Es
gibt Bücher, die sind wahre Glücksfälle – und Sarah Bakewells
„Wie soll ich leben?“ gehört zweifellos dazu. Weil es glänzend
geschrieben, originell und ganz wunderbar nützlich ist.
Die
erste der zwanzig Antworten lautet: Habe keine Angst vor dem Tod!
Zugegeben, so wahnsinnig originell ist das nicht, doch das Kapitel,
das Sarah Bakewell ihr widmet, ist es. Wegen der Geschichten, die sie
darin erzählt. Die eine geht so: Montaigne war um die 30 und
arbeitete beim obersten Gerichtshof für Straf- und Zivilsachen, der
auch Verwaltungsbefugnisse hatte, als er eines Tages mit einer Gruppe
von Bediensteten seines Landgutes ausritt, vom Pferd fiel und eine
Todeserfahrung machte. Hatte er bis dahin der Auffassung seiner
Lieblingsphilosophen, den Stoikern, zugeneigt, die da meinten, wenn
man auf den Tod vorbereitet sei, könne man ohne Furcht vor ihm
leben, kam er nun zum gegenteiligen Schluss: „Je eindringlicher er
sich vor Augen hielt, was ihm oder seinen Freunden alles zustossen
konnte, desto unruhiger wurde er.“ Besser also, nicht daran zu
denken und den Augenblick zu leben, denn Sterben bedeutet nichts
anderes als das Bewusstsein zu verlieren: „Man stirbt, als würde
man in den Schlaf hinübergleiten … Die Vorstellung, man könne
’sterben lernen‘, war ein Hirngespinst.“
Wie
ein roter Faden ziehe sich die Überzeugung von der Vielfalt der
Perspektiven durch die ‚Essais‘ schreibt Bakewell. Beispiele
dafür finden sich in ihrem Buch zuhauf. Auch müsse man sich am Ende
jeder Passage die Bemerkung hinzudenken: „doch nicht einmal dessen
bin ich mir sicher“.
Montaigne
hatte sieben jüngere Brüder und Schwestern und wurde bereits nach
der Geburt zu einer einfachen Bauernfamilie im Nachbardorf zur Pflege
gegeben. Dazu Bakewell treffend: „Wenn wir von den
entwicklungspsychologischen Ideen des 20. und 21. Jahrhunderts
ausgehen (die sich vielleicht bald als fragwürdig erweisen werden:
vielleicht ist die Mutter-Kind-Bindung ein ebenso kurzlebiges,
kulturell bedingtes Phänomen wie das Gestilltwerden durch eine
Amme), so muss der mangelnde Kontakt zu den Eltern in den
entscheidenden ersten Lebensmonaten Montaignes Beziehung zu seiner
Mutter tiefgreifend geprägt haben. Montaignes eigener Einschätzung
nach jedoch funktionierte der Plan perfekt, und er empfahl seinen
Lesern, mit ihren Kindern möglichst dasselbe zu tun.“
„Wie soll ich leben?“ ist auch ein hilfreiches Buch, weil es clevere Ratschläge bereit hält. Etwa: „Sei gewöhnlich und unvollkommen!“ Oder: „Philosophiere nur zufällig!“ Oder: „Bediene dich kleiner Tricks!“ Letzteres hat damit zu tun, dass es häufig keinen direkten Weg zu einem angestrebten Ziel gibt. In den Worten von Sarah Bakewell: „Die innere Einstellung zu ändern ist das Ziel vieler philosophischer Gedankenexperimente. Wenn man einen wertvollen Menschen oder ein wertvolles Gut verloren hat, stelle man sich vor, man habe diese Person oder diesen Gegenstand nie besessen. Und wie kann man etwas vermissen, das man nie besessen hat? Plutarch beschrieb dieses Experiment in einem Brief an seine Frau nach dem Tod der gemeinsamen zweijährigen Tochter. Er empfahl ihr, sich in die Zeit zurückzuversetzen, das das Kind noch nicht geboren war. Ob Plutarchs Gattin auf diese Weise leichter über den Tod des Kindes hinwegkam, ist nicht bekannt, doch zumindest wurden ihre Gedanken auf etwas anderes gelenkt, und sie versank nicht im Meer der tiefen Trauer.“
Richtig
lebt man dann, so meinten die Stoiker (die mit den Epikureern viele
Grundgedanken gemeinsam hatten), wenn man der alltäglichen
Lebenspraxis möglichst viel Aufmerksamkeit schenkt und „amor
fati“, Schicksalsergebenheit, lernt. Wie der Stoiker Epiktet
schrieb: „Verlange nicht, dass alles so geschieht, wie du es
wünschest, sondern sei zufrieden, dass es so geschieht, wie es
geschieht, und du wirst in Ruhe leben.“
Sarah Bakewell
Wie soll ich
leben?
oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig
Antworten
C.H. Beck, München 2012
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