Mittwoch, 15. Oktober 2025

Lob des Alltags

Hiroshima, Japan, am 12. Oktober 2025

Am Morgen einen Emile Cioran zugeschriebenen Satz gelesen, der mich seither begleitet: Was er mit 60 wisse, habe er bereits mit 20 gewusst. Mir geht das auch so, selbst die Vorlieben und Neigungen sind dieselben. Schon in Jugendjahren fand ich das Alltägliche, das Gewöhnliche weit anziehender als das Aussergewöhnliche, das Spektakuläre. Es ist nach wie vor so.

Für das angeblich Aussergewöhnliche, das man gesehen haben muss, werden in Hiroshima viele Busladungen herangekarrt. Als ich die Menschenmassen sehe, weiss ich, dass das nichts für mich ist. Stattdessen laufe ich nach dem Frühstück einfach los, lande an einem Fluss, gehe diesen unter Bäumen entlang und fühle mich an Lyon erinnert.

Über eine Brücke gelange ich ans andere Ufer, wo Bänke und vereinzelt Tische aufgestellt sind. Zum ersten Mal sehe ich weggeworfenen Abfall auf der Strasse. In Japan gibt es keine öffentlichen Abfallkübel. Ich komme zu einem Bahnübergang, wo die Schranke sich rauf und runter bewegt, wie bei einem Tanz. Als sie aufgeht, erklingt eine Minute später bereits die Sirene, die den nächsten Zug ankündigt – ich muss rennen, denn schon senkt sich die Schranke wieder.

Die Medien tun wie immer ihr Bestes, damit wir nichts, aber auch gar nichts von dem grenzenlosen Schwachsinn aus dem Weissen Haus verpassen. Sie tun aber leider noch mehr und schreiben die Friedenanstrengungen im Nahen Osten einem einzigen Mann zu. Einem Mann notabene, von dem man weiss, dass er nie etwas anderes tut, als sich selbst zu loben. Unvorstellbar, dass er bei anstrengenden Verhandlungen je dabei gewesen ist.

Es ist sommerlich heiss (31 Grad), die Sonne brennt herunter, ich setze mich auf einen der Bänke am Fluss. Bäume spenden Schatten. Ein Gedanke von Ouspensky geht mir durch den Kopf: Man müsse nirgendwohin, nichts erreichen. Später am Tag ein Interview mit Gabor Maté: Viel zu oft habe er in seinem Leben sich darum bemüht, mit Arbeit seine Existenz zu rechtfertigen.

Tags zuvor hatte ich am Hafen von Hiroshima meinen ersten japanischen Cappuccino getrunken (er war hervorragend) und meinen ersten Green Tea Cake probiert (ist zu empfehlen).

Das Aussergewöhnliche fällt einem zu, wenn man es nicht sucht.

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