Mittwoch, 21. Juni 2017

Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus

"Macht und Psychotherapie in einem Atemzug zu nennen, erscheint möglicherweise abwegig", lautet der erste Satz in diesem Buch. Hoffentlich wird das jetzt nicht so etwas Übervorsichtiges, wo man sich auf alle Seiten absichert, denkt es so in mir. Schliesslich heisst es doch im Untertitel, dies sei eine Streitschrift! Ich muss zugegeben, dass ich mir darunter etwas Heftigeres vorgestellt hatte, als diese hoch differenzierte, akademische Auseinandersetzung mit den mir (weitestgehend) nicht zugänglichen Gedanken Michel Foucaults.

Angelika Grubner, geboren 1967, ist eine wissensdurstige Frau. Nicht nur ist sie Psychotherapeutin, diplomierte Sozialarbeiterin und akademische Referentin für feministische Bildung und Politik, darüberhinaus studiert sie derzeit an der Universität Wien auch noch Philosophie. Sie denkt also über ihre psychotherapeutische Tätigkeit hinaus, ist in grösseren Zusammenhängen unterwegs und steht den Bestrebungen, die Psychotherapie "als institutionalisierte Lösung sozialer Probleme insgesamt" zu installieren, skeptisch gegenüber.

Einmal, weil psychische Erkrankung und soziale Lage oft nicht voneinander zu trennen sind, dann aber auch, weil es eine beobachtbare Tendenz gibt, "eine soziale Notlage automatisch als persönliche zu verstehen, welche die Menschen dazu zwingt, sich mit ihrer psychischen Verfasstheit als auslösendes Moment oder Prädisposition ihrer Krise zu beschäftigen."

Unter Neoliberalismus versteht Angelika Grubner einen Kapitalismus ohne wohlfahrtsstaatliche Beschränkung, in dem alles einer marktorientierten Logik zu folgen hat, auch die Psychotherapie. Das zeigt sich bereits in der Art und Weise der Psychotherapie-Ausbildung, die nach Angebot und Nachfrage funktioniert und privat finanziert werden muss.

Neoliberalismus bedeutet eigentlich immer das Recht des von Gier und Selbstvermarktung angetriebenen Rücksichtslosen, verkauft wird uns das Ganze natürlich ganz anders, als individuelle Freiheit und Eigenverantwortung. Unsere Alltagssprache hat sich daran angepasst. "Mit einer Selbstverständlichkeit reden wir davon, dass wir uns 'gut verkaufen', möglichst gut 'präsentieren' und 'vermarkten' sollten. Auch in der psychotherapeutischen Sprache wird der neoliberale Jargon bemüht: 'Zahlt sich das für sie aus?' oder 'Welchen Preis müssen sie dafür zahlen?', 'Wo liegt da ihr Gewinn?', 'Welcher Nutzen ergibt sich aus diesem Tun?'".

Unsere Lebensbereiche sind nicht nur geprägt von der gewinnorientierten Marktlogik, wir haben sie verinnerlicht. "Deutlich ist dies im alltäglichen Sprachgebrauch, wenn wir davon sprechen, wie viel Gefühl in die eine oder andere Beziehung investiert wird."

Der Neoliberalismus stellt den Einzelnen in den Mittelpunkt, alles dreht sich um ihn: wenn es dem Einzelnen gut geht, geht es allen gut, so diese recht primitive Ideologie. Man denke etwa an Steuererleichterungen für die Reichen, die angeblich allen zugute kommen. Da stimmt zwar nachgewiesenermassen nicht, bestimmt aber nach wie vor den gesellschaftlichen Diskurs. Genauso wie Margaret Thatchers Überzeugung, dass es keine Gesellschaft gebe. Angelika Grubner kommentiert die gegenwärtige Lage so: "Da Einzelinteressen oder Bedürfnisse keine Schablonen eines gerechten, tugendhaften oder gar solidarischen gemeinschaftlichen Zusammenlebens kennen, ist umfangreiches Konfliktpotenzial evoziert."

Wir alle unterstehen der herrschenden Gesellschaftsrealität, wir tragen sie mit. Wer aus dem System fällt, wird wieder fit gemacht (oder versorgt) und auch die Psychotherapie hilft da mit, verhält sich also auch politisch und das meint hier: systemerhaltend. Wie es dazu hat kommen können, zeigt die Untersuchung von Angelika Grubner detailliert auf. Darüber hinaus weist sie auf Möglichkeiten hin, wie man sich aus der verinnerlichten neoliberalen Gehirnwäsche befreien könnte. Etwa mit einer Gegenerzählung, "die sich gegen die Verherrlichung des autonomen Subjekts wendet und stattdessen die ko-konstitutive Verstrickung von Subjekt und Gesellschaft hochhält – mit dem Ziel das wirkmächtige Individualitätspositiv der Gegenwart zu erschüttern." Oder, wie Ann Cvetkovich in Depression – a public feeling ausführt, indem man anfängt "to think about depression as a cultural and social phenomenon rather than a medical disease."

Solch hilfreicher Anregungen wegen lese ich Bücher.

Angelika Grubner
Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus
Eine Streitschrift
Mandelbaum kritik & utopie, Wien 2017

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