Mittwoch, 28. November 2018

Wir entwickeln uns durch Leiden

Hätten wir die Wahl zwischen Wohlbehagen und Bequemlichkeit (von den Ökonomen Eigennutz, von den Psychologen Zufriedenheit genannt) einerseits und Leiden andererseits, würden wir wohl kaum das Leiden wählen. So einleuchtend uns dies auch scheinen mag, es ist bei genauem Hinsehen verblüffend, denn wir entwickeln uns durch Leiden. Die entscheidenden Ereignisse, die unsere Persönlichkeit formen, sind in der Regel keine "Glücksmomente". Prägend scheinen vielmehr die leidvollen Erfahrungen zu sein.

Hans Durrer
Wie geht das eigentlich, das Leben? 
neobooks 2017

Mittwoch, 21. November 2018

Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein

Ob mich Bücher ansprechen, entscheidet sich manchmal nach dem ersten Satz, dem ersten Abschnitt oder den ersten Seiten. Manchmal aber auch erst nach fünfzig Seiten. Bei Catherine Grays Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein war es der erste Satz. Dieser zitiert Joan Didion, die einmal gesagt hat: "Ich weiss nicht, was ich denke, bis ich anfange, es aufzuschreiben." Genauso geht es mir nämlich auch.

Teilt jemand seine Geschichte, so ist das eine Einladung zur Identifikation. Und umso mehr, wenn diese Geschichte so direkt und offen erzählt wird, wie Catherine Gray es in Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein tut. "Ich habe einfach nie das Gefühl, die Wahl zu haben. Sobald ich was trinke, mache ich das richtig." Sie weiss zwar, dass sie zu viel trinkt, doch sie ist auch der Überzeugung, "dass das Trinken mein Leben mit Spass und Lachen erfüllte."

Eines Morgens erwacht sie hinter Gittern. In Brixton, Südlondon. "Ich sah mal eine Frau, die um zwei Uhr morgens in Brixton aus dem Bus stieg, sich niederhockte, mal kurz kackte und dann wieder in den Bus stieg, als wäre das die normalste Sache auf der Welt. Als wäre sie nur mal schnell ausgestiegen, weil sie ihre Einkaufstasche vergessen hatte. Exzessiv zu saufen war in Brixton kinderleicht. Ich habe Leute im Park gesehen, die sich volllaufen liessen. Brixton war das Babel Londons, wo man selbst als total Irrer nicht auffiel …". Und trotzdem war sie da wegen Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung verhaftet worden.

Sie nimmt sich vor, ihren Alkoholkonsum in den Griff zu bekommen, unternimmt dabei auch ungewöhnliche Schritte wie betrunkene Frauen nach Hause zu bringen, doch sie befindet sich auf einer Abwärtsspirale und wird schliesslich auch physisch alkoholabhängig. Nach etlichen Überzeugungsmomenten (so bezeichnet sie Momente, in denen ihr klar wird, dass es so nicht weiter gehen kann) kommt sie an ihren persönlichen Tiefpunkt. "Der Neuanfang verbirgt sich häufig hinter der Maske des schmerzhaften Endes", zitiert sie Laotse.

Nüchtern sein muss man lernen. Dabei geht es um eine grundlegende Wandlung. Catherine Gray gibt 30 Tipps für die ersten 30 Tage, die sie mit einem Zitat von Cynthia Occelli einleitet: "Damit ein Samenkorn sich vollkommen ausformen kann, muss es gänzlich zugrunde gehen. Seine Schale bricht auf, sein Innerstes tritt aus, und es wandelt sich grundlegend. Für jemanden aber, der Wachstumsprozesse nicht versteht, sieht es so aus, als würde es vollkommen vernichtet." Auf zwei der 30 Tipps will ich speziell hinweisen: "Ich behandelte mich selbst so, wie ich ein Baby behandeln würde", also wie ein fürsorglicher Elternteil. Und: "Ich habe mir immer wieder ins Gedächtnis gerufen, dass ein Gedanke mich nicht zum Trinken zwingen kann." Denn ein Gedanke ist nur ein Gedanke und keine vollendete Tatsache, deren Sog man willenlos ausgeliefert ist. 

Sie erzählt von der Zeit als sie gesoffen hat und davon, wo sie heute steht, war ihr jetzt wichtig ist. Dankbarkeit zum Beispiel. Dazu zitiert sie auch den Neurowissenschaftler Alex Korb: "Der entscheidende Punkt ist nicht die Empfindung der Dankbarkeit, sondern die regelmässige Ausschau danach. Sich erinnern, dankbar zu sein, ist eine Form emotionaler Intelligenz." Wer seine Dankbarkeit nicht pflegt, beraubt sich vieler positiver Gefühle, hat einmal ein lebenserfahrener Freund von mir gemeint. "Die Dankbarkeit verbessert den Schlaf. der Schlaf reduziert Schmerzen. Weniger Schmerzen heisst bessere Stimmung. Bessere Stimmung bedeutet keine Angst mehr."

Natürlich könne jeder behaupten, er habe sich geändert, schreibt Catherine. Und lässt dann zwei Freundinnen zu Wort kommen, die sie sowohl vorher als auch nachher erlebt haben. "Diese Geschichten waren hart, wichtig und unglaublich berührend. Es ist erschreckend, wie wenig von all dem tatsächlich bei mir haften geblieben ist."

Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein gibt viele Anregungen, vom Umgang mit Leuten, die Alkohol trinken zum nüchtern Daten. Und Catherine Gray macht nicht zuletzt klar, dass es ein Wundermittel nicht gibt. Was für den einen funktioniert, ist für die andere keine Option. Und was zu Beginn hilft, muss nicht auf ewig helfen. "Die entschiedene Frage lautet nicht: 'Bin ich Alkoholiker?' Verschieben Sie den Fokus auf: 'Wäre mein Leben schöner, wenn ich nüchtern bleiben könnte?' Wenn die Antwort darauf ein Ja ist, dann sollten Sie sich fürs Nüchternsein entscheiden."

Es gehört zu den Stärken dieses Buches, dass die Autorin offen und aufrichtig ihre Geschichte erzählt. Doch es sind nicht einfach Memoiren, die sie vorlegt, sondern sie lässt auch viele andere Stimmen zu Wort kommen, von Betroffenen zu Wissenschaftlern.Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein ist keine Nabelschau, sondern ein überzeugendes Plädoyer, ein selbstbestimmtes Leben zu leben.

Catherine Gray
Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein
Frei und glücklich – ein Leben ohne Alkohol
mvgverlag, München 2018

Mittwoch, 14. November 2018

„Tu immer das, was den grössten Mut erfordert."

Wir leben in eigenartigen Zeiten: Für alles und jedes gibt es Kurse, braucht es Diplome, muss man sich qualifizieren. Als die Journalistin Ilka Piepgras, aufgerüttelt durch das tödliche Herzversagen ihres gerade einmal fünfzigjährigen Nachbarn, sich mit dem Tod auseinandersetzen will, beschliesst sie eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin zu machen. „Hier lernt man Unvoreingenommenheit wie woanders Stricken oder Russisch. Es ist eine Schule der Vorurteilslosigkeit."

Ob man Vorurteilslosigkeit wirklich in einem Kurs lernen kann, sei einmal dahingestellt, doch Ilka Piepgras lernt als Sterbebegleiterin Einiges, zum Beispiel, „den eigenen Turbo-Lebensrhythmus der langsamen Gangart eines verlöschenden Menschen unterzuordnen. Raum und Zeit verschwinden dann, die Welt entfernt sich kolossal, und ich trete so stark mit mir selbst in Verbindung wie sonst nie."

Natürlich hört sie auch Hilfreiches in ihrem Kurs, jedoch: „Im Hospiz bin ich gezwungen, mich komplett auf mich selbst zu verlassen, auf Intuition und Instinkt. Kein akademischer Grad, kein beruflicher Erfolg ist hier von Bedeutung, weder Status noch Reputation. Es geht um das Leben, um seine Schwere und Schönheit", schreibt sie in Wie ich einmal auszog, den Tod kennenzulernen, und dabei eine Menge über das Leben erfuhr.

Ilka Piepgras erzählt nicht nur Geschichten vom Sterben, das ganz unterschiedlich sein kann - langsam oder abrupt, schwer oder leicht - , sondern auch davon, wie Hinterbliebene mit dem Tod umgehen. Etwa Karima Banit, die ihren Sohn durch einen Motorradunfall verlor, was ihre Sicht aufs Leben sehr verändert hat. Sie habe heute keine grosse Angst mehr, vor gar nichts, das sei eine Art Befreiung, sagt sie, denn schlimmer könne es nicht werden, weil sie ja die existenzielle Erfahrung bereits gemacht habe. Der Gedanke, einmal zu sterben, berühre sie weniger als vorher.

Was Ilka Piepgras' Erzählen unter anderem auszeichnet, ist ihr eigenes Präsentsein in den Geschichten, die sie schildert. Sie hört zu, ist wissensdurstig und lernwillig. Und lässt den Leser daran teilnehmen, was das, was sie erlebt, bei ihr auslöst, wie es auf sie wirkt. „Plötzlich habe ich das Gefühl, als dehnte und weitete sich das Leben. Als wäre mit dem Tod längst nicht alles vorbei. Neue Räume öffnen sich. Vielleicht ist es an der Zeit, ein paar Schulweisheiten über Bord zu werfen und aufgeschlossen für das Metaphysische zu sein. Dem Verborgenen mehr Bedeutung zu geben und nicht nur dem Aufmerksamkeit zu schenken, was man sieht und liest."

Es versteht sich: So positiv gestimmt ist Ilka Piepgras nicht immer, sie hat, wie wir alle, auch ganz andere Momente. Schliesslich können Besuche in Altenheimen einen auch frustrieren. „Mich widert es an, das Sterben und mehr noch der Verfall in der Zeit davor, das Freudlose und Hässliche, der Stumpfsinn und die Geistlosigkeit - kurz, das lange Warten auf den Tod. Ich habe die Nase voll von dieser kleinmütigen Welt, die nach Urin und abgestandenem Schweinshack riecht, habe genug von ihren ausgeleierten Körpern und notdürftig übertünchter Hoffnungslosigkeit." Doch auch diese Gefühle, wie Gefühle überhaupt, halten nicht an.

Wie ich einmal auszog, den Tod kennenzulernen, und dabei eine Menge über das Leben erfuhr hält, was der Titel verspricht. Vom schwer kranken katholischen Theologen und Jesuiten Medard Kehl lernt sie, dass es nicht darum geht, „was der Verstand für wahr hält, sondern darum, wonach man sein Leben ausrichtet. Um die Geisteshaltung." Und von der 84jährigen Künstlerin Mary Bauermeister, die das ganze Leben als Schulprogramm, als Gelegenheit zum Üben versteht, kriegt sie den Rat: „Tu immer das, was den grössten Mut erfordert. Geh darauf zu, wovor du Angst hast, und du wirst wunderbare Dinge erleben."

Es sind solche überzeugenden Sätze, die mir dieses Buch wertvoll machen. Weniger überzeugend empfand ich hingegen so platt-verallgemeinernde Aussagen wie „Der moderne Mensch plant die Entscheidung, wo und wie er sterben will, ähnlich strukturiert wie die Entscheidung, eine Reise zu buchen oder eine neue Küche zu kaufen." Oder: „Mit 50 schämt man sich für sein Alter, und mit achtzig ist man, wenn es gut läuft, froh, am Leben zu sein. In der Zeit dazwischen altert man."

Berührt fühlte ich mich besonders von Ilka Piepgras' Schilderungen ihres persönlichen Erlebens und Nachdenkens. Als sie einmal im August an der französischen Atlantikküste entlangläuft, notiert sie: „Inmitten all der Menschen, die gewaltige Brandung des Meeres im Ohr und vor Augen, durchfuhr mich plötzlich ein Gefühl von Vergänglichkeit, nur einen Moment lang habe ich das so empfunden, habe physisch gespürt, wie begrenzt meine Existenz ist und wie stark ich gleichzeitig mit meiner Umgebung verbunden bin. Ein kurzer Moment, so durchdringend, dass er bis heute nachklingt. Ist das gut oder schlecht? Ich weiss es nicht, aber was ich weiss, ist das hier: Sie fühlt sich fast religiös an, diese Eingebundenheit in die reale Welt."

Wie ich einmal auszog, den Tod kennenzulernen, und dabei eine Menge über das Leben erfuhr ist ein sehr informatives, erfreulich nüchternes und lebensphilosophisches Buch. Gedanken wie die des Theologen Gisbert Greshake, der meint, der Mensch sei umso mehr Mensch, als er nicht um sich selbst kreise, finde ich ausgesprochen hilfreich. Genauso wie die Erkenntnis der Kolumnistin Lucy Kellaway: „Der Tod konfrontiert dich mit der Frage, ob das, was du tust, auch das ist, was du tun willst. Seine Brutalität bringt alles Gewohnte durcheinander." 

Ilka Piepgras 
Wie ich einmal auszog, den Tod kennenzulernen, 
und dabei eine Menge über das Leben erfuhr 
Droemer Verlag, München 2017

Mittwoch, 7. November 2018

The Master of my Fate

Out of the night that covers me,
Black as the pit from pole to pole,
I thank whatever gods may be
For my unconquerable soul.
In the fell clutch of circumstance
I have not winced nor cried aloud.
Under the bludgeonings of chance
My head is bloody, but unbowed.
Beyond this place of wrath and tears
Looms but the horror of the shade,
And yet the menace of the years
Finds and shall find me unafraid.
It matters not how strait the gate,
How charged with punishments the scroll,
I am the master of my fate:
I am the captain of my soul.

William Ernest Henley, 1849 - 1903