Sonntag, 22. Juni 2025

Schopenhauer oder Die Erfindung der Altersweisheit

Dass ein Mann mit einem „ausgeprägten Hang zu düsteren Visionen und globaler Nörgelei“ sich zum Lebensberater eignet, ist vermutlich eher selten; im Falle des selbstgewissen Schopenhauer, dessen Einsichten sich ihm durch Anschauung erschlossen, jedoch offensichtlich. Er bietet eine nüchterne Sicht des Lebens, zu der auch gehört, dass das Glück wenig von unseren Anstrengungen abhängt. „Überhaupt aber beruhen neun Zehntel unseres Glücks allein auf der Gesundheit“, meinte er. Und folgert „Der Heiterkeit, wann immer sie sich einstellt, sollen wir Tür und Tor öffnen ...“.

Für Heiterkeit sorgt auch die Lektüre von Schopenhauer oder Die Erfindung der Altersweisheit, wo man zum Beispiel lesen kann, dass Schopenhauer, „Privatgelehrter und in gleicher Funktion auch Privatsekretär des Willens zum Leben“, zum Frauenbeauftragten nicht taugte, sich dagegen sträubte, „dass die Einstellung unseres irdischen Geschäftsbetriebs das endgültige Aus bedeuten könnte“ und „eine enge Anlehnung an die Wirklichkeit“ sich nicht nur für die Kindererziehung empfehle, „sondern auch für Erwachsene, die nicht mit allem abgeschlossen haben und sich noch für lernfähig halten.“

„Schopenhauer kam es vor, als müsste er nur seiner inneren Stimme lauschen, die ihm Kunde gab vom Geheimnis der Welt. Er wurde zum Protokollant einer Philosophie, deren Zeit gekommen war“, so sein Biograf Otto A. Böhmer, dessen Darstellungskunst dieses Werk zu einem aussergewöhnlichen Lesevergnügen macht, einem überaus lehrreichen, notabene.

„Mich haben nicht die Bücher, sondern die Welt hat mich befruchtet“, schrieb Schopenhauer, dessen Philosophie ein Frontalangriff auf die damals herrschende Rationalität war. „Der Mensch ist nicht mehr die Krone der Schöpfung, sondern ein Lebewesen unter vielen, das sich vor anderen nur durch seine enorme Selbstüberschätzung auszeichnet.“ Es ist der allmächtige Wille, der uns am Leben hält, und nicht etwa der Verstand.

Ein umgänglicher Mann ist Schopenhauer offenbar nicht gewesen. Otto A. Böhmer hält ihn für die Diplomatie wenig geeignet. Auch Gelassenheit war ihm nicht gegeben. Seinen eigenen Angaben gemäss, kam er nur in seiner Philosophie zur Ruhe und „weniger im Leben, das ihm wiederkehrende Ängste bescherte.“ Mit anderen Worten: Nimmt man sein Leben zum Massstab, tut man seiner Philosophie unrecht. Nichtsdestotrotz: Leben und Werk können sich gelegentlich auch befruchten.

Schopenhauers Einsichten haben es in sich. „Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloss im Zustand der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heisst: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloss und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist.“

Schopenhauer gilt bekanntlich vielen als Pessimist. Auf mich wirkt er zwar nicht gerade wie eine Ausgeburt an Lebensfreude, jedoch erfreulich realistisch – und das erlebe ich befreiender als die unter Wahrnehmungsverzerrung leidenden Berufsoptimisten, die andauernd behaupten, alles werde gut kommen und auf ihr Bauchgefühl als Beleg hinweisen. Obwohl: Auch Schopenhauer scheint zu glauben, dass die Auseinandersetzung mit sich selber dem Menschen erlaube „stets mit voller Besonnenheit ganz er selbst sein und wird nie von sich selbst im Sich gelassen werden, weil er immer wusste, was er sich selber zumuten konnte“. Für Autor Böhmer ist dies Wunschdenken, da unser innerer Kern von der Selbsterkenntnis weitgehend unberührt bleibt, denn: „Das Bewusstsein hat genug mit sich selbst zu tun: Es muss funktionieren und kann froh sein, wenn es unfallfrei durch den Tagesbetrieb kommt, der ihm fortwährend zugemutet wird.“ Wunderbar!

Der Egoismus ist die Triebfeder des Menschen, so Schopenhauer. Aber eben nicht nur, wendet Autor Böhmer ein und bleibt die Beispiele nicht schuldig. Wir sind vom Willen geleitet, der Verstand ist diesem untergeordnet, lehrt Schopenhauer. Zustimmend kommentiert Böhmer: „Der Mensch, mit einem Intellekt ausgerüstet, der in der Regel nicht bestaunenswert leistungsfähig ist, kann von seinem tierischen Erbe jederzeit eingeholt werden. Um so mehr sollte er die Momente ruhiger Einsichtigkeit schätzen, die ihm gelegentlich widerfahren.“ Und sich dabei dieses schöne Buch zu Gemüte führen, wie ich gerne hinzufügen will.

Erhellende Einsichten zur Eigen- und Fremdwahrnehmung wie auch über den Egoismus, unser aller Antriebskraft, den konstant bleibenden Charakter, die Willensfreiheit, das Gewissen („das geheime Regulativ unseres Handelns“), und und und, finden sich in diesem flüssig geschriebenen Werk, dessen Titel „die Erfindung der Altersweisheit“ erwähnt, was impliziert, dass diese sich nicht einfach so ergibt und schon gar nicht jeder an ihr teilhat.

„Der Wille lässt das Bewusstsein für sich arbeiten“, fasst Autor Böhmer zusammen, „warum, wird nicht wirklich ersichtlich. Im Grunde gelangen wir nur zu einer Einsicht, die sich so zusammenfassen lässt: unser Wille geschehe. Dass er überhaupt geschieht, ist nicht in Frage zu stellen, sondern hinzunehmen.“ Das bestätigt übrigens auch die moderne Hirnforschung.

Bücher, die ich schätze – und das vorliegende gehört dazu – machen mich auch immer wieder mal laut heraus lachen, so ungemein treffend bringen sie unsere Lage auf dem Planeten Erde auf den Punkt. „Der Mensch wird ins Leben geworfen und tappt, mal orientierungsstolz, mal ratlos, durch Zeit und Raum. Was er sieht und denkt, entspricht seinen Möglichkeiten. Damit das Ganze nicht allzu lange dauert, darf er sich über die Vergänglichkeit freuen, die über seinem Tun und Lassen liegt. Aus der Gegenwart aber wird er nicht entlassen, nicht einmal auf Bewährung ...“.

Fazit: Anregende Aufklärung, differenziert und unterhaltsam.

Otto A. Böhmer
Schopenhauer oder Die Erfindung der Altersweisheit
Verlag C.H. Beck, München 2010

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