Je älter ich werde, desto sonderbarer kommt mir alles vor. Dass wir einschlafen und wieder aufwachen können. Oder dass das Christentum, entstanden aus einer kleinen jüdischen Sekte von analphabetischen Fischern, die an so Sachen wie die Heilige Dreifaltigkeit glaubten und dass ein am Kreuz zu Tode Gefolterter drei Tage später wieder aufsteht, bis in die heutige Zeit überdauert hat. Oder dass ein Wort wie leicht in ganz unterschiedlichen Kombinationen vorkommen (ein leichtes Kleid, ein leichter Schlaf, eine leichte Berührung, ein leichter Wein, ein leichter Anfang, eine leichte Brise …) und verstanden werden kann.
Ganz besonders sonderbar kommen mir auch unsere Gerichtsverfahren vor, bei dem zwei Narrative, die des Anklägers und die der Verteidigung, miteinander wetteifern, und die Seite gewinnt, die die für das Gericht überzeugendere Geschichte präsentieren kann. Keine Frage, eine solche Vorgehensweise lässt sich einleuchtend begründen. Nur eben: Einleuchten kann uns viel, inklusive des grössten Unsinns.
„Meine Beine – das bin nicht ich, die Arme auch nicht, der Kopf auch nicht, die Gefühle auch nicht, sogar die Gedanken nicht“, las ich letzthin bei Tolstoi, der der Auffassung war, „dass es ein Lebensgesetz gibt, ein Gesetz, dem man sich unterwerfen oder entziehen kann. Dieses Anerkennen eines dem Menschen unzugänglichen, wohlbekannten höheren Lebensgesetzes – das ist Gott oder wenigstens Gottes Offenbarung.“ Ein Lebensgesetz, das uns unzugänglich ist – das anzuerkennen, finde ich hilfreich.
Der Mensch will und braucht Erklärungen, doch die wirklich wesentlichen (etwa: Warum sind wie hier?) sind nicht zu haben und so geben wir sie uns selber. Viele finden das nicht weiter problematisch, einige hingegen (und zu denen gehöre ich) schon. Schliesslich kann man so ziemlich alles begründen (darauf basieren übrigens die Juristerei oder die Psychologie), nur sagt dies so ziemlich gar nichts darüber aus, wie die Dinge sind, sondern wie wir sind.
Wissen können wir, gemäss Hannah Fry & Adam Rutherford {Der ultimative Guide zu absolut Allem*(*gekürzt), München 2023}, dass „es ein sehr reales Universum gibt, das aus physischer Materie besteht und Regeln gehorcht, die jedenfalls auf dem grundlegendsten Niveau nicht verhandelbar sind.“ Gleichzeitig sind wir Menschen „wundersame Wesen, die mit ihren Erfindungen und Kenntnissen Zeit und Raum zu transzendieren vermögen. Und zugleich sind wir zutiefst fehlerhaft und absolut miserabel darin, dieses fantastische Universum so zu sehen, wie es wirklich ist. Der erste Schritt zur wahren Aufklärung und Erleuchtung besteht darin, sich genau dieser Tatsache bewusst zu sein.“
Hannah Fry & Adam Rutherford plädieren dafür, unser Primatenhirn auszuschalten und uns der Hilfsmittel zu bedienen, „die wir erfunden haben, um unsere evolutionär bedingten Blockaden zu überwinden.“ Darüber hinaus zeigen sie, wie wenig wir unseren Instinkten vertrauen können, und ermuntert uns, „einen Weg zu finden, wie man herausfindet, was man nicht weiss.“ Zudem lehren sie, dass „die Bereitschaft, seine Meinung zu ändern, eine grosse Tugend darstellt (ganz generell, aber insbesondere in der Wissenschaft).“
Auf mich angewendet meint dies nicht etwa, dass mein Denken, das mir sagt, dass das alles (Leben und Tod), keinen Sinn ergibt, womöglich falsch ist (sicher, möglich wäre es natürlich), sondern dass die Vorstellung, es müsse einen Sinn geben und dieser müsse für mich erkennbar sein, eine (wenn man es genau bedenkt) sehr, sehr eigenartige Vorstellung ist, weil sie davon ausgeht, das Leben sei zur Befriedigung meiner Bedürfnisse da. Ich weiss, viele bilden sich genau das ein, was deswegen jedoch noch lange nicht ein Zeichen geistiger und seelischer Gesundheit ist. Ganz besonders sonderbar finde ich jedoch, dass ganz, ganz viele genau das glauben.
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