Mittwoch, 11. Dezember 2013

Das Ende der Welt, wie wir sie kennen

"Mein Vater starb, weil er zuviel trank. Sechs Jahre zuvor war meine Mutter gestorben, weil sie zuviel getrunken hatte. Ich trank zuviel. Der Apfel fällt nicht sehr weit vom Stamm." So beginnt Robert Goolrick seine "Scenes from a Life", wie es im Untertitel der englischen Originalausgabe heisst.

Die Figur aus der Literatur, der sich seine Mutter am ähnlichsten sah, war Lady Brett Ashley aus Fiesta: "Weil ich an die Art glaube, wie sie gelebt hat. Du ruinierst erst dein eigenes Leben, und dann, ganz langsam, ruinierst du auch die Leben all derer um dich herum." Einfacher und direkter lässt sich kaum sagen, was der Alkohol mit den Menschen, die ihm verfallen sind, und ihren Nächsten, anrichtet.

Wir lesen von der despotischen Grundschullehrerin Mrs. Lackman, vom Schicksal des kleinen, rothaarigen Bauernjungen, der sich vom Drogendealer zum erfolgreichen Bauunternehmer wandelte, von Elizabeth Taylors lavendelfarbenen Augen, vom sturen Bruder, der sein Essen erst essen will, wenn ihm die Mutter sagt: "Iss dein Mittagessen, Cowboy" ...

Bei Goolricks dreht sich alles um die Cocktailstunde und ums Abendessen, die Eltern waren nicht nur gut darin, Partys zu geben, sondern auch auf Partys zu gehen und nach Hause fuhr man, wenn man noch nicht zu betrunken zum Autofahren war.

Im Alter von einundreissig beginnt Robert "sehr viel zu trinken. Der Alkohol verlieh mir die Kraft, die Gesellschaft anderer zu ertragen, die Last meiner selbst zu ertragen."

Er beginnt, sich zu ritzen, versucht sich umzubringen, landet in einer Klinik. Der eine Krankenhausflügel war für die Alkoholiker, der andere für die Verrückten, er landete bei den Verrückten: "... wir hatten eine Menge Selbstmitleid und ebenso viel Mitleid mit den anderen. Irgendwie besass der Wahnsinn anderer Menschen eine greifbarere Realität als unser eigener, und so beschissen es auch uns selbst gehen mochte, so waren wir doch immer wieder berührt davon, wie unglaublich erbärmlich es anderen in ihrem Leben ging." Roberts Diagnose ist Anhedonie, die Unfähigkeit, Genuss zu empfinden.

Die Geschichten der meisten Leute in der Klinik "verliefen nicht linear, ihre Depression war diffus, unspezifisch und schrecklich, bedeutete einfach Tag für Tag Angst und Furcht und Unruhe."

Eine Mit-Patientin, Psychiaterin, Mitte dreissig, hübsch, wirkte nicht besonders depressiv, doch hatte sie bereits dreimal versucht, sich umzubringen, begann eines Abends über Volleyball und Sucht zu sprechen:"Die Sache mit Alkoholikern und Drogenabhängigen ist, dass sie kein Gefühl für Grenzen haben, kein Gefühl dafür, wo Schluss ist ... Deshalb werden sie überhaupt Alkoholiker und Drogenabhängige. Sie wissen nicht, wo und wann sie aufhören müssen ... Volleyball ist ein ganz einfaches Spiel ... Achtet mal darauf, wenn ihr den Ball, sagen wir, in die linke Seite des Spielfeldes schlagt, dann wird der typische Drogenabhängige dem Ball hinterher laufen. Er wird sein Feld verlassen und dem Ball folgen. Alle werden das tun. Wir können sie schlagen."
Niemand glaubt ihr, doch alle hören ihr zu, weil sie so überzeugt davon ist. Und sie gewinnen das Spiel. Es ist ein Rätsel, niemand kann es sich erklären.

Darüber, dass Robert in der Klapsmühle war (er nimmt an, dass nur seine Grossmutter davon wusste), wurde nicht gesprochen, darüber, dass er als vierjähriges Kind von seinem betrunkenen Vater vergewaltigt wurde (die Mutter sah zu, die Grossmutter wusste davon), wurde auch nicht gesprochen, es wurde einfach weiter gemacht "bis es ihnen gleichgültig geworden war, noch zu lesen oder sich anständig anzuziehen oder sich die Fussnägel zu schneiden oder sich gegen ihren Alkoholismus, Krebs und Schmutz, die Baufälligkeit und die Ratten im Haus zu wehren, wie haben sie weitergemacht?".

"Das Ende der Welt, wie wir sie kennen" ist ein beklemmendes und bewegendes Buch.

Robert Goolrick
Das Ende der Welt, wie wir sie kennen
btb Verlag, München 2013

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