Ich hätte kürzlich in alten Büchern geblättert, sage ich zu Beginn des Intensivkurses Conversational English im brasilianischen Santa Cruz do Sul. Dabei sei ich in den Tagebüchern von Eugène Ionesco auch auf Sätze gestossen, die ich mir in Jugendjahren angestrichen hätte und mich zu meinem nicht geringen Erstaunen heute noch genauso berührten. Emotional, so scheine mir, hätte ich mich kaum verändert, sei ich offenbar aussergewöhnlich stabil geblieben.
Er habe sich immer bemüht zu leben, schrieb Ionesco, doch es sei ihm nicht gelungen, das Leben sei zu schnell gewesen, er habe es nicht zu fassen gekriegt. Ob sie damit was anfangen könnten?, fragte ich in die Runde. Zwei Unidozenten, drei Manager aus der Tabakindustrie, eine Juristin, ein Betriebswirtschaftler zwischen dreissig und sechzig – alle sagten ausnahmslos, es ginge ihnen genauso.
Es liegt womöglich an unseren Erwartungen, denkt es so in mir. Nie ist es so, wie ich mir vorstelle, dass es sein sollte. Obwohl: Manchmal kommt es genau so, wie ich es mir gewünscht habe – und dann ist es oft auch wieder nicht recht. Ich vermute, es liegt daran, dass meine Gefühle sich partout nicht an meine Vorstellungen halten und so furchtbar eigensinnig sind. Im Nachhinein allerdings ...
Vor Jahren, in Bangkok, kam ich an der AUA, der American University Alumni, mit einer Inderin ins Gespräch, die wie ich dort einen Thai-Kurs besuchte. Ich war damals so Mitte dreissig, sie schätzte ich auf Ende zwanzig. Ob ich so lebe, wie ich es mir wünsche?, fragte sie. Ja, antwortete ich, auch wenn mein Leben überhaupt nicht so verlaufen sei, wie ich es mir vorgestellt hätte. Doch wenn ich zurückschaue, hätte ich den Eindruck, dass ich es besser gar nicht hätte planen können. This is very Thai, sagte sie und das gefiel mir sehr, denn nirgendwo fühlte ich mich zu der Zeit wohler als in Thailand.
Auf die Frage, wo er am liebsten lebe, antwortete der damals in Clarens oberhalb Montreux ansässige Eric Ambler: Immer da, wo er gerade nicht sei. Ist man überhaupt jemals da, wo man gerade ist? Ich selber bin seelisch/geistig eigentlich nie, wo ich physisch bin. Ausser beim Sex.
1997 lernte der Filmregisseur und Buchautor Werner Herzog den japanischen Soldaten Hiroo Onoda kennen, der im philippinischen Urwald lebt, als Japan im Zweiten Weltkrieg vor den USA kapituliert. Er weiss nichts davon und verbringt viele Jahre, bis 1974, im Dschungel, wo er zum Schluss gekommen ist, dass es die Gegenwart nicht gibt, nicht geben kann. „Jeder Zentimeter seines Fusses nach vorne etwas Kommendes, jeder Zentimeter dahinter schon Vergangenes", zitiert ihn Herzog.
Da sieht man, was das Denken mit einem machen kann, wenn man keinen Sex hat.
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