Dienstag, 15. Dezember 2020

Bird Therapy

Joe Harkness arbeitet als Lehrer für Jugendliche, "die aufgrund ihrer Verhaltensprobleme ausgeschult wurden und bis zu einem gewissen Grad besondere Bildungsbedürfnisse haben. Einde dicke Haut ist eine Voraussetzung für die Bewältigung solcher Aufgaben und unerlässlich, um sich gegen unflätige Verbalattacken und überbordende Kritik zur Wehr zu setzen ...". Mit anderen Worten: Das ist ein Job, der auch für super-ausgeglichene Leute nicht gerade einfach ist.

In einer besonders schwierigen Phase seines Lebens entwickelt Joe Harkness Ängste, "die schon beim Aufwachen begannen und den ganzen Tag anhielten, und zwar Tag für Tag." Auch mit Alkohol hat er ein Problem. Zwangserkrankung (OCD=obsessive-compulsive disorder) sowie Generalisierte Angststörung  (GAS) lautete die Diagnose. Er versucht seine Ängste mit Ritualen in den Griff zu bekommen, die ihn entspannen. Und er nimmt Antidepressiva. Und dann macht er Erfahrungen, in denen die Bird-Therapie wurzelt.

Als er eines Tages aus einer besonders anstrengenden und belastenden Schulsituation flieht und auf Autopilot in die Natur fährt, werden seine Gedanken "jäh unterbrochen, als ein kleiner Vogel mit gestreiftem Federkleid aus einem Baum in der Nähe aufstieg, mit ausgebreiteten reglosen Flügeln, abwärts segelte. Er glich einem gefiederten Fallschirmspringer, der langsam zur Erde gleitet. Dabei erfolgte ein fröhliches, melodisches Gezwitscher, das die Heidelandschaft überflutete und einen Widerhall erzeugte. Wirbelnde Töne, die meinen Gedankentornado verdrängten."

Taucht er in die Welt der Vögel ein, erlebt er sich als positiv gestimmt. "Meine Ängste und Sorgen schienen bis zur Bedeutungslosigkeit zu verblassen, und wenn ich gestresst war und  einige Zeit unter freiem Himmel verbrachte, um Vögel zu beobachten, drifteten sie davon, wie Vögel in einer steifen Brise."

Joe Harkness hat Glück gehabt, dass er das Bird-Watching für sich entdeckt und eine Passion dafür entwickelt hat, die seine Lebensgeister reaktiviert hat. Bird Therapy erzählt von dem, was ihm geholfen hat. "Ich habe gelernt und akzeptiert, dass wir alle Teile der Schöpfung und dadurch miteinander verbunden sind."

Doch Bird Therapy berichtet nicht nur von Joe Harkness' Genesung, es gibt auch viele praktische Tipps und Anregungen. Etwa dazu wie wir die Natur und die Vogelbeobachtung bei jedem Wetter geniessen können. "Begrüssen und verbinden Sie sich mit dem Wetter als Teil ihrer Naturerfahrung. Das kann dazu beitragen, sich der Schöpfung näher zu fühlen und die Natur in einer alles umfassenden Weise zu erleben. Oder: "Behalten Sie im Winter die Gewässer ihrer Umgebung im Auge, da der Frost dazu beitragen kann, dass sich eine grosse Anzahl von Federwild in den kleinen eisfreien Bereichen einfindet."

Bird Therapy ist ein Augenöffner und eine hilfreiche Anleitung fürs Leben.

Joe Harkness
Bird Therapy
nymphenburger, Stuttgart 2020

Dienstag, 1. Dezember 2020

Wenn der Körper Nein sagt

Schon wieder einer, der es nötig hat, mit seinem Titel auf dem Buchumschlag zu hausieren, ist eine meiner ersten Reaktionen auf dieses Buch. Solche Leute machen mich vor allem skeptisch. Der Untertitel "Wie verborgener Stress krank macht – und was Sie dagegen tun können" macht mich hingegen neugierig,.

Dass Körper, Seele und Geist eine Einheit bilden, finde ich selbstverständlich. Als der britische Autor Tim Parks auf der Suche nach Hilfe für sein Prostata-Leiden bei einem indischen Ärzteehepaar in Indien landete und fragte, ob sein Leiden möglicherweise psychische Ursachen haben könnte, wurde ihm erwidert: Nur wenn man an die Trennung von Psyche und Körper glaubt.

Der Autor Gabor Maté ist praktizierender Arzt und erzählt in diesem Buch viele bewegende Fall-Geschichten und zitiert unter anderen aus einem der Dialoge Platons mit Sokrates, der illustriert, dass die Körper-Geist-Idee auch bei einigen im Westen schon lange bekannt ist.  "Aus diesem Grund vermögen die Ärzte von Hellas viele Krankheiten nicht zu heilen, weil sie von dem Zusammenhang nichts wissen. Denn das ist der grosse Irrtum unserer Zeit, dass die Ärzte bei der Behandlung des menschlichen Körpers die Seele vom Körper trennen."

Ich schätze dieses Buch und es nervt mich gleichzeitig. Ich schätze es, weil es auf vielfältige Art deutlich macht, wie alles miteinander zusammenhängt und verbunden ist, mich nervt, dass es bei aller Differenziertheit oft sehr pauschal daherkommt. So  lese ich etwa von einem 'universell menschlichen Bedürfnis nach Kontakt' oder davon, dass viele Menschen mit chronischen Krankheiten glauben, nicht liebenswert zu sein. Woraus der Autor schliesst: "Die Suche nach Kontakten ist eine Notwendigkeit für die Heilung." Wieso mich das nervt? Weil es Leute gibt, die nun einmal nicht liebenswert sind. Weil es Kontakte gibt, die einem schlicht nicht gut tun.

Trotzdem: Dies ist ein differenziertes Buch. "Wenn ich also darlege, dass Verdrängung eine Hauptursache von Stress ist und massgeblich zu Krankheiten beiträgt, zeige ich nicht mit dem Finger  auf andre, weil sie 'sich selber krank machen'. Ich möchte mit diesem Buch das  Lernen und die Heilung fördern, nicht den Quotienten aus Schuld und Scham erhöhen, die in unserer Kultur bereits im Übermass vorhanden sind."

Zu den "sieben Prinzipien der  Heilung" gehören neben Akzeptanz und Achtsamkeit, die man in jedem Buch findet, das sich mit dem gesunden Leben auseinandersetzt, auch die Wut, die ja nichts anderes als Energie und zudem der Selbstbehauptung förderlich ist sowie auch ein exzellenter Motivator sein kann.

"Gesundheit ruht auf drei Pfeilern: dem Körper, der Psyche und der spirituellen Verbindung", schreibt Gabor Maté. Es geht darum, diese drei im Gleichgewicht zu halten. Anregungen dazu  liefert dieses Buch zuhauf.

Der Autor hat dieses Buch  Dr. Hans Selye gewidmet, den er als "einen Mann der  Renaissance im 20. Jahrhundert" bezeichnet und mit diesen weisen und wegweisenden Worten zitiert: "Was in uns ist, muss heraus, sonst explodieren wir vielleicht an den falschen Stellen oder werden durch Frustrationen eingeengt. Die grosse Kunst besteht darin, unsere Vitalität auf den besonderen Wegen und in der besonderen Geschwindigkeit, die von der Natur für uns vorgesehen ist, Ausdruck verleihen."

Dr. Gabor Maté
Wenn der Körper Nein sagt
Wie verborgener Stress krank macht – und was Sie dagegen tun können
Narayana Verlag, Kandern 2020

Sonntag, 15. November 2020

Xiu Yang

Das Motto von Xiu Yang, dem chinesischen Harmoniekompass, lautet: Kultiviere den Geist, trainiere den Körper und liebe dich selbst. Die Yoga-Lehrerin Donna Farhi erläutert in ihrem Vorwort, "dass unsere Gesundheit und unser Glück in hohem Grad unserer eigenen Kontrolle liegen" und dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen Selbstkultivierung und Selbstfürsorge gibt. Während Selbstfürsorge darin besteht, uns von Zeit zu Zeit einen Gefallen zu tun (zum Beispiel ein heisses Bad nehmen oder einen Wochenendausflug unternehmen), geht es bei der Selbstkultivierung um eine Lebensweise, die sich dadurch auszeichnet, "in uns, mit anderen und mit der Welt ein besseres Gleichgewicht zu finden."

Was mich ganz besonders für Xiu Yang einnimmt, ist die Orientierung an Grundsätzlichem, also der  weltanschauliche Ansatz. "Wie befinden uns in keiner linearen Entwicklung, sondern eher in einem Prozess sich weitender Kreise und Quadrate, bei denen alles mit dem Zentrum verbunden ist."

Es sind einfache Weisheiten, die man in diesem Buch finde. Und eben deshalb auch hilfreich, denn nichts zeichnet unsere moderne Zeit mehr aus, als dass wir in selbst geschaffener Komplexität ersaufen. Klar, das Leben ist komplex und es ist auch schwierig, doch die Informationsflut, die täglich über uns kommt, macht es noch komplexer und noch schwieriger. Zumindest kommt es uns so vor.

Die Autorin Mimi Kuo-Deemer stammt ursprünglich auch Tucson (Arizona), arbeitete 14 Jahre als Yogalehrerin in China und unterrichtet heute Gesundheit und Wohlbefinden in London. Mit "Xiu Yang" legt sie ein Buch vor, das Orientierung bietet, indem es sich an Wesentlichem ausrichtet und dabei unter anderem auch Bezug nimmt auf Lehrer wie Jiddu Krishnamurti und Thich Nhat Hanh, der "lehrt, dass in unserem Bewusstsein gute wie schlechte Samen aufgehen. Wir tragen beides in uns. Geben wir den Samen Wasser, die gesund für uns sind, wie zum Beispiel den Samen der Liebenswürdigkeit, Grosszügigkeit und des Mitgefühls, dann wird mehr von genau diesen keimen und wachsen. Entsprechend können auch die Samen destruktiver Emotionen und Gedanken wachsen und uns einnehmen, wenn wir ihnen Wasser geben. Auf der anderen Seite können die guten Samen ermüden, wenn wir sie vernachlässigen."

Mit "Achtsamkeit: Die Kultivierung adäquater Reaktionen auf konkrete Lebenssituationen" ist ein Kapitel überschrieben, das unter anderem hilfreiche Hinweise auf die Ausrichtung der Achtsamkeitspraxis gibt wie etwa die drei R: Recognise, Release, Return. Achtsamkeit lässt sich überall üben, bei allem, was man tut. Von den Tipps für die Praxis, gefällt mir vor allem diese Faustregel: "Trainieren Sie Ihre Aufmerksamkeit mithilfe von Geduld, Übung und der Bereitschaft, immer wieder von vorn anzufangen."

Bei einem Meditations-Retreat fragte der Lehrer: 'Wonach sehnt sich euer Herz?' Worauf die erste Antwort aus der Gruppe lautete: 'Nach Weite.' Sofort stellten sich in meinem Kopf Bilder ein – von den Weiten der Dakotas, des nördlichen Argentinien und des südlichen Brasilien. Damit verbunden ist ein Gefühl von Leichtigkeit , es ist als ob ich anders atmen würde, freier.  "Wenn das Herz sich weit anfühlt, sind wir inspiriert, beseelt und mit unserem wahren Selbst verbunden. Wir umarmen das Leben und entspannen uns in das Wissen hinein, dass uns ein Platz in der Welt zusteht."

Es gelte, ein weites Herz und einen weiten Geist zu kultivieren, schreibt Mimi Kuo-Deemer. Wie man das praktisch bewerkstelligen kann, dazu gibt dieses Buch vielfältige Anregungen. Es sei wärmstens empfohlen.

Mimi Kuo-Deemer
Xiu Yang
Der chinesische Harmoniekompass
Kultiviere den Geist, trainiere den Körper und liebe dich selbst
O.W. Barth, München 2020

Sonntag, 1. November 2020

Depression - und jetzt?

"Wegweiser einer Erfahrungsexpertin" heisst es im Untertitel. "Erfahrungsexpertin"? Der Begriff ist neu für mich und gewöhnungsbedürftig, doch was damit gemeint ist, ist mir sympathisch. Ja, mehr als sympathisch, denn ich halte diejenigen, die etwas aus eigener Erfahrung kennen für kompetenter als diejenigen, die etwas nur studiert haben. Genauer: Ich habe studierte Fachleute, die keine einschlägige Leidensgeschichte hinter sich hatten, viele Jahre schlicht für aufgeblasene Wichtigtuer gehalten. Das sehe ich heute zwar differenzierter (persönliche Betroffenheit ist nicht immer ein guter Ratgeber, eine empathische Aussensicht häufig hilfreich), doch reflektierte Erfahrung (Erfahrung allein genügt bei Weitem nicht) scheint mir nach wie vor das A und O. Und vor allem: Offenheit – auch gegenüber Fachpersonen, die ja auch nicht alle gleich sind.

Das Vorwort des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, Gerhard Peters, bildet einen gelungenen Einstieg, da er nicht zuletzt klar macht, dass es sich bei der Autorin nicht gerade um den einfachsten Menschen auf dem Planeten handelt, was jedoch auch ihm selber gut tut  ich musste sehr schmunzeln.

Als junge Frau kriegt Nora Fieling die Diagnose "Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung Typ Borderline" und "Depressive Episode". Jetzt weiss sie zwar, dass sie an einer Krankheit leidet, "dass weder ich noch meine Gefühle falsch sind", doch dies zu akzeptieren fällt ihr schwer. Doch Akzeptanz lässt sich üben, ist ein Prozess. "The readiness is all", sagt Horatio in Hamlet.

Was ist eigentlich eine Depression? "Es bedarf nicht der eigenen Erfahrung, um eine Depression zu verstehen. Das Wissen über Fakten beugt Vorurteilen und Verständnislosigkeit vor." Und dieses Faktenwissen bietet dieses Buch. Nora Fieling hat nicht nur vielfältige Informationen zusammengetragen und leserfreundlich aufbereitet, sondern auch Fachpersonen befragt. "Beim ersten Auftreten einer Depression ist es nach evidenzbasierten Leitlinien immer notwendig, organische Ursachen auszuschliessen", so die Berliner Chefärztin Iris Hauth. Ob das auch wirklich so gemacht wird?

Ein Gespräch mit dem bereits erwähnten Gerhard Peters über Psychopharmaka und mehr, macht unter anderem deutlich, dass die Medizin zwar mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet. jedoch keine Wissenschaft ist, also auf der Basis von "trial and error" operiert. Je mehr dies auch Nicht-Medizinern klar ist, desto besser, denn solches Wissen wappnet einen gegen falsche Hoffnungen und überzogene Erwartungen.

In einem weiteres Gespräch erläutert die Heilpraktikerin für Psychotherapie Jessica Exner ihre tiergestützte Therapie, die sie als Ergänzung zur Psychotherapie versteht. So sehr mir dieser Ansatz  gefällt, ihre Aussagen zur intrinsischen Motivation  teile ich  überhaupt nicht. Wer glaubt, zwischen innerem und äusserem Druck unterscheiden zu können, irrt nicht nur, sondern überschätzt meines Erachtens seine Fähigkeiten gewaltig. Woher der Druck auch immer kommt, die Herausforderung ist, herauszufinden, wann er uns nützlich ist. Nicht, was ich will, sollte leitend sein, sondern was mir gut tut.

Einer der für mich hilfreichsten Gedanken in diesem Buch führt die Autorin unter dem Titel "Du musst mich nicht verstehen!" aus: "Man kann Verständnis  für die Situation und die Depression aufbringen, ohne dabei das Gefühl, das der Betroffene hat, zu verstehen. Und ich kann Mitgefühl mit der Situation des Betroffenen haben, ohne selbst genauso wie er zu fühlen. Insofern kann ich auch Verständnis aufbringen, ohne mein Gegenüber konkret zu verstehen."

"Depression - und jetzt?" ist, wie es der Untertitel verspricht, ein Wegweiser und führt aus, weshalb der Austausch im Internet helfen kann, welcher Arzt sich als Ansprechpartner eignet, was für Therapien es gibt, liefert Tipps zu Therapeutensuche und klärt auf über Peer-Beratung und Ex-In (Experienced Involvement), eine Fortbildung, die sich an Psychiatrie- und Krisenerfahrene wendet. So löblich ich es finde, dass einschlägig Erfahrene therapeutisch tätig werden, die Einbindung ins System (eine formale Ausbildung ist nie etwas anderes), finde ich mehr als problematisch, denn jedes gesellschaftliche Nicht-Funktionieren ist auch (und zwar wesentlich) ein Zeichen von seelischer Gesundheit. Nora Fieling  geht unter dem Titel "Depression - eine gesunde Reaktion auf einen  kranken Zustand!?" ebenfalls darauf ein. Siehe auch hier.

Wie von einer Erfahrungsexpertin nicht anders zu erwarten, werden wir auch darüber aufgeklärt, wie es ihr unter anderem in voll- und teilstationären psychiatrischen Einrichtungen ergangen ist. Ihr Urteil ist überwiegend positiv, auch wenn sie am Anfang vielen Massnahmen sehr kritisch gegenüber stand. "Im Nachhinein betrachtet war der Aufenthalt in der Psychiatrie für mich hilfreich, weil ich aus meine gewohnten Umgebung herauskam und so Abstand vom negativ belastenden Alltag  erlangte." Und dies ermöglichte ihr, zu lernen, was wir alle zu lernen haben (und für einige entschieden schwieriger ist als für andere): Selbst-Akzeptanz.

Nora Fieling
Depression - und jetzt?
Wegweiser einer Erfahrungsexpertin
Starks-Sture Verlag, München 2020

Donnerstag, 15. Oktober 2020

Über Psychotherapie

Die Frage, Was hilft Psychotherapie?, geht implizit davon aus, dass sie messbar ist. Das bezweifle ich. Umso gespannter bin ich, was der  Mediziner und Psychoanalytiker Otto Kernberg (geboren 1928) auf die Fragen des Psychiaters und Theologen Manfred Lütz (geboren 1954) antworten wird. Der Einstieg, der davon erzählt, wie sich die beiden kennenlernen, liest sich spannend und vielversprechend. Mich fasziniert vor allem wie herzlich, vital und voll ansteckender Begeisterung der Jüngere den Älteren erlebt. Wunderbar!

Otto Kernberg gilt zusammen mit Marsha M. Linehan als führende Autorität der Borderline-Störung. Was die beiden denn auszeichne, wurde John G. Gunderson, selber eine einschlägige Autorität, gefragt. Sie hätten beide "charismatische Ausstrahlung" und verkörperten "Zuversicht, Klarheit, Kraft und Sicherheit", erwiderte er. Daran fühlte ich mich erinnert, als ich nun las, was Kernberg  als die Kriterien definiert, die einen guten Psychotherapeuten ausmachen: "Wissen, Ehrlichkeit, authentische Wärme, Interesse für Menschen, Empathie und die Fähigkeit, sich anzupassen, und die eigenen Fehler zu erkennen und von ihnen zu lernen."

So charakterisiert Otto Kernberg die Borderline-Störung: "Eîn Borderline-Patient versteht sich in schwerwiegender Weise selbst nicht, nicht seine eigenen Interessen, nicht seine eigenen Pläne, und zugleich versteht er wichtige andere Personen nicht, mit dem Resultat chaotischer menschlicher Beziehungen, weil er das eigene und das Verhalten anderer Personen nicht vorhersagen kann." Und worin liegt der Unterschied zu einem launischen Menschen?, fragt Manfred Lütz.. "Der grösste Unterschied ist, dass dem Borderline-Patienten das Gefühl für eine innere Kontinuität in der Zeit fehlt, er empfindet sich im Extremfall morgen völlig anders als gestern oder vor einer Stunde, und wer weiss, was in zwei Stunden ist ...". Schade, dass Manfred Lütz nicht nachgebohrt hat, wie denn eine Therapie in einem solchen Falle ausschaut.

Aufgestossen ist mir Manfred Lütz' Bemerkung, dass der Ausdruck "narzisstisch" nur benutzt werden dürfe, "wenn die wissenschaftlichen Kriterien erfüllt sind", denn ich halte die Vorstellung, Medizin, Psychiatrie oder gar Psychoanalyse seien Wissenschaften, für einen Irrglauben. Siehe dazu Gesetze der Medizin

"Würden Sie Herrn Trump behandeln, Herr Kernberg?" gehört zu den Fragen, auf deren Beantwortung ich ganz besonders gespannt war. Die Antwort enttäuschte mich – er sprach sich gegen Ferndiagnosen aus, die Gründe sind nachvollziehbar, ich teile sie nicht. Interessanter fand ich Manfred Lütz' Einschätzung von Trump, der ihn nicht für einen Narzissten hält, denn ein Leidensdruck ist bei dem Mann nun wirklich nicht auszumachen. Meines Erachtens erübrigt sich eine Diagnose, sie tut ihm zuviel Ehre an; gescheiter wäre, sich nicht mit ihm, sondern den Auswirkungen seiner Politik zu beschäftigen.

Der Sinn des Lebens, der Glaube an Gott, Freud, Jung und Thomas Mann, die Frage, was Liebe und was  Heimat ist, und und und ... – es geht um die grossen Fragen bei diesem Gespräch zwischen zwei neugierigen, und engagierten Zeitgenossen. Herausgekommen ist überaus hilfreiche Aufklärung.

Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? überzeugt wesentlich durch die vielen praktischen Beispiele, die aufzeigen, wie Otto Kernberg arbeitet. Es überzeugt aber auch deswegen, weil es kein Interview-Buch, sondern ein echtes Gespräch ist. Die beiden tauschen sich  unter anderem über die Irrwege der Psychotherapie, Kernbergs jüdische Kindheit in Wien und seine Zeit in Chile aus sowie über die von der Pharmaindustrie und von unkritischen Medien (die meisten Medien sind, entgegen ihrem Selbstverständnis, eigentliche Systemstützen) geförderte Inflation von psychischen Erkrankungen aus – mit gesundem Menschenverstand liesse sie sich ohne weiteres eindämmen.

In unseren Corona-Zeiten ist mir unter anderem aufgefallen, wie  wenig inspirierend etwa Fernsehinterviews sind, die sich häufig in der Frage erschöpfen: Wie fühlen Sie sich, Herr Präsident? Und wie spannend und anregend ich die Auskünfte von Fachleuten finde. Kurz und gut: Es ist höchst bereichernd, wenn sich zwei Fachleute verständlich über Grundsätzliches austauschen – und genau dies zeichnet das vorliegende Buch aus.

Manfred Lütz
Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?
Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten
Herder, Freîburg im Breisgau 2020

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Hochsensibilität: Wenn die Haut zu dünn ist

"Hochsensible müssen einen grösseren mentalen Aufwand treiben und brauchen ein gewisses Know-how, wenn sie sich seelisch gesund erhalten, sich privat und beruflich entfalten wollen", schreibt Rolf Sellin, selbst hochsensibel, in Wenn die Haut zu dünn ist. Doch was macht eigentlich Menschen zu  Hochsensiblen? Sie nehmen mehr Reize auf als andere, werden von Reizen geradezu überflutet. Einschlägige Forschungen legen den Schluss nahe, dass dieses Temperament angeboren ist und sich wie ein roter Faden durch das ganze Leben zieht. Doch auch Umwelteinflüsse spielen eine Rolle. 

"Wahrnehmung ist der zentrale Punkt im Leben eines Hochsensiblen. Sie ist seine grösste Stärke und Begabung und kann zugleich sein grösster Schwachpunkt sein, wenn er nicht gelernt hat, damit umzugehen." Mehr, intensiver und differenzierter wahrzunehmen ist für eine gewisse Zeit höchst bereichernd (wie etwa Drogenkonsumenten wissen), doch wenn dies ständig der Fall ist, laugt es einen Menschen energetisch aus. 

Es gilt also zu lernen, mit dieser Reizüberflutung umzugehen. Und dazu bietet dieses gut aufgebaute Buch praktische Anregungen. Da finden sich Selbsttests, Begriffserklärungen (hochsensibel und hochbegabt sind nicht deckungsgleich), Übungen und kurze, prägnante Zusammenfassungen. Rolf Sellin erläutert die Entstehung des Hochsensibel-Seins in drei Stufen. 1) Das Kind lernt, seinen Körper und seine Empfindsamkeit nicht zu beachten. Anders gesagt: Es lernt, gegen die eigene Komplexität vorzugehen 2) Widersprüchlichkeit ist in unserem Denken nicht vorgesehen.  Anders gesagt: Unsere Welt funktioniert nach Entweder/oder beziehungsweise Schwarz/Weiss 3) Das Kind übernimmt die Perspektive der anderen. Anders gesagt: Weil sie gelernt haben, nicht auf sich selber zu hören, müssen sie sich andere als Referenz-Personen suchen.

Rolf Sellin legt mit Wenn die Haut zu dünn ist eine veritable Wahrnehmungsschulung vor, die nicht zuletzt deswegen überzeugt, weil sie auf die Praxis ausgerichtet ist. Wie alles, ist auch Wahrnehmung relativ. Wir wissen nicht, was andere genau wahrnehmen, ja, wir wissen meist selber nicht, was wir wahrnehmen, da es sich dabei um einen automatischen Prozess handelt. Doch: "Wahrnehmen ist ein aktiver Akt, er kann durch bewusste Entscheidungen verändert werden." Nicht notwendigerweise durch Achtsamkeit (die ist für den Hochsensiblen problematisch, wie der Autor ausführt), sondern durch bessere Selbstzentrierung: "Wer sich selbst nicht wahrnimmt und seine Aufmerksamkeit überwiegend nach aussen richtet, ist energetisch nicht bei sich."

Ich selber bin nicht hochsensibel, doch einige der hier geschilderten Phänomene sind mir durchaus vertraut und Rolf Sellins Ratschläge willkommen. Insbesondere das Kapitel "Kraft, Energie und Wachstum durch Abgrenzung" empfand ich als überaus hilfreich. Seine eigenen Grenzen zu kennen, ist nicht nur für Hochsensible entscheidend, denn Grenzen geben Sicherheit, bieten Schutz und erlauben Kontrolle. "An unseren Grenzen wachsen wir", schreibt Rolf Sellin, denn das meint letztlich: Wir  können (und sollen) verantwortlich sein für das, was innerhalb unserer Grenzen passiert.

"Die Grundvoraussetzung für gelungene Abgrenzung besteht zunächst einmal darin, überhaupt bei sich zu sein und sich selbst körperlich wahrzunehmen." Den eigenen Körper wahrzunehmen kann (und soll) man üben. Anregungen dazu finden sich in diesem Buch zuhauf. 

Wir haben die Wahl, müssen uns entscheiden, ob wir uns als Opfer oder als Gestalter unserer Wahrnehmung verstehen. Die Verantwortung für die Steuerung und Dosierung unserer Wahrnehmung und für die Verarbeitung der Reize und Informationen selbst zu übernehmen, eröffnet die Möglichkeit, dass Hochsensibilität zum Segen werden kann. 

Fazit: Ein überaus hilfreiches Buch!

Rolf Sellin
Wenn die Haut zu dünn ist
Hochsensibilität - vom Manko zum Plus
Kösel, München 2020

Dienstag, 15. September 2020

On the media and addiction

In our Corona times, one of the definitions of journalism that I've heard twenty years ago, while pursuing a Master's degree in Journalism Studies at the School of Journalism, Media and Culture at Cardiff University, Wales, UK, pops up again and again: No, not "critical inquiry" (that seems to belong to the wishful thinking-category) but: "Giving interested parties a platform." The reason is simple: media owners profit. It goes without saying that to profit is not only the goal of media owners, it is the defining feature of our money-driven times.

Nevertheless, the media provide lots of useful information during the present pandemic by giving scientists a platform. What a relief for once to hear such mostly sober voices. Unfortunately, platforms were also provided for people with exclusively self-serving agendas. This is unavoidable, one of the arguments goes, for journalists are neither judges nor censors.

Well, of course they fit these roles for they decide to whom to give a voice. And there seems to be a worldwide consensus that elected officials need to be covered. Even more so when the official in question happens to be a notorious liar, for his lies need to be exposed. Really?

For more, see here

Dienstag, 1. September 2020

Die Kunst, mit einem Vulkan zu sprechen

"Kommunikationstechniken für Angehörige von Menschen mit Borderline", heisst der Untertitel. Dass jemand, für den schon der Begriff "Kommunikationstechnik" ein rotes Tuch ist, zu diesem Buch greift, hat in meinem Fall zwei Gründe: 1) ich habe von Borderlinern viel über mich und das Leben gelernt, 2) ich halte Ich hasse dich - verlass mich nicht, das der Autor zusammen mit Hal Straus verfasst hat, für eines der hilfreicheren Bücher über Borderline, die ich kenne.

Das Buch beginnt wie alle Sachbücher: Der Autor klärt über den derzeitigen Wissensstand in Sachen Borderline auf. Charakteristisch für Borderliner ist die Spaltung, mit der sie die Widersprüche und Mehrdeutigkeiten im Leben umgehen und Halt zu finden versuchen. Dazu kommt, dass Borderline im Verbund mit weiteren Störungen auftritt, vor allem Depressionen und Angststörungen.

So notwendig die Unterscheidungen von seelischen Erkrankungen auch sein mögen, letztlich sind die gängigen Zuschreibungen ausgesprochen willkürlich und vom Zeitgeist abhängig. Und manchmal wenig hilfreich: "... dauern die Gefühlsschwankungen bei Borderline in der Regel nur Stunden, statt tage- oder wochenlang wie bei der bipolaren Störung."

Menschen mit Borderline haben ausserordentliche Mühe Ambivalenz und Uneindeutigkeit auszuhalten. Also wird Eindeutigkeit gesucht, werden Schuldige gefunden. Wird der Partner oder die Partnerin zum Sündenbock gemacht, rät Kreisman, es nicht persönlich zu nehmen. "Akzeptieren Sie, dass sich darin eben die Verwirrung der Borderline-Persönlichkeit angesichts ihrer eigenen Ambivalenz spiegelt."

Die SET-UP Kommunikationstechnik, die in diesem Buch vorgestellt wird, bedeutet aufgeschlüsselt: Support (Unterstützung), Empathy (Mitgefühl), Truth (Wahrheit) sowie Understanding (Verständnis) und Perseverance (Beharrlichkeit). So einleuchtend diese Leitlinien auch sein mögen, in der Praxis (der Autor erläutert seinen Ansatz an zahlreichen Beispielen) überzeugen sie meines Erachtens nicht immer. Gelegentlich hatte ich den Eindruck, es werde empfohlen, den Borderliner wie ein rohes Ei zu behandeln – was ich für den falschesten Ansatz überhaupt halte.

So rät er etwa einem Ehemann, dessen Frau gerade wütend ausrastet unter anderem zu einem 'mea culpa': "Ich werde mich bessern. Ich werde mich bessern.Aber das, was für uns beide gerade wichtiger ist ...". Fraglich ist auch, ob ein wütend ausrastender Borderliner für sachliche Argumente empfänglich ist. Wesentlich hilfreicher ist die Aufforderung: "Prüfen und respektieren Sie Ihre eigenen Bedürfnisse und Motive".

Dem Borderliner sind impulsive Wutausbrüche eigen, die auch bei der bipolaren Störung und anderen Formen der Persönlichkeitsstörung sowie bei Substanzmissbrauch vorkommen. "Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung jedoch tritt dieser Zorn nach einem absehbar unabsehbaren, konsequent inkonsequenten Muster in Erscheinung." Ein Satz, den man  mehrmals langsam lesen sollte, denn er bringt auf den Punkt, weshalb Borderline auch heute noch weitestgehend ein Rätsel ist.

Auch wenn ich viele der Hinweise und Ratschläge für ziemlich schlicht, oft auch für recht banal und schwierig umzusetzen halte ("Bleiben Sie cool. Würdigen Sie das Positive. Lenken Sie den Fokus auf etwas Unverfänglicheres. Achten Sie auf klare Grenzen" etc), die vielfältigen Aufklärungen über die Borderline-Persönlichkeitsstörung sind ausgesprochen hilfreich. Je mehr Angehörige über Verlassenheitsängste, innere Leere, verzerrte Fehleinschätzungen und Viktimisierung wissen, desto eher werden sie in der Lage sein, situationsgerecht zu handeln.

Jerold J. Kreisman
Die Kunst, mit einem Vulkan zu sprechen
Kommunikationstechniken für Angehörige
von Menschen mit Borderline
Kösel, München 2020

Samstag, 15. August 2020

Recovery

Recovery
is nothing to play around with.
"Yesterday I felt like it; today I don't"
might be a harmless enough attitude about
whether or not we're going to play the
bongo drums, but it's masochistic to 
approach recovery that way.

There is no such thing as standing still. We
either inch along forward or we slip
backward. All that we have gained can be
lost, and lost forever. Our lives are not
soap operas. The issues we're dealing with
are real, and in some areas of our lives
unrecoverable.

On many a meeting room wall hangs a 
saying "Never Compromise". The idea is
not that we have to be perfect, but that
every little slip is an invitation to a larger
one. Recovery is so important that even the
inches may become critical.

Samstag, 1. August 2020

Die Welt mit anderen Augen sehen

"Ein Physiker ermutigt zu mehr Spiritualität", so der Untertitel. Muss man denn zu Spiritualität wirklich "ermutigen"? Und falls ja, würde Spiritualität nicht genügen? Warum muss es "mehr" sein? Meines Erachtens leben wir in Zeiten, denen die Spiritualität abhanden gekommen ist und es schon reichen würde, sie wieder zu entdecken.

Markolf H. Niemz stellt in diesem originell und leserfreundlich gestalteten Buch "sechs Challenges" (dass das Lektorat solche völlig unnötigen Anglizismen durchgehen lässt, befremdet mich) vor, die zeigen, "was passiert, wenn man den Blickwinkel ein wenig ändert und eine alte fernöstliche Weisheit einbezieht."

Raum und Zeit, Sein und Werden, Gut und Böse, Huhn und Ei, Schöpfer und Schöpfung, Liebe und Verständnis sind die Themen, die in "Die Welt mit anderen Augen sehen" abgehandelt werden und durch ein "Bonuskapitel" über "Einsteins Relativität und Nahtoderfahrungen" sowie einen "Talk" mit dem Autor  (wo der Fragesteller als reiner Stichtwortgeber fungiert) ergänzt werden. In letzterem findet sich auch der wunderbar hilfreiche Satz: "Nicht ich bin unsterblich – unsterblich ist das Leben, das ich hier und jetzt lebe!"

Markolf Niemz plädiert dafür, vermehrt auf Zusammenhänge zu achten, vor allem im Alltag, denn nur so lässt sich das grössere Ganze sehen und erleben. "Wer sich stets durchsetzt, wird nie eine glückliche Partnerschaft eingehen. Wer Gewalt ausübt, wird nie in Frieden leben. Wer andere Menschen ausgrenzt, wird nie das grosse Ganze verstehen. Der Kosmos und jedes in ihm lebende Wesen sind ein unteilbarer, sich kontinuierlich entfaltender Prozess."

Dass ein Perspektivenwechsel oft nützlich sein kann, leuchtet ein. Die Beispiele, die der Autor aufführt, überzeugen nicht zuletzt, weil er einfach und klar darzulegen versteht, was das praktisch bedeutet. Hier nur soviel: Die Dualität ist ein Gefängnis.

Von Newton und Kant, von Parmenides und Heraklit, von Leibniz, Darwin, Hawking, dem Dalai Lama und anderen ist die Rede. Und ganz besonders von Alfred North Whitehead, der unter anderem meinte: "Alles sei rational, das heisst, es existiere bloss in einer gefühlten Beziehung zu allem anderen. Demnach kann auch jedes Elektron fühlen: Indem es im Atom ein elektromagnetisches Feld 'fühlt', wird es auf seine Umlaufbahn gelenkt. Erst 'Fühlen' macht es zu einem Elektron."

Es sind solche hilfreichen Ausführungen, die mich für dieses auch ästhetisch ansprechende Buch einnehmen. Und natürlich spricht mich dieses Werk auch deshalb an, weil ich die für mich wesentlichste Aussage des Autors teile: "Ich bin glücklich, wenn ich 'ja' zu allem sage, was ist, und mit dieser Haltung meinen nächsten Schritt gehe."

"Leben Sie so, dass Ihre Rückschau möglichst angenehm sein wird", rät Markolf Niemz seinen Lesern. Ich will diese Aufforderung gerne beherzigen.

Fazit: Vielfältig anregend und von praktischer Relevanz.

Markolf H. Niemz
Die Welt mit anderen Augen sehen
Ein Physiker ermuntert zu mehr Spiritualität
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2020

Mittwoch, 15. Juli 2020

Ein Arzt als Patient

Der 1965 geborene Neurologe Klaus Scheidtmann wird durch seinen eigenen Hirntumor zum Patienten. In Seitenwechsel schreibt er mit grosser Offenheit von seinen Erfahrungen.

Als er nach einem Sturz vom Fahrrad anfängt 'komische Dinge' wie Impulsivkäufe zu machen und übertrieben Sport zu treiben sowie mit Sprachproblemen zu kämpfen hat, denkt er nicht an einen Hirntumor. Kann ein Neurologe sich denn nicht selber einschätzen? Natürlich nicht, denn ein Hirntumor hat unter anderem eine Wahrnehmungsverzerrung zur Folge und das meint: Der Bezug zu sich selber ist gestört, die Arbeit in der Klinik davon jedoch (verblüffenderweise) nicht beeinträchtigt.

Sein Tumor wird operativ entfernt, das Drumherum dieses Vorgangs schildert der Autor nüchtern und eindrücklich. Da ich mich selber einmal einer mehrstündigen Hirnoperation unterzogen habe (mein Facialis Nerv war beschädigt), riefen mir diese Sätze mein eigenes Aufwachen auf der Intensivstation nach der sechsstündigen Operation in Erinnerung, mit einem zuerst aufgeregten, dann, als ich mich deutlich artikulieren konnte, sichtlich erleichterten Oberarzt an meiner Seite. "So vieles konnte schiefgehen  bei einer Operation am Gehirn. Ich hätte als sabbernder Idiot aufwachen können."

Klaus Scheidtmann spricht auch die finanzielle Seite seiner Lage an, berichtet davon, wie Kollegen und ehemalige Patienten reagierten und beklagt, dass sich niemand um die Angehörigen kümmert. Halt findet er im Glauben. "Es war mir ein grosses Bedürfnis, Gott dafür zu danken, dass ich noch lebte und dass ich noch da sein durfte."

Was ihm auch hilft, ist die buddhistische Zen-Meditation. Es sind solche "Informationen am Rande", die mir meist von einer Lektüre bleiben (auch natürlich, weil Zen mich schon lange begleitet). Und  dass er die Nacht vor der zweiten Operation nicht mehr aufhören konnte in "Das Herzenhören" von Jan-Philipp Sendker zu lesen (ein Buch, das bei mir schon lange ungelesen im Regal steht ... und ich jetzt hervorgeholt habe).

In der Medizin geht es hierarchisch zu und her. Dass ihre Befunde und Entscheide kritisch befragt werden, sind Mediziner, im Gegensatz zu den Wissenschaftlern, nicht gewohnt. Und so verstecken sie sich zumeist hinter der Maske der Autorität, die nicht immer sachlich gegeben ist. Doch ist das ja nicht nur bei Ärzten so.

Der Untertitel "Ein Arzt als Patient" weist darauf hin, dass es auch um das Arzt-Patient-Verhältnis geht. Wie wird der Arzt, der zum Patienten geworden ist, von seinen Kollegen behandelt? Selten auf Augenhöhe, so die Erfahrung von Klaus Scheidtmann, der daraus lernt: "Behandle deine Patienten immer so, wie du von deinen Kollegen behandelt werden möchtest."

Was überdies ganz unbedingt für dieses Buch spricht ist das Nachwort der Ehefrau des Autors, die ihre Sicht der Dinge schildert, so dass man miterleben darf, dass es nie nur die eine Geschichte gibt. Hut ab für diesen Mut zur Aufrichtigkeit!

Fazit: Unprätentiöse und hilfreiche Aufklärung.

Klaus Scheidtmann
Seitenwechsel
Ein Arzt als Patient
Klöpfer.Narr, Tübingen 2020

Mittwoch, 1. Juli 2020

Be Angry!

Die Aufforderung, wütend zu sein, verbindet man eigentlich nicht mit dem Dalai Lama, den man eher mit Sanftmut in Verbindung bringt. Doch sein Be Angry! meint nicht, mit Schaum vor dem Mund auf alles einzuschlagen, das einem vermeintlich im Weg steht, sondern wie der Untertitel dieses Buches erläutert: "Die Kraft der Wut kreativ nutzen."

Wir Menschen sind meist im Entweder/Oder-Modus unterwegs und versuchen Widerstände zu beseitigen, bevor wir überhaupt erkannt haben, wie die Dinge sich verhalten. Und so hilfreich die Unterteilung in Gut/Schlecht und Schwarz/Weiss auch oft ist, wir sind gut beraten, zuerst einmal genau hinzuschauen.

Ebenso verhält es sich mit der Wut, die zuallererst nichts anderes ist als Energie. Wie diese genutzt wird, hängt von der Motivation ab, die bereits in uns angelegt ist. "Der in der Wut zum Ausdruck gebrachte Hass führt zu destruktivem Verhalten. Das in der Wut ausgedrückte Mitgefühl führt zu positiver Veränderung."

Be Angry! beruht auf einem Gespräch, das der japanische Autor, Dozent und Kulturanthropologe Noriyuki Ueda mit dem Dalai Lama führte. Dabei kam auch zur Sprache, dass unter den Buddhisten die Akzente ganz verschieden gesetzt werden. "Im Zen-Buddhismus zum Beispiel besteht das Ziel darin, die verbale Logik zu transzendieren." In der Praxis wird stattdessen oft einfach das eigene Handeln gerechtfertigt.

Dieses  Buch ist eine Auseinandersetzung mit Grundsätzlichem. "Im Buddhismus liegt der wahre Sinn des 'Mittleren Wegs' darin, sich dynamisch zwischen den Extremen zu bewegen und beide kennenzulernen." Also nicht in der Mitte zu sitzen, nichts zu tun und sich von nichts berühren zu lassen. Denn: Sich von Bindungen zu lösen, bedeutet nicht, gleichgültig zu werden. "Schlechte Bindungen sollten überwunden, gute Bindungen hingegen beibehalten werden, während wir unablässig danach streben, uns selbst zu verbessern."

Be Angry! plädiert für eine grundlegende Veränderung des Bildungssytems, das nicht lehrt, worauf es wirklich ankommt. "Hat einer noch so viele Lehren vernommen und sein Herz ist unruhig, dann hat er sie nicht praktiziert."

Dalai Lama
Be Angry!
Die Kraft der Wut kreativ nutzen
Allegria, Berlin 2020

Montag, 15. Juni 2020

Jesuit und Zen-Meister

Von Hugo M. Enomiya-Lassalle weiss ich eigentlich nur, dass er Jesuit ist und Zen Buddhismus praktiziert hatte, als ich dieses Buch zur Hand nehme, obwohl ich in meiner Jugend ein oder zwei Bücher von ihm gelesen habe. Doch wie das eben so ist (jedenfalls bei mir), es ist verblüffend wenig, was hängen bleibt. Auch wundere ich mich, dass ich mir nie Gedanken zu seinem Namen gemacht und ihn einfach so hingenommen habe. "Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er unter dem Namen Makibi Enomiya die japanische Staatsbürgerschaft an und behielt den Doppelnamen bei."

Im November 1916 wurde der in Westfalen geborene Hugo Lassalle, gerade mal 18 Jahre alt, einberufen und überlebte den Krieg nur mit viel Glück. "Die Soldaten verrohen sehr und kümmern sich nicht um Recht und Unrecht, soweit sie nicht gegen ihre Kriegsgesetze verstossen; denn andernfalls hätten sie schwere Strafe zu erwarten." Nach Kriegsende tritt er in den Jesuitenorden ein, beschäftigt sich mit Ignatius von Loyola, Johannes vom Kreuz und Teresa von Avila und geht nach der Priesterweihe nach Japan, "mit diesen zwei Ideen im Kopf: im Armenviertel zu wohnen und Zen konkret und praktisch kennenzulernen."

Mein Weg zum Zen gibt nicht nur Auskunft über Lassalles soziale Arbeit in einem Aussenbezirk Tokios ("Die Hauptsache bei all unserer dringend notwendigen Hilfeleistung ist und bleibt die Freundlichkeit der Geber. Liebe und Sympathie sind es vor allem, wonach die Menschen verlangen …") und seine Praxis des Zen, es macht auch deutlich, dass die beiden zusammengehören.

Besonders angesprochen haben mich die Ausführungen über das Essen in Zen-Klöstern, das sehr einfach, doch so gut zubereitet war, wie er es sonst kaum erlebt hat. "Die Philosophie, die dem zugrunde liegt, ist wohl die, dass in jedem Korn Reis gewissermassen das Weltall enthalten und es deswegen mit grösster Ehrfurcht zu behandeln ist." Und auch die Erläuterungen zur Meditation. "Man soll alle Gedanken, die das eigene Ich betreffen, ausschalten. Alle Sorgen, Pläne und besonders jeder Ehrgeiz oder jede Furcht müssen aufhören. Das eigene Ich muss sterben."

Es ist die Praxis, die zählt; es ist das eigene Leben, das persönliche Beispiel, das überzeugen muss, es geht beim Zen um Erfahrung und gelebte Praxis. "Wenn Sie an die Universität gehen und Religionswissenschaft studieren, bekommen Sie einen Titel, aber damit haben Sie noch keine Erfahrung."

Dieses mit historischen Fotos bebilderte Buch enthält neben einem Lebenslauf auch zahlreiche Zeugnisse von Weggefährten, ein Verzeichnis der lieferbaren Bücher von H.H. Enomiya-Lassalle sowie eine Auflistung der Meditationshäuser mit Zen und gegenständlicher Meditation.

Hugo M. Enomiya-Lassalle
Mein Weg zum Zen
Kösel, München 2018

Montag, 1. Juni 2020

Hope, my enemy

Hope is my enemy.

It always it tells me that where I am is not good enough, it constantly wants me to believe that there is something better than what I have, it again and again keeps reminding me that the way things are is not okay.

Hope does not accept that the moment is all we have, it is not in tune with the stream of life, it does not understand that the present is a present.

So far my enemy has proven to be stronger than me. Despite my best insights, I still prefer to be where I am not, and to feel what I don't. Sure, there are moments when this isn't true. Sadly, they are rare.

I do live for biological reasons and not because I have decided to live. And, hope supports my survival instinct. There is, as far as I'm concerned, however a difference between living and surviving. In order to live, one has to give up hope, one needs to surrender.

Hope dies last, it is said. I hope to surrender sooner.

Freitag, 15. Mai 2020

Über den Geist hinaus

Alan Watts (1915-1973) schrieb nicht nur bekannte Bücher, sondern hielt auch viele Radiovorträge. Aus diesen wählte sein Sohn Mark sechs aus, die nun unter dem Titel Über den Geist hinaus. Die östliche Weisheit der Befreiung in Buchform erschienen sind.

Die im Westen geläufigen Weltmodelle sind das keramische, gemäss dem "die Welt ein vom Schöpfer hergestelltes Artefakt ist – so wie ein Töpfer aus Lehm Töpfe formt oder ein Zimmermann aus Holz Tische und Stühle fertigt"und das vollautomatische Modell, wonach wir kosmische Zufallsprodukte sind. Beide Vorstellungen sind Mythen, sie sagen mehr über unsere Art zu denken aus als über die Welt wie sie ist.

Diesen Mythen nachzuhängen hat zur Folge, dass wir uns von unserer Umgebung getrennt fühlen. Nur eben: "Die ganze Welt bewegt sich durch dich hindurch – kosmische Strahlen, Sauerstoff, der Strom von Steaks und Milch und Eiern, die du verspeist – , alles fliesst geradewegs durch dich hindurch. Du bist ein Wirbel, und die Welt wirbelt dich herum."

Alan Watts geht davon aus, dass die Grundsituation unseres Lebens ideal ist. "Es gibt das zentrale Selbst – ob man es Gott nennet oder wie auch immer – , und wir alle sind es." Das sehen die meisten ganz anders, sie leiden unter Schuldgefühlen, dass sie überhaupt da sind und definieren sich als Opfer und Sünder. Eine bessere Variante wäre, Alan Watts' Rat zu beherzigen: "Ob Komödie oder Tragödie, du bist der Regisseur."

Über den Geist hinaus ist voller hilfreicher Denkanstösse. Zu meinen Favoriten gehört dieser hier: "Wenn du dich in Fantasien über eine Person ergehst, die du begehrst, dann drehe die Stickarbeit um und sieh dir die Rückseite an. Betrachte das ganze Chaos auf der Unterseite, aber lass dich nicht dabei erwischen. Tu es heimlich, denn auf der Vorderseite der Stickerei spielt du das Spiel, dass alles so ist, wie es sein soll. Das ist es, was dich menschlich macht, und es ist das, was dich komisch macht."

Das überaus Erfreuliche an Über den Geist hinaus gründet in Watts' Unerschrockenheit, seinem genauen Hinschauen und seinem Witz. "Unserer Erfahrung ist die Vorstellung eingepflanzt, dass die Existenz Schuld ist." Das Leben ist eine ernste Sache, wurde uns eingetrichtert, Spass kann dabei zwar vorkommen, doch dankbar zu sein, ist eindeutig wichtiger. Gott tanzt nicht, ausser bei den Hindus. 

Wir werden von früh auf konditioniert und zwar so, dass die Gesellschaft so weitermachen kann wie sie das gewohnt ist. "Zum Beispiel ist es im Krankenhaus tabu zu schreien, weil das Krankenhaus nicht für dich da ist, sondern für das Wohl der Belegschaft." In erster Linie werden wir daraufhin gedrillt, "das Leben im Sinne von Fortbestand und Nutzen zu betrachten." Nur eben: Dabei entgeht uns das Wesentliche, die Magie. "Und weil wir mit der Zeit aufhören, die Magie in der Welt zu sehen, taugen wir irgendwann nicht mehr für das Spiel der Natur, ihrer selbst gewahr zu sein, und sterben. Um nichts anderes geht es im Leben."

Über den Geist hinaus regt an, unsere Denktraditionen genau zu prüfen, neu und anders zu denken – wenn man denn mag. Ich mag, denn Watts' Ausführungen wirken zutiefst wahr und befreiend auf mich. "Was du gerade jetzt erfährst – vielleicht nennst du es das gewöhnliche Alltagsbewusstsein – , ist es. Und wenn du das erst erkennst, lachst du dich kaputt. Das ist die grosse Entdeckung."

Fazit: Ein überzeugendes Plädoyer, sich von seinen Selbsttäuschungen zu befreien!

Alan Watts
Über den Geist hinaus
Die östliche Weisheit der Befreiung
O.W. Barth, München 2020

Freitag, 1. Mai 2020

Live to learn and know yourself

After a while you learn the subtle difference between holding a hand and chaining a soul. And you learn that love doesn't mean leaning and that company doesn't mean security. And you begin to learn that kisses aren't contracts and presents aren't promises. And you begin to accept your defeats with your head up and your eyes open and with the grace of an adult not the grief of a child. And you learn to build all your roads on today because tomorrow`s ground is too uncertain for your plans. After a while you learn that even sunshine burns if you get too much.

So plant your own garden and decorate your own soul. Instead of waiting for someone to bring you flowers. And you will learn that you can endure that you really are special and that you really do have worth. So live to learn and know yourself. In doing so, you will learn to live.

Mario Quintana, 30 July 1906 — 5 May 1994, Brazilian Writer

Mittwoch, 15. April 2020

Ohne Business-Plan

Es gibt ganz unterschiedliche Spielregeln. Jede Gruppierung hat ihre eigenen, mit jeweils eigens für sie erfundenen Sprachen. Man denke etwa an die Juristen, die Mediziner, Theologen und Schreinerinnen. Nur eben: ich mag nicht mitspielen, will nach meinen eigenen Regeln spielen. Und habe doch immer wieder mitgespielt, auch Regeln eingehalten, gegen die ich mich auflehnte.

Das geht vielen, wenn nicht allen so, doch den meisten fällt das nicht wirklich schwer, die ziehen das durch, ohne grosse Kämpfe und Krämpfe mit sich selber. Warum es mir selber so schwer fällt, ja so recht eigentlich unmöglich ist, mitzuspielen, weiss ich nicht wirklich. Meine unermüdlichen Anstrengungen, auf dieses Warum Antworten zu finden, erschöpften mich zunehmend, liessen auch immer wieder Verzweiflung und Wut aufkommen. Bis ich dann eines Tages angefangen habe, aufzugeben (und das seither immer wieder von Neuem tue, denn das Aufgeben ist ein Prozess) nach Antworten zu suchen, davon abgelassen habe, zu wollen, was ich glaubte, zu wollen. In den Augenblicken, in denen ich das schaffe, empfinde ich das Leben als spielerisch. Und fühle mich Günter Eich nahe, der kurz vor seinem Tod gemeint hat: Ich möchte nur noch spielen.

Das Leben sei unendlich viel labyrinthischer, als unser Gedächtnis uns weismachen wolle – unser Verstand wirke darauf hin, Geschichte in etwas Glatt-Lineares zu verwandeln, und daher unterschätzten wir die Rolle des Zufalls, lese ich in „Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen“ von Nassim Nicholas Taleb. „Und wenn wir damit konfrontiert sind, befällt uns Angst, und es kommt zu Überreaktionen (...) Wer bewusst Ordnung anstrebt, erzielt lediglich eine Pseudo-Ordnung; ein gewisses Mass an wahrer Ordnung und Kontrolle über die Dinge erlangt nur, wer den Zufall bejaht.“

Anstatt dauernd zu versuchen, die Dinge des Lebens in den Griff zu kriegen und damit zu kontrollieren, wäre es klar sinnvoller, uns dem Leben und damit den Zufälligkeiten des Lebens hinzugeben. Und genau dies haben wir verlernt. Als es noch keine geteerten Strassen, sondern nur Naturstrassen gab, musste der Mensch bei jedem Schritt aufpassen, wo er hintrat, heute muss er das nicht mehr, er kann sich auf die stabile, gleichförmige und ihm damit Sicherheit vermittelnde Teerunterlage verlassen. Wer einmal bei einem Erdbeben auf einer geteerten Strasse gestanden ist, weiss, dass diese Sicherheit eine vermeintliche ist.

Hans Durrer
Wie geht das eigentlich, das Leben?
Anregungen zur Selbst- und Welterkundung
neobooks, München 2017

Mittwoch, 1. April 2020

Das vierundachtzigste Problem

Einst wandte sich ein Bauer an Buddha und berichtete ihm von seinen Problemen. Er schilderte die Schwierigkeiten in der Landwirtschaft und berichtete, wie die Dürre und der Monsun ihm die Arbeit schwer machten. Er erzählte auch von seiner Frau. Er liebte sie, aber er hätte sie in einigen Punkten gern anders gehabt. Dasselbe galt für seine Kinder. Auch diese liebte er, doch sie entwickelten sich nicht ganz nach seinen Vorstellungen. Als der Bauer geendet hatte, wollte er von Buddha wissen, wie dieser ihm bei seinen Schwierigkeiten helfen könne.

Buddha antwortete: "Es tut mir Leid, aber ich kann dir nicht helfen."
"Was soll das heissen?", schimpfte der Bauer. "Angeblich bist du doch ein grosser Lehrer."

Buddha erwiderte: "Weisst du, alle Menschen haben dreiundachtzig Probleme. Das ist die traurige Wahrheit. Einige Probleme verschwinden ab und zu, aber es dauert nicht lange, bis sich dafür andere einstellen. Wir haben also immer dreiundachtzig Probleme."
Der Bauer stiess verärgert hervor: "Wozu ist dann deine Lehre gut?"

Buddha antwortete: "Meine Lehre bietet keine Hilfe bei deinen dreiundachtzig Problemen, aber sie kann vielleicht beim vierundachtzigsten Problem helfen."
"Und wie lautet das?", erkundigte sich der Bauer.
"Das vierundachtzigste Problem ist, dass wir keine Probleme haben wollen."

Ezra Bayda: Zen sein - Zen leben

Sonntag, 15. März 2020

Die Wahrheit des Augenblicks

Als ich während eines  Einsatzes als Therapeut einer Kollegin gegenüber wortreiche Ausführungen über meine Sicht der Dinge "unseren" Patienten anlangend machte, sagte sie unvermittelt: Du bist eigentlich eher Philosoph als Therapeut. 

Die psychologische und  psychiatrische Herangehensweise bei seelisch-leidenden Menschen hat mich nie wirklich überzeugt; ich kann mit diesen so recht eigentlich hilflosen und willkürlichen Zuschreibungen (vom frühkindlichen Trauma bis zur angeblichen Bindungsunfähigkeit) wenig anfangen. Sie charakterisieren eher das Denken der Psychologinnen und Psychiater als die Befindlichkeit der Patienten.

Nichtsdestotrotz: Jede Therapie kann wirken, sofern der Patient daran glaubt. Und da der Mensch bekanntlich auch ganz viel Unsinn glaubt (etwa dass die Wirklichkeit nur im Kopf existiere –  solchen Leuten empfehle ich den Sprung vom fünfzehnten Stockwerk), kann sein Glaube natürlich auch jeden Therapieerfolg verhindern.

Mich selber überzeugen die Selber-Denker mehr als die Diplomierten. Und noch mehr imponieren mir die, die leben, was sie predigen. Leider gehöre ich nicht zu ihnen, doch ich gebe mir Mühe und übe weiter. Und darauf gründet wesentlich mein Therapie-Ansatz: Auf meiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Leben, bei dem mich viel Zen-Buddhistisches oder was ich glaube, davon zu verstehen, begleitet hat und das immer noch tut.

Beim Zen geht es darum, den Augenblick zu erfahren. Alles andere ist Ablenkung. Dass eine solche temporär hilfreich sein kann, steht ausser Frage. Nur eben: "Wir können nicht leben, ohne ganz in diesem Augenblick zu sein, denn daraus besteht unser Leben", schreibt Charlotte Joko Beck in Zen im Alltag. Der Augenblick ist immer gegenwärtig, das heisst jedoch nicht, dass wir für ihn erwacht sind. Dies gilt es zu lernen.

Es ist eine "Tatsache, dass wir absolut nicht erleben wollen, was wir erleben." Und warum ist das so? "Wir wollen das Leben nicht annehmen, wie es ist, weil dazu auch das Leiden gehört, und das erscheint uns unannehmbar."

Nehmen wir die weissen Blutkörperchen; sie sind so eine Art Reinigungstrupp, der in den Arterien unterwegs ist. "Gerade während wir hier sitzen, sind Millionen solcher Zellen in uns tätig, um unsere Arterien nach Kräften zu reinigen." Sie tun, was sie tun. Also das, was in ihnen angelegt ist, wofür sie bestimmt sind.

"Uns ist die Gabe des Denkens gegeben, und wir missbrauchen sie und gehen in die Irre. Wir vertreiben uns selbst aus dem Paradies. Wir denken nicht an die Arbeit, die für das Leben getan werden muss, sondern trachten nur danach, wie wir unser isoliertes Selbst hätscheln können – was einem weissen Blutkörperchen nie einfallen würde. Sein Leben wird nach kurzer Zeit vorbei sein, es wird durch andere ersetzt. Es grübelt nicht, es tut einfach seine Arbeit."

Nehme ich mir Zeit und lasse dies auf mich wirken, so vermeine ich zu spüren, dass mein Körper das alles weiss, dass er die Wahrheit des Augenblicks kennt.

Sonntag, 1. März 2020

Staying in the Present Moment

Often, one of our biggest questions is "What's going to happen?" We may ask this about our relationships, our career, our recovery, and our life. It is easy to tangle us up in worrisome thoughts.

Worrying about what's going to happen blocks us from functioning effectively today. It keeps us from doing our best now. It blocks us from learning and mastering today's lessons. Staying in the now, doing our best, and participating fully today are all we need to do to assure ourselves that what's going to happen tomorrow will be for the best.

Worrying about what's going to happen is a negative contribution to our future. Living in the here and now is ultimately the best thing we can do, not only for today, but also for tomorrow. It helps our relationships, our career, our recovery, and our life.

Things will work out, if we let them. If we must focus on the future other than to plan, all we need to do is affirm that it will be good.

Samstag, 15. Februar 2020

FAS(D) perfekt!

Der kleine Mo leidet an der Fetalen Alkoholspektrum-Störung FAS(D) und lebt bei einer Pflegefamilie. Dieses Bilderbuch erzählt, wie er mit dieser Störung lebt und wie sich die Welt um ihn herum anfühlt. Der Autor Reinhold Feldmann und die Illustratorin Anke Noppenberger leisten damit überaus nützliche Aufklärung.

Ein Gläschen in Ehren, denkt der Mensch so gemeinhin, wird man ja wohl niemandem verwehren. Nun ja, wie immer, das kommt ganz drauf an. So ist etwa einem Alkoholiker kein Gläschen zu empfehlen, kein einziges. Klar, Kliniken, die sich für gemässigtes Trinken stark machen, sehen das anders – sie sind auf der Suche nach Patienten, sprich Einnahmen.

Dass Schwangere keinen Alkohol trinken sollen (überhaupt keinen) ist eine relativ neue Erkenntnis, die heutzutage allerdings von allen fachlichen Berufsverbänden empfohlen wird, denn Alkoholkonsum während der Schwangerschaft verändert das Gehirn des Kindes im Mutterleib und zwar vor allem die Regionen, die für das Gedächtnis zuständig sind.

FAS(D) perfekt! leitet dazu an, wie man mit solchen Kindern  sinnvoll umgeht. Und fördert Überraschendes und Hilfreiches zutage. So viel sei verraten: Pädagogische Massnahmen sollten nicht im Vordergrund stehen.

Und noch etwas sei verraten: "Bei allen Einschränkungen haben Kinder mit FASD überraschend häufig besondere Fähigkeiten – oft jenseits der schulischen Leistungsfächer. Die besonderen Begabungen liegen in der Bewegung, im Sport also oder etwa in der Musik. Viele FASD-Kinder kommen im Umgang mit Tieren besonders gut zurecht." Wir könnten einiges von ihnen lernen.

Reinhold Feldmann
Anke Noppenberger
FAS(D) perfekt!
Ernst Reinhardt Verlag, München 2019

Samstag, 1. Februar 2020

Our Pseudo Problems

The first step in any practice is to know that we're imprisoned. Most people have no inkling: "Oh, everything's fine with me." Only when we begin to recognize that we're imprisoned can we begin to find a door and leave the prison. We have awakened enough that we know that we're in prison.

It's as if my problem is a dark, forbidding castle, surrounded by water. I find myself a little boat, and I begin to row away (...) Practice is like the process of rowing across the moat. First we're caught in our particular pseudoproblem. At some point, however, we realize that what seemed to be the problem is not the problem after all – that our problem is something much deeper. A light begins to dawn (...) 

As we begin to row away, the water may be choppy and rough, making our rowing difficult. A storm may even throw us back against the shore, so that we can't get away for a while. Still, we keep trying, and at some point we put some distance between ourselves and the gloomy castle. We begin to enjoy life outside that castle a little bit. Eventually we may enjoy life enough that the castle itself now seems to be just another piece of debris floating in the water, no more important than anything else.

Charlotte Joko Beck
Nothing Special
Living Zen

Mittwoch, 15. Januar 2020

Fünf Meditationen über den Tod

Es ist dieser Perspektivenwechsel, den François Cheng in der ersten Meditation dieses schön gestalteten Werkes vorschlägt, der mich ganz unbedingt für diesen Text einnimmt. „Anstatt den Tod von dieser Seite des Lebens aus wie ein Schreckgespenst anzustarren, könnten wir den Tod in unsere Sicht einbeziehen und das Leben von der anderen Seite, nämlich von unserem Tod aus betrachten (...) Vollziehen wir diese Wende nicht, bleiben wir von einer hermetischen Sichtweise beherrscht, der zufolge unser Leben, egal was wir tun, enttäuschend endet mit einer Schlussfolgerung, die sich in einem Wort zusammenfassen lässt: das Nichts.“

Die Bewunderung des jungen François Cheng (geboren 1929 in China, Übersiedelung nach Frankreich im Alter von neunzehn Jahren), gehörte den Dichtern, nicht nur ihres lyrischen Ausdrucks, sondern der plötzlichen Eingebungen wegen, die sich in ihren Worten manifestierte. In Rilkes „O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod“ vermeint er seine eigene Stimme zu hören.

„Der Tod verwandelt das Leben in Schicksal“, schrieb André Malraux. Cheng kommentiert: „Demzufolge ist das Universum nicht bloss ein Haufen von Entitäten, die sich blind bewegen, es besteht aus einer ausserordentlichen Vielfalt von Wesen, von denen jedes, getrieben vom Wunsch zu leben, einer gerichteten Bahn folgt, einer Bahn, die ausschliesslich ihm eigen ist.“ Sich dies zu vergegenwärtigen, lässt einen (zugegeben, ich spreche von mir) das Leben auch „als ein unglaubliches, heiliges Geschenk“ sehen – und für Geschenke sollten wir dankbar sein.

„Neben der Gewissheit des Todes gibt es in uns diese Gewissheit, dass wir den Augenblick des Lebens beherrschen.“ Cheng unterscheidet den Augenblick von der Gegenwart, die er als ein blosses Bindeglied in der chronologischen Ordnung versteht. Der Augenblick hingegen geschieht ganz unvermittelt, kristallisiert blitzartig „im Inneren unseres Bewusstseins die Erlebnisse der Vergangenheit und die Träume der Zukunft zu einer aus dem namenlosen Meer aufgetauchten Insel, die plötzlich von einem grellen Lichtkegel erhellt wird.“ Nietzsche vertrat die Auffassung, dass wer Ja zu zu einem einzigen Augenblick sage, habe zu allem Dasein Ja gesagt, denn nichts stehe für sich allein, alles sei miteinander verbunden.

Fünf Meditationen über den Tod und über das Leben verblüfft immer wieder durch Chengs genaue Wahrnehmung, die Zeugnis ablegt vom alltäglichen Wunder, dem wir teilhaftig sind. Etwa wenn er auf unsere erstaunliche Fähigkeit hinweist, „zu fühlen und Anteil zu nehmen“. Oder wenn er darauf aufmerksam macht, dass unser Unbewusstes „sich nie vollständig erhellen lässt.“ Oder wenn er feststellt: „Jedes Wesen erstrebt auf Grund seiner Einmaligkeit die volle Entfaltung seiner Anwesenheit in der Welt, gleich einer Blume oder einem Baum.“

Er habe im Grunde sein ganzes Leben „mit Lesen und Schreiben verbracht, vor allem aber mit Denken und Meditieren“, notiert der Autor und so überrascht es nicht, dass Fünf Meditationen über den Tod und über das Leben auch vorführt, wie vielfältig gebildet dieser Mann ist – und dieses Bildungsbürgerwissen wurde mir manchmal etwas gar viel.

Über den Tod und das Leben nachzudenken, bedeutet auch, sich mit der Schönheit und dem Bösen zu befassen und verstehen zu lernen: „Das Leben gehört uns nicht, wir gehören ihm.“ Uns ist aufgegeben, so Cheng, uns der heiligen Ordnung des Lebens rückhaltlos anzuvertrauen, damit „die Entwicklung des Lebens zu einem gewaltigen Abenteuer voller bemerkenswerter Erfolge und unvorhersehbarer Gefahren“ werden kann.  

Fünf Meditationen über den Tod und über das Leben schärft nicht nur die Wahrnehmung, es trägt darüber hinaus dazu bei, mit einem neuen Bewusstsein durchs Leben zu gehen.

Ein im wahrsten Sinne des Wortes wunderbares Buch!

François Cheng
Fünf Meditationen über den Tod
und über das Leben
C.H.Beck, München 2015