Mittwoch, 26. November 2025

Das Geschäft mit der Sucht

Seit fünf Jahren fährt Joel im Rettungswagen, er ist abhängig von Pillen. "Das Leben in der Abhängigkeit ist einsam, und die einzig wichtige Beziehung ist die zum Stoff." Seine Kollegen wissen Bescheid, trotzdem versteckt er seinen Konsum. Wie alle Drogenabhängigen hat er so seine Momente, wo er damit aufhören will. Und andere Momente, in denen er am liebsten für immer einschlafen würde.

Dora ist Ermittlerin bei der Polizei. Auch sie ist abhängig von Tabletten und besucht Treffen der Anonymen Alkoholiker, von denen die meisten Rückfälle erleiden. Ein Kollege, von dem sie vermutet, er habe ein Alkoholproblem, unterstützt sie. Sie unterlässt es, ihn auch zu den Treffen zu drängen; sie weiss, dass Drängen nichts nützen würde.

Doras Polizeikollege Rado, ein alleinerziehender Vater, ist von der Kriminalpolizei in die Rauschgiftabteilung gewechselt. Sein Bruder Zeljko verdient als Profi-Killer sein Geld und hatte einst versucht, Dora umzubringen, was sich wie eine Parodie aus einem Lehrbuch für Kriminologie liest: Der eine wird Polizist, der andere kriminell.

Joel, der Rettungssanitäter, wird tot aufgefunden. Dora, die wusste, dass Joel ein Suchtproblem hatte, und Rado werden auf den Fall angesetzt. Dann stirbt ein dreijähriges Mädchen, dessen Eltern drogenabhängig sind und dessen Grossvater ein Grossdealer ist, und Dora will einen Versuch mit Halluzinogenen wagen.

Doch ich will hier nicht die Handlung dieses abwechslungsreichen in Island ("Isländer haben eine lange Geschichte von Suchtkrankheiten, schon die ersten Siedler betranken sich mit Bier und berauschten sich mit Pilzen.") spielenden Krimis nachzeichnen, sondern hervorheben, was ihn zu einer wirklich tollen Lektüre macht.

Da sind etwa die vielfältigen Bezüge zum Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker, das ich allen Therapieansätzen weit überlegen finde, weil bei diesen Treffen die Leute aus eigener Erfahrung wissen, wovon sie reden. Dass Jón Atli Jónasson die Treffen sachlich und mit einen Blick für die Absurditäten der menschlichen Selbstinszenierung schildert, ist eine besondere Freude. "Als Nächstes tritt ein Mann in schwarzem T-Shirt und Anzug mit Frisur im Achtziger-Jahre-Stil ans Rednerpult (...) Der Mann ist Musiker, hatte vor über dreissig Jahren einmal einen grossen Hit, von dessen Erfolg er immer noch zehrt (...) Am Ende seines Vortrags betont er noch, dass er ohne Demut heute nicht clean wäre. So etwas zu sagen und dabei ein T-Shirt mit einem Bild von sich selber zu tragen, muss man erst mal bringen." Wunderbar!

Und da sind die schlauen Beobachtungen, die Autoren eigen sind, die mit einem nüchternen Blick durch die Welt gehen. "Man darf sein Leben ungestört ruinieren, solange man zur Arbeit erscheint und sein Ding macht, überlegt Dora." Oder: "Sie weiss sogar die genaue Fläche, das Einkaufszentrum ist 62000 Quadratmeter gross – aber gleichzeitig kann sie sich nicht mehr daran erinnern, mit wem sie zum ersten Mal Sex hatte." Oder: "Rado konnte ihn schon immer direkt durchschauen. Er sieht irgendeinen Kern, der ihm selbst verborgen ist."

Gift habe ich hauptsächlich als einen Krimi über Sucht gelesen; die Aufklärung, die er bietet, sollte aufrütteln. "Wenn man von Überdosis spricht, klingt es für Dora so, als gäbe es auch eine normale Dosis, so etwas wie eine empfohlene Tagesdosis. Und wer von einem Suchtproblem spricht, redet ihrer Meinung nach eine lebensgefährliche, unheilbare Krankheit klein. Man spricht schliesslich auch nicht von einem Krebsproblem."

Gut geschriebene, fesselnde Krimis lehren mich mehr über die Welt ("In den USA stirbt alle fünf Minuten jemand an einer Überdosis Fentanyl, dagegen war Covid ein Witz.") als die Nachrichten. Gift ist einer dieser gut geschriebenen, fesselnden Krimis.

Jón Atli Jónasson
Gift
Ein Fall für Dora und Rado
FISCHER Scherz, Frankfurt am Main 2025

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen