Mittwoch, 22. Oktober 2025

Wie soll ich leben?

Es gibt Bücher, die sind wahre Glücksfälle – und Sarah Bakewells „Wie soll ich leben?“ gehört zweifellos dazu. Weil es glänzend geschrieben, originell und ganz wunderbar nützlich ist.

Die erste der zwanzig Antworten lautet: Habe keine Angst vor dem Tod! Zugegeben, so wahnsinnig originell ist das nicht, doch das Kapitel, das Sarah Bakewell ihr widmet, ist es. Wegen der Geschichten, die sie darin erzählt. Die eine geht so: Montaigne war um die 30 und arbeitete beim obersten Gerichtshof für Straf- und Zivilsachen, der auch Verwaltungsbefugnisse hatte, als er eines Tages mit einer Gruppe von Bediensteten seines Landgutes ausritt, vom Pferd fiel und eine Todeserfahrung machte. Hatte er bis dahin der Auffassung seiner Lieblingsphilosophen, den Stoikern, zugeneigt, die da meinten, wenn man auf den Tod vorbereitet sei, könne man ohne Furcht vor ihm leben, kam er nun zum gegenteiligen Schluss: „Je eindringlicher er sich vor Augen hielt, was ihm oder seinen Freunden alles zustossen konnte, desto unruhiger wurde er.“ Besser also, nicht daran zu denken und den Augenblick zu leben, denn Sterben bedeutet nichts anderes als das Bewusstsein zu verlieren: „Man stirbt, als würde man in den Schlaf hinübergleiten … Die Vorstellung, man könne ’sterben lernen‘, war ein Hirngespinst.“

Wie ein roter Faden ziehe sich die Überzeugung von der Vielfalt der Perspektiven durch die ‚Essais‘ schreibt Bakewell. Beispiele dafür finden sich in ihrem Buch zuhauf. Auch müsse man sich am Ende jeder Passage die Bemerkung hinzudenken: „doch nicht einmal dessen bin ich mir sicher“.

Montaigne hatte sieben jüngere Brüder und Schwestern und wurde bereits nach der Geburt zu einer einfachen Bauernfamilie im Nachbardorf zur Pflege gegeben. Dazu Bakewell treffend: „Wenn wir von den entwicklungspsychologischen Ideen des 20. und 21. Jahrhunderts ausgehen (die sich vielleicht bald als fragwürdig erweisen werden: vielleicht ist die Mutter-Kind-Bindung ein ebenso kurzlebiges, kulturell bedingtes Phänomen wie das Gestilltwerden durch eine Amme), so muss der mangelnde Kontakt zu den Eltern in den entscheidenden ersten Lebensmonaten Montaignes Beziehung zu seiner Mutter tiefgreifend geprägt haben. Montaignes eigener Einschätzung nach jedoch funktionierte der Plan perfekt, und er empfahl seinen Lesern, mit ihren Kindern möglichst dasselbe zu tun.“

Wie soll ich leben?“ ist auch ein hilfreiches Buch, weil es clevere Ratschläge bereit hält. Etwa: „Sei gewöhnlich und unvollkommen!“ Oder: „Philosophiere nur zufällig!“ Oder: „Bediene dich kleiner Tricks!“ Letzteres hat damit zu tun, dass es häufig keinen direkten Weg zu einem angestrebten Ziel gibt. In den Worten von Sarah Bakewell: „Die innere Einstellung zu ändern ist das Ziel vieler philosophischer Gedankenexperimente. Wenn man einen wertvollen Menschen oder ein wertvolles Gut verloren hat, stelle man sich vor, man habe diese Person oder diesen Gegenstand nie besessen. Und wie kann man etwas vermissen, das man nie besessen hat? Plutarch beschrieb dieses Experiment in einem Brief an seine Frau nach dem Tod der gemeinsamen zweijährigen Tochter. Er empfahl ihr, sich in die Zeit zurückzuversetzen, das das Kind noch nicht geboren war. Ob Plutarchs Gattin auf diese Weise leichter über den Tod des Kindes hinwegkam, ist nicht bekannt, doch zumindest wurden ihre Gedanken auf etwas anderes gelenkt, und sie versank nicht im Meer der tiefen Trauer.“

Richtig lebt man dann, so meinten die Stoiker (die mit den Epikureern viele Grundgedanken gemeinsam hatten), wenn man der alltäglichen Lebenspraxis möglichst viel Aufmerksamkeit schenkt und „amor fati“, Schicksalsergebenheit, lernt. Wie der Stoiker Epiktet schrieb: „Verlange nicht, dass alles so geschieht, wie du es wünschest, sondern sei zufrieden, dass es so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Ruhe leben.“

Sarah Bakewell
Wie soll ich leben?
oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten
C.H. Beck, München 2012

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