Mittwoch, 11. Juni 2025

Es ist alles Chemie

„… es ist therapeutisch, wenn du mit bestimmten Menschen sprichst. Du fühlst dich hinterher besser. Niemand weiss, warum. Es ist alles Chemie“, so die Psychoanalytikerin Erika Freeman. Das fasst meine eigene Erfahrung treffend zusammen, nicht nur in Sachen Therapie, sondern allgemein.

Wer weiss denn schon, warum wir tun, was wir tun? Oder warum wir denken, was wir denken bzw. fühlen, was wir fühlen? Nicht, dass es an Erklärungen mangeln würde, doch diese sind letztlich nicht viel mehr als Manifestationen unserer Art zu denken. Als der Physiker Leo Szilard eines Tages seinem Kollegen Hans Bethe mitteilte, er trage sich mit dem Gedanken, ein Tagebuch zu schreiben, fügte er hinzu, er habe nicht die Absicht, es zu veröffentlichen, er wolle nur die Fakten aufzeichnen, zur Information Gottes. Ob er denn nicht glaube, Gott kenne die Fakten, fragte Bethe. Sicher, er kenne die Fakten, doch diese Version der Fakten kenne er nicht, antwortete Szilard.

„Wenn man auch noch so alt wird“, befand Schopenhauer, „so fühlt man doch im Innern sich ganz und gar als denselben, der man war, als man jung, ja, als man noch ein Kind war.“ Mehr noch: Beim Durchgehen alter Emails habe ich bemerkt, dass die Vorstellung, ich hätte mich geistig entwickelt, trotz der diversen Ausbildungen, Berufserfahrungen und den vielen Büchern aus ganz unterschiedlichen Wissensgebieten, vermutlich ein Irrtum ist – zu meiner nicht geringen Verblüffung hatte ich meine heutigen Einsichten bereits vor zwanzig, dreissig Jahren. Und vermutlich immer schon.

Als ich mit Mitte vierzig eine Magisterarbeit über Dokumentarfotografie verfasste, wobei ich mich intensiv mit Preisen will ich die grossen Männer von James Agee und Walker Evans auseinandersetzte, erinnerte ich mich, dass ich zwanzig Jahre zuvor dieses Buch erworben hatte. Ich weiss nicht mehr, ob ich damals viel Zeit damit verbracht habe, doch ich weiss noch, dass das Buch teuer war, jedenfalls zu teuer für mein Studentenbudget.

Warum ich damals dieses Buch erwarb, darüber kann ich nur rätseln. Dass es zwanzig Jahre später eine für mich wichtige Rolle spielen würde, konnte ich kaum erahnen. Nun ja, erklärte mir ein Bekannter, offenbar war ganz einfach die Zeit dafür gekommen. Mir selber ist solch willkürliche Sinngebung fremd, ich ziehe es heutzutage vor, ganz einfach zu konstatieren, was ich konstatieren kann: Da ist etwas geschehen, für das ich keine Erklärung habe, ausser dass da (und so recht eigentlich überall) eine Chemie am Werk ist, die wir weder verstehen können noch müssen. Es genügt, dass wir sie staunend zur Kenntnis nehmen und uns gelegentlich an ihr freuen.

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