Mittwoch, 4. Juni 2025

Interkulturelle Psychotherapie in der Praxis

Als Margrit Mies-Chiellino sich Anfang der 1990er Jahre als Psychotherapeutin niedergelassen hatte und in der Folge auch Erfahrungen mit Klienten mit interkulturellem Lebenslauf machte, musste sie ohne Vorbilder herausfinden, "wie ich bei diesen Klienten therapeutisch vorgehen sollte." Für mich ist das nach wie vor die beste Art und Weise sich mit der Seelenwelt vertraut zu machen, Margrit Mies-Chiellino sieht das anders, deshalb dieses Buch.

Wie jedes andere Fachgebiet, schafft auch die Psychotherapie zuerst die Probleme, die es dann zu lösen gilt. Und für die interkulturelle Psychotherapie gilt das ganz besonders, handelt es sich doch um ein Gebiet, das sich als solches erst konstituieren muss, denn die Kultur bzw. kulturelle Prägungen speziell hervorzuheben drängt sich nicht notwendigerweise auf, auch wenn es gelegentlich hilfreich sein kann.

Meine eigene Beschäftigung mit interkulturellen Fragen hat mich dazu gebracht, den kulturellen Faktoren weit weniger Bedeutung zu geben als den sozialen Verhältnissen. Mit anderen Worten: Die Reichen in Singapur und die Reichen in der Schweiz haben einen sehr ähnlichen mindset. Zudem führt die weltweit grassierende Konsumsucht dazu, dass viele bei Therapeuten nicht anderes suchen als einen quick fix. Und nicht zuletzt: Ich habe in Kulturen fern meiner Herkunftskultur Menschen getroffen mit denen mich mehr verband als mit den meisten Menschen aus meiner Herkunftskultur. 

Margrit Mies-Chiellino ist mit der italienischen Kultur nicht unvertraut; ihr Mann stammt aus Italien, sie versteht und spricht Italienisch. Und deshalb weiss sie, "dass Sprachkenntnisse oder auch sogenannte 'interkulturelle Kompetenzen', die laut entsprechender Fachleute zu erwerben seien, nicht ausreichen können, um mit interkulturell geprägten Klienten therapeutisch zu arbeiten."

Schön, dass sie "interkulturelle Kompetenzen" in Anführungszeichen gesetzt hat, denn die sogenannten interkulturellen Fachleute, von denen ich bislang Kenntnis genommen habe, waren dies meines Erachtens nur aufgrund von Zuschreibungen, die sie sich meist selber verliehen hatten. Doch was sind eigentlich interkulturell geprägte Klienten? Margrit Mies-Chiellino versteht darunter "Klient:innen mit unterschiedlicher kultureller Herkunft." Und sie hält fest: "Ich denke es reicht nicht allein aus, sich Wissen über eine fremde Kultur anzueignen, sondern es ist entscheidend, als Therapeut:in eine offene, aufnahmebereite Haltung dem Unbekannten gegenüber einzunehmen." Ich stimme zu, obwohl eine solche Haltung so ziemlich überall nützlich und bedauerlicherweise selten genug ist.

Gestört hat mich, dass die Autorin ihre eigene kulturelle Prägung nicht hinterfragt. So hält sie etwa emanzipatorische Entwicklungsschritte an sich für positiv. Und eine selbstbestimmt gestaltete Zukunft sowieso. Ich sehe das zwar auch so, aber ob das Frauen aus ausgeprägt patriarchalischen Kulturen auch so sehen, weiss ich schlicht nicht. Auch scheint es für Margrit Mies-Chiellino selbstverständlich, dass Leistungsdruck abgebaut gehört, lässt dabei aber vollkommen ausser Acht, dass Leistungsdruck auch motivierend sein kann. Und nicht zuletzt: Japaner wundern sich gelegentlich, weshalb Westler eigentlich immer über alles reden wollen. Nun ja, Therapeuten wären sonst arbeitslos.

Nichtsdestotrotz: Margrit Mies-Chiellino schreibt klar, differenziert und bestens nachvollziehbar. Ihre Ausführungen laufen letztlich darauf hinaus, zu akzeptieren, was ist. Und das schliesst ganz vieles mit ein, das die meisten selten auf dem Radar habe, von gegenseitigen Fremdheitsgefühlen bis zur Unsicherheit der Verständigung. Das Buch ist reich an Fallbeispielen. Gut gefallen hat mir insbesondere der persönliche Lernprozess der Autorin, die zu begreifen begann, dass sie ihr fremde Empfindungen und Verhaltensweisen nicht unbedingt verstehen musste, "die Klienten mussten von mir nicht befragt und zu Erklärungen aufgefordert werden."

Interkulturelle Psychotherapie in der Praxis ist ein reflektierter Erfahrungsbericht, der in der Hauptsache dokumentiert, wie die Autorin sich vollständiger zu erfassen gelernt hat, als dies ohne ihre therapeutische Arbeit mit Menschen aus anderen als ihrer Herkunftskultur so wohl nicht hätte stattfinden können. Je mehr sie zu sich selber fand, desto besser wurde sie als Therapeutin. Das Zitat eines Mitglieds von Silkroad Project, einer interkulturell zusammengesetzten Musikgruppe, fasst das mir sympathische Credo von Margrit Mies-Chiellino sehr schön zusammen: "... vorausgesetzt, dass ich mir bewusst bin, was ich bin und habe, kann ich mich dem Anderen zuwenden, dies verstehen und dann weitergeben und aus beidem etwas Neues entstehen lassen."

Margrit Mies-Chiellino
Interkulturelle Psychotherapie in der Praxis
Konfliktfelder und Interventionen
Ernst Reinhardt Verlag München 2025

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