Zygmunt Bauman, geboren 1925 in Posen, starb 2017 in Leeds; das vorliegende Werk, von seiner Biographin Izabela Wagner herausgegeben, besteht aus ganz unterschiedlichen Schriften, für deren Zusammenstellung viel Einfühlungsvermögen erforderlich war. Einerseits sind es für die Familie geschriebene Texte, andererseits an die Öffentlichkeit gerichtete. Wie der Titel sagt, handelt es sich um Fragmente, und das meint auch, dass nicht alle Abschnitte seines Lebens Erwähnung finden.
„Wir leben zweimal. Einmal brechen und glätten wir; beim zweiten Mal sammeln wir die Teile auf und arrangieren sie zu Mustern. Im ersten leben wir, im zweiten erzählen wir die Erfahrung. Dieses zweite Leben scheint wichtiger als das erste – warum auch immer.“ Sehr wahr – und sehr, sehr eigenartig, dieses Leben, das wir leben, doch während wir es tun, nicht fassen können. Fraglich scheint mir hingegen dies: „Erst im zweiten taucht der tiefere Sinn an der Oberfläche auf.“ Nur eben: Diesen tieferen Sinn konstruieren wir, der taucht nicht einfach auf.
Fragmente meines Lebens lese ich hauptsächlich als Lebensanleitung. „Es ist wichtig, den tröstenden Gedanken hinter sich zu lassen, dass Aufgeschobenes nicht Aufgehobenes bedeutet ...“. Und so recht eigentlich ist „die einzig wirklich tödliche und unheilbare Krankheit das Leben selbst“. Dazu kommt, dass weise Sätze anderer, die Zygmunt Bauman begeistern, auch mich begeistern. Etwa die Einsicht von Maria Dabrowska: „All das irritiert die Menschen; als ob jemand, der nicht vollständig zu uns gehört, unser Leben in jeglicher Hinsicht an unserer Stelle leben wollte.“
Diese Einsicht beschreibt auch das Schicksal der Juden. „... dämmerte es mir, langsam, aber unaufhaltsam, dass es mein Schicksal war und wahrscheinlich bleiben würde, einer von jenen zu sein, 'die nicht ganz dazugehörten', die dazu verurteilt sind, 'Menschen zu irritieren'“, wie Bauman seine Erfahrungen am Berger-Gymnasium in Poznań beschreibt.
Über die Soziologie, die auf alles eine Antwort geben will, äussert er sich. Und über die Postmoderne, die ihm vor allem Fragen beschert. Und darüber, dass Memoiren zu verfassen vermutlich ein Akt der Verzweiflung ist. Braucht es einen Grund dafür? „... vielleicht gibt es auch überhaupt keinen Grund, nur ein Bedürfnis und einen Anstoss. Ganz ehrlich, ich weiss es nicht. Ich glaube, es ist mir auch egal.“
Auch von des Autors Familiengeschichte ist die Rede. Die Eltern hätten kaum gegensätzlicher sein können; die Schilderung der Verheiratung seiner Schwester, ihre Flucht aus Palästina und ihre Rückkehr liest sich ungemein spannend, auch weil der Autor es hervorragend versteht, den grösseren sozialen Zusammenhang sowie die Absurdität des menschlichen Lebens nachvollziehbar zu machen. Etwas störend ist, dass zwei Texte sich teilweise überschneiden, so dass es zu unnötigen Wiederholungen kommt.
Sein Vater, ursprünglich Ladenbesitzer, später Buchhalter von Beruf, versuchte sein Leben lang dem Rat des Schemaiah gerecht zu werden: „Liebe die Arbeit, verachte die Herrschaft und suche nicht die Bekanntschaft der Macht.“ Das hat auch auf den wissens- und bildungshungrigen Zygmunt abgefärbt, dessen Mutter im Krieg lernte, dass ihre Kochkünste, die sie bei den Truppen wie auch den Holzfällern zu einer gefragten Frau machten, die Familie vor grösserer Unbill bewahrte.
Fragmente meines Lebens ist das Werk eines Fragenden, der den Gewissheiten der Mehrheit wenig abgewinnen kann. Kein Wunder, gehörte er doch bereits als dicker, jüdischer Bub einer Minderheit an, die man nicht dabeihaben wollte.
Wie kommt es, dass der Mensch denkt und fühlt, wie er denkt und fühlt? Es spricht sehr für diesen hoch reflektierten und empfindsamen Autor, dass er nicht vorgibt, dies zu wissen. Und so hält er fest: „Ich kann nicht zufriedenstellend erklären, warum ich tat, was ich tat, wobei es mir vermutlich leichter fallen würde, es anderen zu erklären als mir selbst.“
Es ist ungemein wohltuend an den Einsichten und Erkenntnissen des Zygmunt Bauman teilzuhaben, der unter anderem gelernt hat, dass ein jegliches Sicherheitsversprechen eine Täuschung ist, es 'feste, stabile Prinzipien' nicht geben kann und solche bestenfalls Lügen sind. Gewiss ist ihm jedoch dies: „Ich habe nichts zu verlieren ausser meiner Selbstachtung.“
Nicht zuletzt ist Fragmente meines Lebens in Zeiten des für nicht wenige wiederum salonfähigen Antisemitismus eine überaus nützliche Lektüre, „Nach polnischen Massstäben war Poznań eine wirklich aussergewöhnliche Stadt, der es gelang, eine weitgehende Abwesenheit von Juden mit heftigster antisemitischer Stimmung zusammenzubringen. Ungestört von jeglicher Praxis des Zusammenlebens konnten örtliche Antisemiten sich voll und ganz auf den Prozess ihrer eigenen Veredelung konzentrieren (...) Poznań wurde zur treibenden Kraft und zur Festung der Nationalen Demokratie ...“.
Fazit: Hellsichtig, eindrücklich und vielfältig anregend. Ein wertvolles Buch!
Zygmunt Bauman
Fragmente meines Lebens
Suhrkamp Verlag / Jüdischer Verlag, Berlin 2024

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