Donnerstag, 15. April 2021

Für alle Tage

Es gibt Bücher, von denen weiss man, bevor man überhaupt zu lesen begonnen hat, dass man sie mögen, ja schätzen wird.  Das kann daran liegen, dass einem der Buchumschlag gefällt oder daran, dass man mit dem Namen des Autors Positives verbindet oder an Umständen, die einem selber nicht bewusst sind. Zugegeben, ich spreche von mir. Und bei mir trifft im vorliegenden Fall das alles zusammen zu.

Mit Tolstoi verbinde ich "Krieg und Frieden", das ich vor einigen Jahren in China gelesen habe. Zur gleichen Zeit wie ein chinesisch-stämmiger kanadischer Freund (er auf Englisch, ich auf Deutsch)  uns beiden machte genau dieselbe Stelle den grössten Eindruck: Als Fürst Andrej verletzt auf dem Schlachtfeld liegt und angesichts des unendlichen Himmels über ihm plötzlich weiss, dass alles eitel und nur Lug und Trug ist.

Tolstoi war ein Moralist mit hohen Ansprüchen an sich selber. Das vorliegende "Lebensbuch" versammelt Gedanken aus einer grossen Anzahl Schriften und Textsammlungen. Es ist "ein Buch der Stärkung, auch der Selbstvergewisserung, das Tolstoi sich schuf in dem Wunsch, ein besserer Mensch zu werden", schreibt Volker Schlöndorff in seinem Geleitwort. Und Ulrich Schmid vermerkt im Nachwort: "Der Sinn des menschlichen Lebens besteht für Tolstoi darin, durch asketische und philosophische Übungen aus den falschen gesellschaftlichen Konventionen 'aufzuwachen' und sich zur wahren Religion zu bekehren."

Tolstoi geht es mit diesem Buch darum, "unter Zuhilfenahme grosser, fruchtbarer Gedanken verschiedener Schriftsteller einem weiten Leserkreis eine leicht fassliche Lektüre für alle Tage zu bieten, die geeignet ist, nur die besten Gedanken und Gefühle zu wecken", wie er in seinem Vorwort vom März 1908 schrieb.

Neben der Tageslektüre, die Gedanken unterschiedlicher Autoren aufführt (von Lichtenberg über Kant zu Konfuzius) enthält dieser dicke Band auch Wochen- und Monatslektüren über Weltanschauliches wie 'Göttliches und Menschliches' oder 'Forderungen der Liebe'. Ich staune ob der Schaffenskraft dieses Mannes. Diese monumentale Zusammenstellung alleine wäre genug für ein ganzes Arbeitsleben!

Mich verblüfft und begeistert die Breite der Themen, die angesprochen werden und da ich nicht weiss, wie man ein solches Werk, das sich bestens zur Tagesmeditation eignet, besprechen könnte, möchte ich ein paar Gedanken zitieren, ganz willkürlich, so wie sie mir beim Durchblättern aufgefallen sind.

"Sonderbar! Der Mensch empört sich über das Böse, das von aussen her, von anderen kommt, das er nicht beseitigen kann, aber das eigene Böse bekämpft er nicht, obwohl das in seiner Macht stünde." (Mark Aurel). "Verdamme deinen Nächsten nicht, bevor du in seiner Lage warst." (Talmud) "Die Menschen sind tausendmal mehr bemüht, sich Reichtum als Geistesbildung zu erwerben; während doch ganz gewiss, was man ist, viel mehr zu unserm Glücke beiträgt, als was man hat." (Schopenhauer) "Unterweise dein Herz. Lass dich nicht von ihm unterweisen." (Buddhistischer Spruch).

Es ist eine bestechende Idee, sich jeden Tag einige Gedanken vorzunehmen, die auf Wesentliches hinweisen. Passenderweise hat Tolstoi zum Auftakt (dem 1.Januar) entschieden, sich das Lesen vorzunehmen und lässt dazu Schopenhauer, Emerson, Seneca, Thoreau und Locke zu Worte kommen. Letzteren damit: "Wir sind aus dem Geschlecht der Wiederkäuer, und es genügt nicht, dass wir uns mit allerlei Bücherwust vollstopfen: Falls wir nicht alles ordentlich wiederkäuen, gewähren uns die Bücher keine Kraft und keine Nahrung."

Das Allerwesentlichste hat sich Tolstoi zum Schuss aufgespart. Mögen wir, eingedenk unseres Geschlechts als Wiederkäuer, immer wieder darauf zurückkommen:

"Es gibt keine Zeit. Es gibt nur die unendlich kleine Gegenwart.
In ihr vollzieht sich das Leben.
Deshalb sollte der Mensch all seine geistigen Kräfte
auf die Gegenwart richten."

Lew Tolstoi
Für alle Tage
Ein Lebensbuch
C.H. Beck, München 2021

Donnerstag, 1. April 2021

Weniger Besitz

Als ich mich in jungen Jahren gerade durchgerungen hatte, die Pädagogik aufzugeben und zu Jura zu wechseln, und einer sehr schönen Frau, für die ich entflammt war, davon erzählte, lachte sie laut heraus. "Du wirst vermutlich eines Tages von einer Bücherwand mit juristischen Texten erschlagen werden", prophezeite sie mir. Daran muss ich manchmal denken, wenn ich die Bücher (keine juristischen) in meiner Wohnung betrachte, die mich einerseits beglücken (schon toll, sich in solch guter Gesellschaft zu befinden), andererseits aber eben auch beschweren, und zwar nicht zu wenig.

Anders gesagt: Weshalb mich weniger Besitz glücklich macht erweckt meine Neugierde nicht, weil ich Gründe brächte, die mir "weniger ist mehr" attraktiv machen oder weil ich gar Besitz mit Glück verwechsle, sondern weil ich mir davon Anregungen verspreche, wie man schlau aufräumt bzw. in seinem Leben Ordnung schafft. Nein, ich suche keinen Ratgeber, ich suche ganz einfach hilfreiche Gedanken – und Guido Schlauch, der Autor von Weshalb mich weniger Besitz glücklich macht, liefert einige.

Der wichtigste Gedanke steht auf dem Umschlag: "LASS LOS!" Nein, das ist nichts Neues, das wusste ich schon, doch eben eher theoretisch. Und das meint: Ich wusste es nicht wirklich. Und auch jetzt weiss ich es noch nicht wirklich, denn wirkliches Wissen äussert sich im Tun. Sich also "LASS LOS!" immer wieder vor Augen zu führen, fördert, so stelle ich mir vor, das Tun.

Weitere Gedanken, die ich hilfreich finde. "Dinge beanspruchen deine Aufmerksamkeit, die dir dann für Wichtigeres im Leben fehlt." So habe ich etwa die Erfahrung gemacht, dass mir mein Schreiben leichter fällt, je weniger Bücher ich um mich herum habe. "Konsum befriedigt nie lange, dann musst du nachlegen. Er wird zur Sucht ...". So isses! Anstatt von Konsumgesellschaft wäre angebrachter von Suchtgesellschaft zu reden.

Weshalb mich weniger Besitz glücklich macht ist ein persönliches Buch. Autor Guido Schlaich, freier Illustrator in München, erzählt anhand vieler praktischer Beispiele von seinem Weg des Ballast-Abwerfens, den er als äussere und innere Befreiung schildert. "Will ich das, brauche ich das wirklich?" fragt er sich routinemässig. Zweifellos eine nützliche Frage, doch sie klingt einfacher als sie wirklich ist, denn unser Hirn kann uns bekanntlich jeden Schmarren einreden. Sogar den, man solle alles digitalisieren (Seite 92 ff.) was sich spätestens dann als als eher suboptimal erweisen wird, wenn der Strom ausfällt. Oder wenn man eines Tages feststellen muss, dass es die Websites, auf denen man seine Texte veröffentlicht hat, nicht mehr gibt und die Texte weg sind.

Mit anderen Worten: Das Leben nach Nützlichkeitserwägungen auszurichten, ist eine Übersimplifizierung, die dem Leben nicht gut tut. So schlägt Guido Schlaich etwa vor, im Urlaub einmal keine Handybilder zu machen. "Tauche ab in Naturschönheiten ohne jeglichen Filter vor dem Auge." Sicher, warum auch nicht. Nur eben: Wer so etwas schreibt, hat keine Ahnung davon, dass man mit der Kamera anders schaut und einen die Kamera das Sehen lernen kann.

Guido Schlaich
Weshalb mich weniger Besitz glücklich macht
nymphenburger, Stuttgart 2021