe darin vor allem (aber nicht nur) ein sich über die Massen wichtig nehmendes Ego, doch bin ich weit davon entfernt, zu behaupten, dies sei die Quintessenz dieses Essays, dafür ist er zu differenziert. Zudem findet er auch immer wieder meine Zustimmung. Und ganz besonders diese Erkenntnis: "Das Hinnehmenkönnen, das Nichtleistenkönnen, ist eine ebenso immense Fähigkeit wie das Leistenkönnen. Vielleicht ist es sogar die höchste Fähigkeit eines sich selbst bewusst seienden Lebens."

Christian Schüle
Wie Wir Sterben Lernen
Ein Essay,
Pattloch Verlag, München 2013

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