Sonntag, 31. Oktober 2010

Im Sog der Sucht

Worum es bei "Im Sog der Sucht" von Helmut Kolitzus geht, erläutert der Untertitel "Von Kaufsucht bis Onlinesucht: Die vielen Gesichter der Abhängigkeit". Der Autor thematisiert dabei die Verbindung der verschiedenen Süchte - das ist das grösste Verdienst dieses Buches, das sich leicht liest und einen Überblick gibt über die vielen Ausformungen der Sucht. Man erfährt auch viel über den Autor - und auch wenn ich das grundsätzlich schätze (wer mir was mitteilt ist häufig mindestens so aufschlussreich wie was dieser jemand sagt oder schreibt), so war es mir hier doch etwas arg viel.

Wie für den Autor so haben auch für mich die Medien eine grosse (und zeitweise übergrosse) Bedeutung und so war ich einigermassen gespannt, wovon er im Kapitel "Meine eigene Medien-Drogenkarriere" berichten würde. "Ich las so viel, dass irgendwann kein Buch mehr da war, das ich nicht kannte", er besuchte die Filmhochschule, wechselte dann zur Medizin, schrieb Sachbuchrezensionen - was hat das alles mit Mediensucht zu tun? fragte ich mich. "Während des Medizinstudiums verfiel ich gelegentlich in Medienräusche. Wie viele Fernsehfilme habe ich da zur Abwechslung vom Lernen - aus Büchern natürlich! - gesehen, wie viele unnötige Skirennen angeschaut oder Tennismatches oder Fussballspiele. Das Vergnügen daran will ich absolut nicht leugnen. Aber die Menge war deutlich im Bereich des Missbrauchs und der Betäubung."

Ob jemand, der in gewissen Phasen seines Lebens mit irgendetwas missbräuchlich umgeht, bereits als süchtig gelten soll, sei einmal dahingestellt. Sicher ist jedoch, dass sich richtige Mediensüchtige in solchen Schilderungen nicht erkennen werden.

Auch das Kapitel über Alkohol hat mich einigermassen ratlos gelassen. Da liest man von einem Ministerpräsidenten, der sich verplappert, nimmt Kenntnis von besorgniserregenden Zahlen, erfährt, wie es mit dem Alkohol in Finnland und Frankreich steht etc. - alles Sachen, die jedem Zeitungsleser bekannt sein dürften. Von den befreienden Lösungswegen aus der Abhängigkeit, die zu einem erfüllten Leben führen sollen (wie auf der vierten Umschlagseite zu lesen steht), habe ich da nichts gefunden.

Obwohl, Vorschläge für ein sinnvolles Leben findet man in diesem Buch durchaus. Dabei führt der "Facharzt für psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, Lehrtherapeut, Supervisor, Filmemacher (HFF) und Kabarettist" als Beispiele auf, was er selber gerne macht - sich mit Literatur und Musik beschäftigen. Da ich seine Vorlieben teile, habe ich hier keine Einwände (ganz im Gegenteil), doch habe ich schon häufig erfahren, dass nun einmal viele Leute (Süchtige eingeschlossen) für das Lesen schlicht nicht zu begeistern sind. Am Rande: für einen "bekennenden Büchersüchtigen" sind die Literaturhinweise erstaunlich dürftig ausgefallen.

Doch kommen wir zum Positiven. Immer mal wieder stösst man in diesem Buch auf Gedanken und Hinweise, derentwegen sich die Lektüre lohnt. Um dies zu illustrieren, hier ein paar Zitate, die ich erhellend finde:

Wenn Sie bei Berichten über einzelne Süchtige genauer hinschauen, werden Sie auch als Laie schnell mitkriegen, dass das gezeigte dicke Kind ständig vor dem Fernseher sitzt, dass der Alkoholiker auch raucht, dass der Onlinejunkie nebenbei kifft und seine Bierdose am Computer stehen hat, dass die spielsüchtige Hausfrau deutlich übergewichtig ist, dass das Denken und Handeln durch süchtiges Verhalten mit all seinen Folgen eingeengt wird.

Ein wesentlicher Faktor fehlgeleiteter Erziehung ist die mangelnde Frustrationstoleranz. Und diese wiederum ist die beste Voraussetzung für Sucht - und ein wesentliches Element für ihre Erhaltung.

Wie auch sonst bei der Sucht muss die Forschung davon ausgehen, dass sie nur das erfährt, was der methodische Ansatz vorgibt. Ich glaube konkret kaum, dass die Wissenschaftler den vollen Umfang der Wahrheit erfahren. Kein extremer Spieler hat z.B. noch Lust oder Zeit einen wissenschaftlichen Fragebogen auszufüllen.

Interessant dass Angstprobleme oft, das heisst zu drei Vierteln, der Glücksspielsucht (ähnlich beim Alkoholismus!) vorangingen, während depressive Störungen nach Beginn der Sucht kamen, sicher auch als Reaktion auf die vielen Folgeerscheinungen. Glücksspiel führt ja nicht nur zu massiven finanziellen Verlusten, sondern auch zu dramatischen sozialen Defiziten.

In meinen Therapien, das heisst in den erfolgreichen, erlebe ich immer wieder, wie Menschen durch Verzicht dazugewinnen. Das betrifft alle Suchtbereiche.

Trägheit macht traurig.
(Thomas von Aquin)

Glück ist die Folge einer Tätigkeit.
(Aristoteles)

Dummes Zeug kann man viel hören.
kann es auch schreiben.
wird weder Leib noch Seele stören.
wird alles beim Alten bleiben.
Dummes aber, vors Auge gestellt,
hat ein magisches Recht:
weil es die Sinne gefesselt hält, bleibt der Geist ein Knecht.
(Johann Wolfgang von Goethe: Zahme Xenien. 1807)

Helmut Kolitzus
Im Sog der Sucht
Von Kaufsucht bis Onlinesucht: Die vielen Gesichter der Abhängigkeit
Kösel-Verlag, München 2009

Mittwoch, 27. Oktober 2010

Does AA work?

Since there seem to be as many interpretations of AA as there are AA members and since it cannot be known how AA is individually practised, it is questionable whether AA allows for an assessment that meets scientific criteria. Yet despite the lack of scientific evidence, many believe - based on personal experience - that AA works. That these believers are all brainwashed seems unlikely (and would be difficult to prove) yet even if they were, the fact that they were drinking before joining AA and then stopped might indicate that their sobriety has something to do with AA.

Cause-and-effect methodologies seem not suited to explain the complexity of addiction and addiction treatment for they appear not able to make sense of the contradictions and paradoxes that are part of human behaviour. Moreover, they can't measure core factors such as motivation or belief that are crucial for any recovery. This failure also suggests that AA's act yourself into a new way of thinking might be preferable to treatment based on identifying causes and symptoms.

Future research and treatment need to find ways to address "the non-logical aspects" (the miracles, contradictions and paradoxes) of addiction and to adapt, complement, and possibly rethink, the cause-and-effect methodology.

Hans Durrer: Does AA work?

Sonntag, 24. Oktober 2010

Über AA

Bill W. in einem Vortrag vor Fachärzten in New York: "Dabei möchten wir von allem Anfang an doch klarstellen, dass AA ein synthetischer Begriff ist, eine künstliche Zusammenfassung gewissermassen aus den Hilfsquellen der Medizin, der Psychiatrie, der Religion und aus unserer ureigenen Erfahrung mit dem Trinken und in der Heilung davon. Sie werden vergeblich nach einer einzigen neuen Grundwahrheit suchen. Wir haben nur alte erprobte Grundsätze der Psychiatrie und der Religion solcherart neu- und umgestaltet, dass der Alkoholiker diese akzeptieren kann."

Jürgen Heckel
sich das Leben nehmen
Alkoholismus aus der Sicht eines Alkoholikers
A1 Verlag, München 2010

Mittwoch, 20. Oktober 2010

Wir verstehen es nicht

Als Berater und als Therapeut hatte ich mich natürlich stets beeilt, darauf hinzuweisen, dass wir selbst es sind, die die Entscheidungen treffen, und dass sich nicht zu entscheiden ebenfalls eine Entscheidung darstellt wie jede andere auch. Nicht zuletzt solche Predigten waren der Grund weshalb ich aufgehört habe. Es ist zu einfach, wenn man erst einmal die Tricks kennt. Man fängt an zu glauben, dass man eine Möglichkeit entdeckt, die Welt mit klarem Blick zu sehen, während man in Wirklichkeit lediglich eine Sprache lernt - eine gefährliche Sprache, weil sie den Blick verengt und uns vorgaukelt, man verstehe, warum die Menschen tun, was sie tun.
Aber wir verstehen es nicht. Wir verstehen so wenig von allem.

Man denkt immer, man würde es verstehen. Jedes Mal, wenn man etwas Neues lernt, eine neue Leidenschaft entwickelt, denkt man, nun habe man seinen Weg gefunden ... Aber so ist es nicht, man hat nicht irgendwann den Durchblick. Am Ende hat man immer noch dieselben leeren Karten in der Hand - es sind nur mehr geworden.

James Sallis
Dunkle Vergeltung
Wilhelm Heyne Verlag, München 2010

Sonntag, 17. Oktober 2010

Ist Suchtgefährdung erblich?

Eine erblich bedingte Veranlagung für die Entstehung einer Abhängigkeit von Stimulanzien, also unter anderem von Kokain, wurde bisher nicht gefunden, wohl aber für Alkohol ... Der genetische Einfluss gilt allerdings weniger der Krankheit selbst als der Anfälligkeit (Vulnerabilität) für die Erkrankung. Es scheint so, dass manche Leute auf Alkohol und sonstige Suchtstoffe anders reagieren als die Mehrheit der Bevölkerung und dass sich dies vererben kann.

Ralf Schneider
Die Suchtfibel
Wie Abhängigkeit entsteht und wie man sich daraus befreit
14. überarbeitete und erweiterte Auflage
Schneider Verlag Hohengehren GmbH

Mittwoch, 13. Oktober 2010

Stress & Burn-out

"Soforthilfe bei Stress und Burn-out" verspricht Horst Kraemer in seinem gerade bei Kösel in München erschienenen Buch und konkretisiert worum es darin geht bereits auf dem Umschlag: "Neue Energie in wenigen Tagen", "Coaching mit Neuroimagination", "Strategien der Vorbeugung". Wer jetzt denkt, Horst Kraemer propagiere hier die von ihm entwickelte Neuroimagination, liegt nicht falsch. Worum geht es dabei? In den Worten von Kraemer:

"Die Methode 'Neuroimagination' ist eine Kombination aus einer Vielzahl von verschiedenen Techniken, die nach eigenen Regeln und in immer wiederkehrenden Abläufen eingesetzt werden. Eine Grundregel, auf der die komplette Arbeit aufgebaut ist, besagt, dass jede Befehlsanweisung zu vermeiden ist und der Coachee immer selbst eine Wahl zum Handeln haben muss."

Na ja, im richtigen Leben ist das ja nicht so, da hat man oftmals nicht wirklich eine Wahl, denkt es da so in mir, und jede Art von Coaching sollte sich doch so recht eigentlich am richtigen Leben orientieren, oder etwa nicht? Es spricht für Horst Kraemer, dass er freimütig bekennt: "Diese Grundregel stellt einige Systeme und verschiedene Helfergruppen vor schier unlösbare Aufgaben. So bin ich damit zum Beispiel in einigen Kliniken vor unüberbrückbare direktive Barrieren (Was das wohl sein mag? Obwohl: man ahnt, was der Mann meint) gestossen. Ebenso bin ich damit in Palästina an Grenzen gekommen, wo es für die Helfer undenkbar ist, keine direkten, befehlsmässig vorgetragenen Anweisungen auszusprechen."

Ich selber gehe mit dieser Grundregel nicht einig, für mich zählt alleine die Genesung, ob mit oder ohne Grundregel, denn Regeln sind nun einmal nichts anderes als Vereinfachungen und diese sind zwar oft hilfreich, aber fast genau so oft eben auch nicht.

Horst Kraemer geht davon aus, dass in Stresssituationen die Nerven nur fragmentarisch leiten, was zur Folge hat, dass Wahrnehmung und Erinnerung "hormonell bedingt verändert, realitätsfern und durch Selbstzweifel angstbesetzt" sind. Sein Ansatz ist also ein neurobiologischer und kein psychiatrischer/psychologischer - die Frage nach dem "Warum?" der Stressbildung stellt sich bei seinem Ansatz nicht. Da hat er meine volle Sympathie und wenn seine Methode Erfolge zeigt, dann hat er gerade noch einmal meine Sympathie. Nur: ob jemand wegen dieser Behandlung genest, lässt sich nicht wirklich nachweisen.

Das menschliche Verhalten ist viel zu komplex als dass es mit einer einfachen Ursache-Wirkungs-Methode oder einem relativ simpel aufgebauten Modell à la Kraemer erfasst werden könnte. Das soll nicht heissen, dass die Neuroimagination (das meint: die Gedankensteuerung durch das bewusste Erzeugen positiv besetzter Bilder kombiniert mit Aufmerksamkeitsfokussierung und hypnotischer Verankerung) nicht funktionieren kann. Niemand weiss mit Bestimmtheit, was im seelischen Bereich wirklich funktioniert (davon schreibt Kraemer übrigens auch) und so ist ganz gut möglich, dass für Leute, die sich lieber als Kunden (dies der Kraemer'sche Ansatz) und nicht als Patienten begreifen, diese Art der Entstressung Erfolge zeitigen kann. Ob wegen der Methode oder aus ganz anderen Gründen - so schreibt Kraemer selber: "In der Placeboforschung gilt es als bewiesen, dass rund 70 Prozent aller Heilungsprozesse von der Erwartungshaltung des Menschen gesteuert werden." - ist ja dem Gestressten letztlich egal.

PS: Weniger wäre mehr gewesen. So drängt sich etwa die Charakterisierung von Kommunikationstypen in einem solchen Werk nicht gerade auf und das Kapitel "Work-Life-Integration" ist in seiner Dürftigkeit geradezu ärgerlich - eine Seite über den Sinn des Lebens, zwei Seiten über "Balance als Basis für ein geglücktes Leben". Die Seite über den Sinn des Lebens beginnt übrigens so: "'Viele Menschen planen eine Urlaubsreise besser und intensiver als ihr ganzes Leben.' Dieser Satz des Zeitplaners Nummer eins, Lothar Seiwert, sollte zu denken geben. Wie haben Sie ihr Leben geplant?" Die Frage, offenbar ernst gemeint, lässt sich am besten mit einem Witz beantworten: Wissen Sie wie man den lieben Gott zum Lachen bringt? Erzählen Sie ihm doch einfach mal, was Sie so für Pläne haben!

Horst Kraemer
Soforthilfe bei Stress und Burn-out
Kösel Verlag, München 2010

Sonntag, 10. Oktober 2010

Alkohol & Gewalt

Wenn die Eltern trinken, sind sie mit sich selbst beschäftigt, haben keine Kontrolle über das eigene Leben und sind nicht in der Lage, auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen. Die damit meist einhergehende Arbeitslosigkeit kommt hinzu ... Bei allen Erklärungsversuchen springt mir die grosse Brutalität der Tat ins Auge. Die Täter haben meiner Ansicht nach den Tod ihres Opfers vor Augen gehabt, und er war ihnen gleichgültig.

Kirsten Heisig
Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter.
Herder-Verlag, Freiburg i. Br., 2010

Mittwoch, 6. Oktober 2010

Sugar. Ein Tagebuch

Die Gesichter der Lehrer und ihre negativen Bemerkungen bestätigten mir nur, dass ich auf dem richtigen Weg war. Ich hatte mit meinem Spaziergang auf Messers Schneide ein Zeichen gesetzt und freute mich darüber, ein kleiner Revolutionär geworden zu sein. In mein Tagebuch schrieb ich den Satz: Ich habe Sehnsucht, an der Gefahr zu lecken.

Michelle Nahlik
Das Maktub von Luana
Sugar. Ein Tagebuch
elfundzehn Verlag, Eglisau 2010

PS: Was dieses Buch vor allem klar macht, ist, wie unspektakulär und schon fast beiläufig man in eine Sucht abdriftet.

Sonntag, 3. Oktober 2010

The first principle

The first principle is not to fool yourself, and you are the easiest person to fool.

Richard P. Feynman

Freitag, 1. Oktober 2010

Probleme lösen

Man kann ein Problem nicht mit der Denkweise lösen, die es erschaffen hat.

Albert Einstein