Wer ein Sachbuch schreibt, tut, was alle anderen, die ein Sachbuch schreiben, auch tun. Ein Blick in die Geschichte, Klärung der Begriffe, gefolgt von mehreren hundert Seiten, auf denen ein, zwei Gedanken aus immer wieder anderen Perspektiven beleuchtet werden. Das ideologische Gehirn ist keine Ausnahme.
Éléments d'idéologie (1784) geht auf den französischen Adeligen Comte Antoine Destutt de Tracy zurück, der unter Ideologie nicht das starre Denken verstand, das wir heute damit assoziieren. Die idéologistes waren Vorkämpfer von Demokratie und setzten auf die Kraft des denkenden Individuums. Das passte vielen nicht. "Napoleon machte aus den idéologistes idéologues, und schon wurde das Wort 'Ideologie' zu einer Beleidigung, Verleumdung, die man seinem politischen Gegner an den Kopf werfen konnte."
Wie funktioniert eigentlich das Gehirn? "Das Gehirn ist ein vorhersagendes Organ. Es lernt von seiner Umwelt und versucht zu erkennen, was als Nächstes geschehen wird." Kein Wunder, fehlt es uns so schwer, in der Gegenwart zu sein – es rennt uns dauernd davon. Dazu kommt: "Unser Gehirn in kommunikativ (...) Es sehnt sich nach Gegenseitigkeit, nach dem wogenden Hin und Her von Anerkennung und Verbindung."
Ideologisches Denken "ist super-logisch, hyper-logisch, und dies ist auch der Grund, warum es so gefährlich ist." Mit anderen Worten: Es ist dem Leben diametral entgegengesetzt, denn dieses ist, wie wir alle täglich erfahren, nicht wirklich verstehbar.
Für Leor Zmigrod ist Geist gleich Biologie. Und sie glaubt, dass das Biologische vom Politischen geformt wird. Das bedeutet unter anderem, dass die Terminologie von Geist, Gehirn und Körper neu gedacht werden sollte. Voraussetzung dafür ist, unsere dualistischen Prämissen über Bord zu werfen. "Das Gehirn ist aus dem gleichen Stoff gemacht wie der Rest des Körpers: Wasser, Protein, Fett Salz, Blutgefässe, Röhren und Fasern. Das Gehirn ist ein Organ wie jedes andere, nur komplexer organisiert, mit Verbindung zu Herz, Bauch und unserem gebeugten kleinen Zeh." Dies impliziert, dass unsere Vorstellung der Welt, die Art und Weise, wie wir sie mental geordnet haben, neu gedacht werden muss, basierend auf Beobachtung und Erfahrung, die dann ausgewertet gehören. Wie das dem Comte Antoine Destutt de Tracy vorschwebte.
Zen-Buddhisten gehen seit je davon aus, dass unser dualistisches Denken in die Irre führt. Wir sind gefangen in Gut und Böse, Richtig und Falsch. "Stattdessen sollten wir nach dem Prozess fragen, weil wir nur so den Dingen auf den Grund gehen." Gut möglich, dass wir dabei dann auch herausfinden, dass die Vorstellung von einem Grund ebenfalls eine ideologische Vorgabe sein könnte.
Indoktrination, weist die Autorin mit zahlreichen Untersuchungen nach, können tief in Körper und Geist eindringen. Nicht alle Gehirne sind im selben Mass gefährdet. Entscheidende Faktoren sind unsere Zellen, unsere Körper und unsere persönlichen Narrative. Wenn man es recht bedenkt, so ist dies keineswegs verwunderlich, verwunderlich ist eher, dass wir in Denktraditionen gefangen sind, die uns solche Einsichten bislang verwehrt haben.
Die Forschungen des Sozialpsychologen Gordon Allport legen die Vermutung nahe, "dass unsere politischen Vorurteile und ideologischen Überzeugungen konkrete Ausformungen einer allgemeinen Denkgewohnheit sind." Das liegt in der Tat nahe: Wer in die rigiden Denkmustern unterwegs ist, die Klarheit und Gewissheit suggerieren, wird diese wohl allüberall suchen.
Zudem haben die Interviews und Experiment von Else Frenkel-Brunswik in den 1940er-Jahren gezeigt, dass Kinder, die zur Rigidität neigten, fasziniert waren "von Chaos, Aufstand und Katastrophe. In ihrem Wunsch nach Ordnung lag auch eine Fetischisierung der Unordnung."
Es gehe darum, unsere Sinne wiederzuerlangen, so Susan Sontag. "Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören, mehr zu fühlen." Also weniger Interpretation, dafür mehr Anschauung. Schopenhauer und Wittgenstein eignen sich als Leitfiguren. Auf letzteren wird am Beispiel des Kaninchen/Ente-Cartoons hingewiesen. Je nach dem, wie man schaute, sah man zuerst ein Kaninchen und dann eine Ente oder umgekehrt. "Die Kaninchen-Ente-Illusion zeige, argumentierte Wittgenstein, dass wir nicht immer, wenn wir ein Objekt sehen, das sehen, was es ist. Eine visuelle Erfahrung ist immer durchwirkt von Urteilen und Vorurteilen, die unsere Aufmerksamkeit steuern und gefangen halten." Eine Erkenntnis, die das Potential hat, uns vor einer rigiden Weltsicht zu bewahren.
Wissenschaft hinterfragt, ihre Gewissheiten sind beschränkt auf den jeweiligen Stand der Forschung. Wissenschaft ist das Gegenteil von Rigidität; es liegt an uns, ob wir uns fürs Fragen und das Gefühl des Staunens entscheiden.
Leor Zmigrod
Das ideologische Gehirn
Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen
Suhrkamp, Berlin 2025

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