Sonntag, 29. Juni 2025

Das Lied der Natur

In einem obskuren Laden in Hamburg stösst die Pianistin Hélène Grimaud, während einer Pause zu Proben von Brahms Zweitem Klavierkonzert, auf ein Manuskript, von dem sie glaubt, es sei von Brahms. Das ist packend geschildert, man wähnt sich mit dabei im Hamburger Regen, fühlt mit der ob des Fundes zwischen Unglauben und Irritation schwankenden Autorin.

Ich mochte die raue Geradlinigkeit seines Wesens und seine Konzessionslosigkeit. Er konnte nein sagen, duldete keine Einbrüche der Welt in die seine und zog sich oft in die Natur zurück, um dem Hymnus der Schöpfung zu lauschen.“ Kein Wunder, gefällt ihr Brahms‘ Haltung, denn auch sie selber hat einen engen Bezug zur Natur. Sie empört sich über den Umgang des Menschen mit ihr, bedauert die Zerstörung, die sich unter anderem darin ausdrückt, dass der Gesang der Vögel und das Rauschen der Bäche in den Wäldern zunehmend den Motorengeräuschen und dem Smog hat weichen müssen. Und sie fragt sich, was wir eigentlich dagegen tun, „ausser mit dem Finger auf die beiden Schwellenländer China und Indien zu zeigen, die wir beschuldigen, die grössten Umweltsünder des Planeten zu sein, während wir uns vollstopfen …“ und weiterhin das von den Politikern und der Industrie geforderte Wachstum garantieren, indem wir uns zu Tode konsumieren.

Hélène Grimaud will daran glauben, dass das Manuskript aus dem Hamburger Antiquariat von Brahms stammt. Sie identifiziert sich mit der Erzählung, ist sich allerdings unschlüssig, ob diese Fiktion oder Realität ist. Was für ein reales Geschehen spricht, ist das Staunen von Brahms‘ Freunden über dessen vollkommenes Einswerden mit der Natur, „das so weit ging, dass er den Regen einfach nicht traurig finden konnte. Wenn es regnete, entdeckte er in der Landschaft eine andere Art von Schönheit, die er später in seinen Liedern zum Vorschein brachte.“

Doch ganz sicher ist sich Hélène Grimaud nicht, ob der Text wirklich von Brahms ist. Sie beginnt in den Biografien des Komponisten nachzuforschen. Folgt Vermutungen und Ahnungen, macht sich auf nach Rügen. Und findet einen seelenverwandten Naturfreund.

Doch „Das Lied der Natur“ ist nicht nur ein Buch über ihre Beziehung zu Brahms, sondern auch ein Buch darüber, dass und wie alles zusammenhängt. Die Schumanns mit Brahms mit Adelbert von Chamisso mit E.T.A. Hoffman mit Edgar Allen Poe mit Dostojewski …

Hélène Grimaud erzählt auch von Schuberts (Gotthilf Heinrich von Schubert) Naturphilosophie und fragt sich, ob es sein könnte, dass wir derart mit der Schöpfung verbunden sind, „dass wir in unserem Geist durch eine Art unbestimmten Unbehagens, chronischer Depression die Leiden empfinden, die wir ihr zufügen?“

Das Lied der Natur“ ist nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn. „Den Augenblick leben, das bedeutet, dass man lernt, sich all dessen bewusst zu sein, was uns umgibt, und unsere Seele damit zu nähren. Die Wölfe haben mich diese Wachsamkeit des Geistes gelehrt und dass die Zeit ein Territorium sein kann, um das man sich mit Leib und Seele kümmern muss.“

Sich dem hinzugeben, was ist, was wir sehen und empfinden können, ist vermutlich die weiseste Form, um sich auf dem Planeten Erde zuhause fühlen zu können. Hélène Grimaud erlebt diese Hingabe manchmal in der Musik. Und sie erlebt sie unter Wölfen. Und wenn sie Brahms liest.


Hélène Grimaud
Das Lied der Natur
C. Bertelsmann, München 2014

Mittwoch, 25. Juni 2025

Kann man eigentlich in der Gegenwart sein?

 Ich hätte kürzlich in alten Büchern geblättert, sage ich zu Beginn des Intensivkurses Conversational English im brasilianischen Santa Cruz do Sul. Dabei sei ich in den Tagebüchern von Eugène Ionesco auch auf Sätze gestossen, die ich mir in Jugendjahren angestrichen hätte und mich zu meinem nicht geringen Erstaunen heute noch genauso berührten. Emotional, so scheine mir, hätte ich mich kaum verändert, sei ich offenbar aussergewöhnlich stabil geblieben.

Er habe sich immer bemüht zu leben, schrieb Ionesco, doch es sei ihm nicht gelungen, das Leben sei zu schnell gewesen, er habe es nicht zu fassen gekriegt. Ob sie damit was anfangen könnten?, fragte ich in die Runde. Zwei Unidozenten, drei Manager aus der Tabakindustrie, eine Juristin, ein Betriebswirtschaftler zwischen dreissig und sechzig – alle sagten ausnahmslos, es ginge ihnen genauso.

Es liegt womöglich an unseren Erwartungen, denkt es so in mir. Nie ist es so, wie ich mir vorstelle, dass es sein sollte. Obwohl: Manchmal kommt es genau so, wie ich es mir gewünscht habe – und dann ist es oft auch wieder nicht recht. Ich vermute, es liegt daran, dass meine Gefühle sich partout nicht an meine Vorstellungen halten und so furchtbar eigensinnig sind. Im Nachhinein allerdings ...

Vor Jahren, in Bangkok, kam ich an der AUA, der American University Alumni, mit einer Inderin ins Gespräch, die wie ich dort einen Thai-Kurs besuchte. Ich war damals so Mitte dreissig, sie schätzte ich auf Ende zwanzig. Ob ich so lebe, wie ich es mir wünsche?, fragte sie. Ja, antwortete ich, auch wenn mein Leben überhaupt nicht so verlaufen sei, wie ich es mir vorgestellt hätte. Doch wenn ich zurückschaue, hätte ich den Eindruck, dass ich es besser gar nicht hätte planen können. This is very Thai, sagte sie und das gefiel mir sehr, denn nirgendwo fühlte ich mich zu der Zeit wohler als in Thailand.

Auf die Frage, wo er am liebsten lebe, antwortete der damals in Clarens oberhalb Montreux ansässige Eric Ambler: Immer da, wo er gerade nicht sei. Ist man überhaupt jemals da, wo man gerade ist? Ich selber bin seelisch/geistig eigentlich nie, wo ich physisch bin. Ausser beim Sex.

1997 lernte der Filmregisseur und Buchautor Werner Herzog den japanischen Soldaten Hiroo Onoda kennen, der im philippinischen Urwald lebt, als Japan im Zweiten Weltkrieg vor den USA kapituliert. Er weiss nichts davon und verbringt viele Jahre, bis 1974, im Dschungel, wo er zum Schluss gekommen ist, dass es die Gegenwart nicht gibt, nicht geben kann. „Jeder Zentimeter seines Fusses nach vorne etwas Kommendes, jeder Zentimeter dahinter schon Vergangenes", zitiert ihn Herzog.

Da sieht man, was das Denken mit einem machen kann, wenn man keinen Sex hat.

Sonntag, 22. Juni 2025

Schopenhauer oder Die Erfindung der Altersweisheit

Dass ein Mann mit einem „ausgeprägten Hang zu düsteren Visionen und globaler Nörgelei“ sich zum Lebensberater eignet, ist vermutlich eher selten; im Falle des selbstgewissen Schopenhauer, dessen Einsichten sich ihm durch Anschauung erschlossen, jedoch offensichtlich. Er bietet eine nüchterne Sicht des Lebens, zu der auch gehört, dass das Glück wenig von unseren Anstrengungen abhängt. „Überhaupt aber beruhen neun Zehntel unseres Glücks allein auf der Gesundheit“, meinte er. Und folgert „Der Heiterkeit, wann immer sie sich einstellt, sollen wir Tür und Tor öffnen ...“.

Für Heiterkeit sorgt auch die Lektüre von Schopenhauer oder Die Erfindung der Altersweisheit, wo man zum Beispiel lesen kann, dass Schopenhauer, „Privatgelehrter und in gleicher Funktion auch Privatsekretär des Willens zum Leben“, zum Frauenbeauftragten nicht taugte, sich dagegen sträubte, „dass die Einstellung unseres irdischen Geschäftsbetriebs das endgültige Aus bedeuten könnte“ und „eine enge Anlehnung an die Wirklichkeit“ sich nicht nur für die Kindererziehung empfehle, „sondern auch für Erwachsene, die nicht mit allem abgeschlossen haben und sich noch für lernfähig halten.“

„Schopenhauer kam es vor, als müsste er nur seiner inneren Stimme lauschen, die ihm Kunde gab vom Geheimnis der Welt. Er wurde zum Protokollant einer Philosophie, deren Zeit gekommen war“, so sein Biograf Otto A. Böhmer, dessen Darstellungskunst dieses Werk zu einem aussergewöhnlichen Lesevergnügen macht, einem überaus lehrreichen, notabene.

„Mich haben nicht die Bücher, sondern die Welt hat mich befruchtet“, schrieb Schopenhauer, dessen Philosophie ein Frontalangriff auf die damals herrschende Rationalität war. „Der Mensch ist nicht mehr die Krone der Schöpfung, sondern ein Lebewesen unter vielen, das sich vor anderen nur durch seine enorme Selbstüberschätzung auszeichnet.“ Es ist der allmächtige Wille, der uns am Leben hält, und nicht etwa der Verstand.

Ein umgänglicher Mann ist Schopenhauer offenbar nicht gewesen. Otto A. Böhmer hält ihn für die Diplomatie wenig geeignet. Auch Gelassenheit war ihm nicht gegeben. Seinen eigenen Angaben gemäss, kam er nur in seiner Philosophie zur Ruhe und „weniger im Leben, das ihm wiederkehrende Ängste bescherte.“ Mit anderen Worten: Nimmt man sein Leben zum Massstab, tut man seiner Philosophie unrecht. Nichtsdestotrotz: Leben und Werk können sich gelegentlich auch befruchten.

Schopenhauers Einsichten haben es in sich. „Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloss im Zustand der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heisst: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloss und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist.“

Schopenhauer gilt bekanntlich vielen als Pessimist. Auf mich wirkt er zwar nicht gerade wie eine Ausgeburt an Lebensfreude, jedoch erfreulich realistisch – und das erlebe ich befreiender als die unter Wahrnehmungsverzerrung leidenden Berufsoptimisten, die andauernd behaupten, alles werde gut kommen und auf ihr Bauchgefühl als Beleg hinweisen. Obwohl: Auch Schopenhauer scheint zu glauben, dass die Auseinandersetzung mit sich selber dem Menschen erlaube „stets mit voller Besonnenheit ganz er selbst sein und wird nie von sich selbst im Sich gelassen werden, weil er immer wusste, was er sich selber zumuten konnte“. Für Autor Böhmer ist dies Wunschdenken, da unser innerer Kern von der Selbsterkenntnis weitgehend unberührt bleibt, denn: „Das Bewusstsein hat genug mit sich selbst zu tun: Es muss funktionieren und kann froh sein, wenn es unfallfrei durch den Tagesbetrieb kommt, der ihm fortwährend zugemutet wird.“ Wunderbar!

Der Egoismus ist die Triebfeder des Menschen, so Schopenhauer. Aber eben nicht nur, wendet Autor Böhmer ein und bleibt die Beispiele nicht schuldig. Wir sind vom Willen geleitet, der Verstand ist diesem untergeordnet, lehrt Schopenhauer. Zustimmend kommentiert Böhmer: „Der Mensch, mit einem Intellekt ausgerüstet, der in der Regel nicht bestaunenswert leistungsfähig ist, kann von seinem tierischen Erbe jederzeit eingeholt werden. Um so mehr sollte er die Momente ruhiger Einsichtigkeit schätzen, die ihm gelegentlich widerfahren.“ Und sich dabei dieses schöne Buch zu Gemüte führen, wie ich gerne hinzufügen will.

Erhellende Einsichten zur Eigen- und Fremdwahrnehmung wie auch über den Egoismus, unser aller Antriebskraft, den konstant bleibenden Charakter, die Willensfreiheit, das Gewissen („das geheime Regulativ unseres Handelns“), und und und, finden sich in diesem flüssig geschriebenen Werk, dessen Titel „die Erfindung der Altersweisheit“ erwähnt, was impliziert, dass diese sich nicht einfach so ergibt und schon gar nicht jeder an ihr teilhat.

„Der Wille lässt das Bewusstsein für sich arbeiten“, fasst Autor Böhmer zusammen, „warum, wird nicht wirklich ersichtlich. Im Grunde gelangen wir nur zu einer Einsicht, die sich so zusammenfassen lässt: unser Wille geschehe. Dass er überhaupt geschieht, ist nicht in Frage zu stellen, sondern hinzunehmen.“ Das bestätigt übrigens auch die moderne Hirnforschung.

Bücher, die ich schätze – und das vorliegende gehört dazu – machen mich auch immer wieder mal laut heraus lachen, so ungemein treffend bringen sie unsere Lage auf dem Planeten Erde auf den Punkt. „Der Mensch wird ins Leben geworfen und tappt, mal orientierungsstolz, mal ratlos, durch Zeit und Raum. Was er sieht und denkt, entspricht seinen Möglichkeiten. Damit das Ganze nicht allzu lange dauert, darf er sich über die Vergänglichkeit freuen, die über seinem Tun und Lassen liegt. Aus der Gegenwart aber wird er nicht entlassen, nicht einmal auf Bewährung ...“.

Fazit: Anregende Aufklärung, differenziert und unterhaltsam.

Otto A. Böhmer
Schopenhauer oder Die Erfindung der Altersweisheit
Verlag C.H. Beck, München 2010

Mittwoch, 18. Juni 2025

Das ideologische Gehirn

Wer ein Sachbuch schreibt, tut, was alle anderen, die ein Sachbuch schreiben, auch tun. Ein Blick in die Geschichte, Klärung der Begriffe, gefolgt von mehreren hundert Seiten, auf denen ein, zwei Gedanken aus immer wieder anderen Perspektiven beleuchtet werden. Das ideologische Gehirn ist keine Ausnahme.

Éléments d'idéologie (1784) geht auf den französischen Adeligen Comte Antoine Destutt de Tracy zurück, der unter Ideologie nicht das starre Denken verstand, das wir heute damit assoziieren. Die idéologistes waren Vorkämpfer von Demokratie und setzten auf die Kraft des denkenden Individuums. Das passte vielen nicht. "Napoleon machte aus den idéologistes idéologues, und schon wurde das Wort 'Ideologie' zu einer Beleidigung, Verleumdung, die man seinem politischen Gegner an den Kopf werfen konnte."

Wie funktioniert eigentlich das Gehirn? "Das Gehirn ist ein vorhersagendes Organ. Es lernt von seiner Umwelt und versucht zu erkennen, was als Nächstes geschehen wird." Kein Wunder, fehlt es uns so  schwer, in der Gegenwart zu sein – es rennt uns dauernd davon. Dazu kommt: "Unser Gehirn in kommunikativ (...) Es sehnt sich nach Gegenseitigkeit, nach dem wogenden Hin und Her von Anerkennung und Verbindung."

Ideologisches Denken "ist super-logisch, hyper-logisch, und dies ist auch der Grund, warum es so gefährlich ist." Mit anderen Worten: Es ist dem Leben diametral entgegengesetzt, denn dieses ist, wie wir alle täglich erfahren, nicht wirklich verstehbar.

Für Leor Zmigrod ist Geist gleich Biologie. Und sie glaubt, dass das Biologische vom Politischen geformt wird. Das bedeutet unter anderem, dass die Terminologie von Geist, Gehirn und Körper neu gedacht werden sollte. Voraussetzung dafür ist, unsere dualistischen Prämissen über Bord zu werfen. "Das Gehirn ist aus dem gleichen Stoff gemacht wie der Rest des Körpers: Wasser, Protein, Fett Salz, Blutgefässe, Röhren und Fasern. Das Gehirn ist ein Organ wie jedes andere, nur komplexer organisiert, mit Verbindung zu Herz, Bauch und unserem gebeugten kleinen Zeh." Dies impliziert, dass unsere Vorstellung der Welt, die Art und Weise, wie wir sie mental geordnet haben, neu gedacht werden muss, basierend auf Beobachtung und Erfahrung, die dann ausgewertet gehören. Wie das dem Comte Antoine Destutt de Tracy vorschwebte. 

Zen-Buddhisten gehen seit je davon aus, dass unser dualistisches Denken in die Irre führt. Wir sind gefangen in Gut und Böse, Richtig und Falsch. "Stattdessen sollten wir nach dem Prozess fragen, weil wir nur so den Dingen auf den Grund gehen." Gut möglich, dass wir dabei dann auch herausfinden, dass die Vorstellung von einem Grund ebenfalls eine ideologische Vorgabe sein könnte.

Indoktrination, weist die Autorin mit zahlreichen Untersuchungen nach, können tief in Körper und Geist eindringen. Nicht alle Gehirne sind im selben Mass gefährdet. Entscheidende Faktoren sind unsere Zellen, unsere Körper und unsere persönlichen Narrative. Wenn man es recht bedenkt, so ist dies keineswegs verwunderlich, verwunderlich ist eher, dass wir in Denktraditionen gefangen sind, die uns solche Einsichten bislang verwehrt haben. 

Die Forschungen des Sozialpsychologen Gordon Allport legen die Vermutung nahe, "dass unsere politischen Vorurteile und ideologischen Überzeugungen konkrete Ausformungen einer allgemeinen Denkgewohnheit sind." Das liegt in der Tat nahe: Wer in die rigiden Denkmustern unterwegs ist, die Klarheit und Gewissheit suggerieren, wird diese wohl allüberall suchen.

Zudem haben die Interviews und Experiment von Else Frenkel-Brunswik in den 1940er-Jahren gezeigt, dass Kinder, die zur Rigidität neigten, fasziniert waren "von Chaos, Aufstand und Katastrophe. In ihrem Wunsch nach Ordnung lag auch eine Fetischisierung der Unordnung."

Es gehe darum, unsere Sinne wiederzuerlangen, so Susan Sontag. "Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören, mehr zu fühlen." Also weniger Interpretation, dafür mehr Anschauung. Schopenhauer und Wittgenstein eignen sich als Leitfiguren. Auf letzteren wird am Beispiel des Kaninchen/Ente-Cartoons hingewiesen. Je nach dem, wie man schaute, sah man zuerst ein Kaninchen und dann eine Ente oder umgekehrt. "Die Kaninchen-Ente-Illusion zeige, argumentierte Wittgenstein, dass wir nicht immer, wenn wir ein Objekt sehen, das sehen, was es ist. Eine visuelle Erfahrung ist immer durchwirkt von Urteilen und Vorurteilen, die unsere Aufmerksamkeit steuern und gefangen halten." Eine Erkenntnis, die das Potential hat, uns vor einer rigiden Weltsicht zu bewahren.

Wissenschaft hinterfragt, ihre Gewissheiten sind beschränkt auf den jeweiligen Stand der Forschung. Wissenschaft ist das Gegenteil von Rigidität; es liegt an uns, ob wir uns fürs Fragen und das Gefühl des Staunens entscheiden.

Leor Zmigrod
Das ideologische Gehirn
Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen
Suhrkamp, Berlin 2025

Sonntag, 15. Juni 2025

Das Glück ist mit den Realisten

Oliver Burkeman, geboren 1975 in Grossbritannien, lebt als Journalist in New York. Mit Das Glück ist mit den Realisten. Warum positives Denken überbewertet ist, das in der 2012 erschienenen Originalausgabe den ganz wunderbaren Titel The Antidote trägt, legt er ein Buch vor, das vorführt, was exzellenter britischer Journalismus ist – smart, meinungsstark und selbstironisch.

Autor Burkeman hat seine Hausaufgaben gemacht. Unter anderem hat er sich bei Sozialpsychologen kundig gemacht, denen „anscheinend erlaubt ist, das Geld anderer Leute auszugeben, um das Offensichtliche zu beweisen.“ Die einschlägigen Erkenntnisse vieler dieser Forschungen sind aus der Literatur bekannt. Etwa die Theorie, „dass wir zwar gerne positive Botschaften über uns selbst hören, uns aber noch mehr nach dem Gefühl sehnen, überhaupt ein kohärentes, konsistentes Selbst zu sein“, ein Phänomen, das sich bei Dostojewski findet.

Das Streben nach Glück beschäftigt den Menschen seit je her und so landet denn Oliver Burkeman unweigerlich bei den alten Griechen, und speziell den Stoikern, die viel Schlaues und Weises gesagt haben, das heutzutage als Sprüche in Geschenkbändchen auftaucht. „Das alles leuchtete mir intellektuell ein, aber ich wollte wissen, ob heute wirklich jemand nach diesen Prinzipien lebt.“

Das Ehepaar, das er in der Folge aufsucht, lebt, trotz bester akademischer Qualifikationen, in prekären gesundheitlichen und finanziellen Verhältnissen, die ihnen vor Augen führten, dass die Einflussmöglichkeiten auf die Realität beschränkt sind. Eine Einsicht, die sich als enorm hilfreich erweist; der Autor erlebt es selber in der Schlange des Supermarktes.


Im Rahmen seiner Beschäftigung mit dem Buddhismus, bei dem es ums Loslassen geht, nimmt er an einer Meditationswoche in einem Wald von Massachusetts teil. Er besucht Eckhart Tolle („Und das ist für manche Menschen eine Offenbarung: zu erkennen, dass das ganze Leben nur aus Jetzt besteht. Vielen Menschen wird plötzlich klar, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens so gelebt haben, als wäre es nicht so.“), erzählt von Alan Watts, dessen Einsichten „sich weder auf New Age noch auf Pseudowissenschaft stützen, sondern auf strenges, rationales Denken“.

Er macht sich auf in die Slums von Nairobi, wo die Menschen keineswegs so deprimiert sind, wie er sich das vorgestellt hat. Vielmehr macht sie die tägliche Konfrontation mit der Unsicherheit lebenstauglicher. Und er fährt nach Mexiko, weil er gehört hatte, dass die Menschen dort ein einzigartiges Verhältnis zum Tod haben – denn davon handelt dieses Buch letztlich: von der Konfrontation mit der Realität und zu dieser gehört auch der Tod.

Eine der Kernthesen dieses Werkes lautet: Je mehr man sich auf etwas konzentriert, desto grösser die Gefahr, dass dies zum Problem wird. „Zielbesessenheit“ nennt es ein „Experte für organisatorisches Verhalten“ (was auch immer das sein mag). Untersuchungen zeigten überdies, dass diejenigen, denen ein Ziel vorgegeben wurde, weitaus häufiger logen als diejenigen, denen nur gesagt wurde, ihr Bestes zu geben. Dazu kommt, dass Laborbedingungen und Alltag selten übereinstimmen.

Das Glück ist mit den Realisten ist guter, traditioneller Journalismus, was meint: eine Kombination von Recherche und eigenem Nachdenken. Irritierend ist die für mein Dafürhalten übertriebene Bezugnahme auf sogenannte Autoritäten (eine Journalisten-Krankheit). So wissen wir auch ohne Psychologin, dass wir Gefühle von Ungewissheit nicht ertragen. Und wir wissen genau so, dass es gut wäre, uns auf diese Gefühle einzulassen. Es gibt allerdings nur wenige, die das auch versuchen.

Hängengeblieben ist mir ganz Unterschiedliches. Etwa, dass es keine Hinweise darauf gibt, „dass man seine Wut loswird, wenn man sie abreagiert, oder dass man seine Ziele eher erreicht, wenn man sie sich vor Augen führt.“ Oder das schöne Zitat aus einer Kurzgeschichte von Edith Wharton: „Zufriedenheit stellt sich hingegen nur ein, wenn man aufhört, dem Glück hinterherzujagen.“ Und dann natürlich das Experiment mit dem Eisbär, das selbstverständlich nicht verraten werden soll.

Sind wir Herr unseres Schicksals oder sind wir es nicht? gehört zu den wesentlichen Fragen dieses Buches, das nützliche Informationen zuhauf liefert und klar macht, dass Entweder/Oder, das allein unserem Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit geschuldet ist, an der Komplexität des Daseins scheitern muss. Und das ist gut so, wie Oliver Burkeman auf vielfältige Art und Weise darlegt.

Fazit: Aufschlussreich, unterhaltsam, witzig und informativ. Eine gelungene Anleitung zum lebenspraktischen Philosophieren.

Oliver Burkeman
Das Glück ist mit den Realisten
Warum positives Denken überbewertet ist
Piper Verlag, München 2023

Mittwoch, 11. Juni 2025

Es ist alles Chemie

„… es ist therapeutisch, wenn du mit bestimmten Menschen sprichst. Du fühlst dich hinterher besser. Niemand weiss, warum. Es ist alles Chemie“, so die Psychoanalytikerin Erika Freeman. Das fasst meine eigene Erfahrung treffend zusammen, nicht nur in Sachen Therapie, sondern allgemein.

Wer weiss denn schon, warum wir tun, was wir tun? Oder warum wir denken, was wir denken bzw. fühlen, was wir fühlen? Nicht, dass es an Erklärungen mangeln würde, doch diese sind letztlich nicht viel mehr als Manifestationen unserer Art zu denken. Als der Physiker Leo Szilard eines Tages seinem Kollegen Hans Bethe mitteilte, er trage sich mit dem Gedanken, ein Tagebuch zu schreiben, fügte er hinzu, er habe nicht die Absicht, es zu veröffentlichen, er wolle nur die Fakten aufzeichnen, zur Information Gottes. Ob er denn nicht glaube, Gott kenne die Fakten, fragte Bethe. Sicher, er kenne die Fakten, doch diese Version der Fakten kenne er nicht, antwortete Szilard.

„Wenn man auch noch so alt wird“, befand Schopenhauer, „so fühlt man doch im Innern sich ganz und gar als denselben, der man war, als man jung, ja, als man noch ein Kind war.“ Mehr noch: Beim Durchgehen alter Emails habe ich bemerkt, dass die Vorstellung, ich hätte mich geistig entwickelt, trotz der diversen Ausbildungen, Berufserfahrungen und den vielen Büchern aus ganz unterschiedlichen Wissensgebieten, vermutlich ein Irrtum ist – zu meiner nicht geringen Verblüffung hatte ich meine heutigen Einsichten bereits vor zwanzig, dreissig Jahren. Und vermutlich immer schon.

Als ich mit Mitte vierzig eine Magisterarbeit über Dokumentarfotografie verfasste, wobei ich mich intensiv mit Preisen will ich die grossen Männer von James Agee und Walker Evans auseinandersetzte, erinnerte ich mich, dass ich zwanzig Jahre zuvor dieses Buch erworben hatte. Ich weiss nicht mehr, ob ich damals viel Zeit damit verbracht habe, doch ich weiss noch, dass das Buch teuer war, jedenfalls zu teuer für mein Studentenbudget.

Warum ich damals dieses Buch erwarb, darüber kann ich nur rätseln. Dass es zwanzig Jahre später eine für mich wichtige Rolle spielen würde, konnte ich kaum erahnen. Nun ja, erklärte mir ein Bekannter, offenbar war ganz einfach die Zeit dafür gekommen. Mir selber ist solch willkürliche Sinngebung fremd, ich ziehe es heutzutage vor, ganz einfach zu konstatieren, was ich konstatieren kann: Da ist etwas geschehen, für das ich keine Erklärung habe, ausser dass da (und so recht eigentlich überall) eine Chemie am Werk ist, die wir weder verstehen können noch müssen. Es genügt, dass wir sie staunend zur Kenntnis nehmen und uns gelegentlich an ihr freuen.

Sonntag, 8. Juni 2025

Ich steig aus und mach 'ne eigene Show

Eine Talkshow im Südwestfunk. Eine toll aussehende Frau, nicht mehr jung, doch alterslos in Haltung und Ausstrahlung. Eveline Hall. Ich war beeindruckt.

Biografien“, schreibt sie im Vorwort, „sind nicht mehr so geradlinig wie früher. Wer jetzt jung ist, muss wieder und wieder aufstehen und von vorn anfangen, im Beruf, in der Liebe, in der Familie. Er muss lernen, Niederlagen anzunehmen und hinter sich zu lassen.“ Das ist eine Mentalität, die ich mir gerne gefallen lasse: Nüchtern, illusionslos, kämpferisch. Auch im Alter müsse man sich heute immer wieder neu erfinden, schreibt Eveline Hall: „Habt keine Angst! Vor euch liegt ein Abenteuer, das es auszukosten gilt. Ihr braucht nur den Mut, immer neue Herausforderungen anzunehmen, den Instinkt, die richtigen Gelegenheiten zu ergreifen und die Bereitschaft, mit Fleiss und Leidenschaft an die Arbeit zu gehen. Es lohnt sich.“

Als Kind spielte Eveline Hall Geschichtenball, ein selbst erfundenes Spiel, bei dem sie und ihre Freundin einen Ball gegen einen Betonpfeiler warfen und dann wieder auffingen, immer wieder, und sich dabei selbst ausgedachte Geschichten erzählten. „Heute denke ich, dass alles, was ich bin, auf dieses Spiel zurückgeht, auf Geschichtenball, die unendliche Fantasie, das Immer-wieder-neu-Anfangen, das Sich-ganz-Einlassen auf eine Sache, und alles aus dem Stegreif.“

Sie entdeckt das Ballett und ihre Liebe zum Tanz. Nichts anderes gab es mehr für sie. Noch während ihrer Ausbildungszeit wird sie, im Alter von sechzehn, für die Hamburger Staatsoper engagiert. Doch damit begann auch eine harte Zeit, einerseits wegen dem Neid der anderen, andrerseits, weil man sich in diesem Beruf nicht durchmogeln kann. „Man sieht genau, wie eine Tänzerin die Pirouette dreht, wie sie das Bein hebt, die Füsse setzt. Es ist sofort klar, wer etwas draufhat. Beim Ballett kannst du nicht lügen! Da kommst du nicht mit Beziehungen weiter.“

In den Ferien in Cannes nimmt sie acht, neun Kilo zu, die muss sie wieder runter kriegen – ein Magengeschwür ist die Folge, sie muss pausieren, fügt sich in ihr Schicksal und merkt, dass es neben dem Tanzen noch andere Dinge gibt im Leben. Sie liebt die Beatles und die Rolling Stones und so bald sie wieder gesund ist, geht sie oft abends aus.

Das Tanzfeuer war weg. Sie kriegt ein Engagment in Las Vegas. „Ich konnte nichts von dem, was sie wollten.“ Später wird sie auf Fotos sehen, dass die Eveline vom Ballett und die Eveline vom Lido in Las Vegas zwei völlige verschiedene Frauen waren. „Ich hatte am Lido meinen Ehrgeiz abgeschüttelt, die verbissene Tänzerin gab es nicht mehr. Der Spass mit den Mädchen war wichtiger als alles andere.“

In Las Vegas gehört sie zu den Bluebells, lernt Elvis Presley, Paul Anka, Petula Clark und viele andere kennen, Sammy Davis Jr. war für sie „fast ein Freund“. Doch sie macht darum kein Aufhebens. „Und, so komisch das klingt, untereinander waren die Stars alle gleich.“

In Las Vegas lernt sie auch ihren künftigen Mann kennen, der einen grossen Willen und auch ein Drogenproblem hat. Sie ziehen nach Hamburg. Jahre später zieht Eveline nach Paris und ... doch soll hier nicht das ganze Buch nacherzählt werden ...

Ich steig aus und mach 'ne eigene Show“ ist die Geschichte einer Frau, die immer wieder neu angefangen und dabei immer wieder neue Welten entdeckt hat. Eveline Hall hat sich nie unterkriegen lassen, hat viel an sich gearbeitet, viel geleistet („Es ist bei allen Malaisen dasselbe: Wenn ich Angst habe, bald nicht mehr laufen zu können, muss ich meinen Hintern in Bewegung setzen. Deshalb trainiere ich jeden Tag ...“) und ihr ist auch immer wieder, obwohl sie nicht der Norm entsprach, von wohlmeinenden Menschen eine Chance gegeben worden.

Ich steig aus und mach 'ne eigene Show“ ist ein Buch, das Mut macht.

Eveline Hall
Ich steig aus und mach 'ne eigene Show
Eden Verlag, Hamburg 2013 

Mittwoch, 4. Juni 2025

Interkulturelle Psychotherapie in der Praxis

Als Margrit Mies-Chiellino sich Anfang der 1990er Jahre als Psychotherapeutin niedergelassen hatte und in der Folge auch Erfahrungen mit Klienten mit interkulturellem Lebenslauf machte, musste sie ohne Vorbilder herausfinden, "wie ich bei diesen Klienten therapeutisch vorgehen sollte." Für mich ist das nach wie vor die beste Art und Weise sich mit der Seelenwelt vertraut zu machen, Margrit Mies-Chiellino sieht das anders, deshalb dieses Buch.

Wie jedes andere Fachgebiet, schafft auch die Psychotherapie zuerst die Probleme, die es dann zu lösen gilt. Und für die interkulturelle Psychotherapie gilt das ganz besonders, handelt es sich doch um ein Gebiet, das sich als solches erst konstituieren muss, denn die Kultur bzw. kulturelle Prägungen speziell hervorzuheben drängt sich nicht notwendigerweise auf, auch wenn es gelegentlich hilfreich sein kann.

Meine eigene Beschäftigung mit interkulturellen Fragen hat mich dazu gebracht, den kulturellen Faktoren weit weniger Bedeutung zu geben als den sozialen Verhältnissen. Mit anderen Worten: Die Reichen in Singapur und die Reichen in der Schweiz haben einen sehr ähnlichen mindset. Zudem führt die weltweit grassierende Konsumsucht dazu, dass viele bei Therapeuten nicht anderes suchen als einen quick fix. Und nicht zuletzt: Ich habe in Kulturen fern meiner Herkunftskultur Menschen getroffen mit denen mich mehr verband als mit den meisten Menschen aus meiner Herkunftskultur. 

Margrit Mies-Chiellino ist mit der italienischen Kultur nicht unvertraut; ihr Mann stammt aus Italien, sie versteht und spricht Italienisch. Und deshalb weiss sie, "dass Sprachkenntnisse oder auch sogenannte 'interkulturelle Kompetenzen', die laut entsprechender Fachleute zu erwerben seien, nicht ausreichen können, um mit interkulturell geprägten Klienten therapeutisch zu arbeiten."

Schön, dass sie "interkulturelle Kompetenzen" in Anführungszeichen gesetzt hat, denn die sogenannten interkulturellen Fachleute, von denen ich bislang Kenntnis genommen habe, waren dies meines Erachtens nur aufgrund von Zuschreibungen, die sie sich meist selber verliehen hatten. Doch was sind eigentlich interkulturell geprägte Klienten? Margrit Mies-Chiellino versteht darunter "Klient:innen mit unterschiedlicher kultureller Herkunft." Und sie hält fest: "Ich denke es reicht nicht allein aus, sich Wissen über eine fremde Kultur anzueignen, sondern es ist entscheidend, als Therapeut:in eine offene, aufnahmebereite Haltung dem Unbekannten gegenüber einzunehmen." Ich stimme zu, obwohl eine solche Haltung so ziemlich überall nützlich und bedauerlicherweise selten genug ist.

Gestört hat mich, dass die Autorin ihre eigene kulturelle Prägung nicht hinterfragt. So hält sie etwa emanzipatorische Entwicklungsschritte an sich für positiv. Und eine selbstbestimmt gestaltete Zukunft sowieso. Ich sehe das zwar auch so, aber ob das Frauen aus ausgeprägt patriarchalischen Kulturen auch so sehen, weiss ich schlicht nicht. Auch scheint es für Margrit Mies-Chiellino selbstverständlich, dass Leistungsdruck abgebaut gehört, lässt dabei aber vollkommen ausser Acht, dass Leistungsdruck auch motivierend sein kann. Und nicht zuletzt: Japaner wundern sich gelegentlich, weshalb Westler eigentlich immer über alles reden wollen. Nun ja, Therapeuten wären sonst arbeitslos.

Nichtsdestotrotz: Margrit Mies-Chiellino schreibt klar, differenziert und bestens nachvollziehbar. Ihre Ausführungen laufen letztlich darauf hinaus, zu akzeptieren, was ist. Und das schliesst ganz vieles mit ein, das die meisten selten auf dem Radar habe, von gegenseitigen Fremdheitsgefühlen bis zur Unsicherheit der Verständigung. Das Buch ist reich an Fallbeispielen. Gut gefallen hat mir insbesondere der persönliche Lernprozess der Autorin, die zu begreifen begann, dass sie ihr fremde Empfindungen und Verhaltensweisen nicht unbedingt verstehen musste, "die Klienten mussten von mir nicht befragt und zu Erklärungen aufgefordert werden."

Interkulturelle Psychotherapie in der Praxis ist ein reflektierter Erfahrungsbericht, der in der Hauptsache dokumentiert, wie die Autorin sich vollständiger zu erfassen gelernt hat, als dies ohne ihre therapeutische Arbeit mit Menschen aus anderen als ihrer Herkunftskultur so wohl nicht hätte stattfinden können. Je mehr sie zu sich selber fand, desto besser wurde sie als Therapeutin. Das Zitat eines Mitglieds von Silkroad Project, einer interkulturell zusammengesetzten Musikgruppe, fasst das mir sympathische Credo von Margrit Mies-Chiellino sehr schön zusammen: "... vorausgesetzt, dass ich mir bewusst bin, was ich bin und habe, kann ich mich dem Anderen zuwenden, dies verstehen und dann weitergeben und aus beidem etwas Neues entstehen lassen."

Margrit Mies-Chiellino
Interkulturelle Psychotherapie in der Praxis
Konfliktfelder und Interventionen
Ernst Reinhardt Verlag München 2025

Sonntag, 1. Juni 2025

Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben

Dieser Roman hat offenbar ein Anliegen, denkt es so in mir, als ich lese: "In Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben sind sämtliche Ereignisse und handelnden Personen frei erfunden. Die medizinischen und juristischen Aspekte sind faktentreu recherchiert und lassen sich anhand des Quellenverzeichnisses nachvollziehen." Ein Blick ins Quellenverzeichnis macht dann klar: Es geht um Sterbehilfe.

Der Roman als Plattform für eine Auseinandersetzung, für ein Argument? Nun ja, das ist er meistens, nur wird das selten auch ausgewiesen und so konkret benannt wie im vorliegenden Fall. Doch dieser Roman ist viel mehr: Eine Konfrontation mit existenziellen Fragen, die praktisch-philosophisch angegangen werden.

Helena, angehende Ärztin, und Marlene, Journalismus und Pharmazie, lernen sich im Studentenheim kennen, werden beste Freundinnen, dann erkalten die Gefühle, doch sie bleiben in Kontakt. Das ist überaus ansprechend geschildert, in einfacher, klarer, unprätentiöser Sprache – man glaubt sich mit dabei, nimmt emotional Anteil. Ein Roman, der sich liest wie eine Geschichte aus dem richtigen Leben, und überdies höchst unterhaltsam ist, da auch der Humor (inklusive Selbstironie) nicht zu kurz kommt.

Erzählt wird die Geschichte chronologisch, erfreulicherweise ohne Rückblenden, und entwickelt einen Sog, der einen unmittelbar gefangen nimmt. Klar doch, ich rede von mir, halte mich jedoch nicht für eine Ausnahme. Emails wechseln sich ab mit Schilderungen des sich entwickelnden Geschehens. Dazu kommen unerwartete Wendungen sowie nützliche Aufklärung, die im vorliegenden Fall allerdings auch als Werbung für Psychologen durchgehen könnte. "In der menschlichen Psyche gibt es keine Monokausalitäten, sondern meist komplexe Prozesse, die nur durch kontinuierliche Bearbeitung lösbar sind."

Marlene erhält die Diagnose Brustkrebs, möchte Helena als Ihre Ärztin, was Helenas Mann, von Beruf Psychologe, ihr auszureden versucht. "... Leid kann nur lindern, wer selbst nicht mitleidet. Und du wirst leiden wie ein Hund." Mit dem zweiten hat er wohl recht, doch mit dem ersten liegt er für mein Dafürhalten falsch, nicht zuletzt, weil der Gedanke eindeutig was für sich hat und dann eben doch nicht. Die menschliche Seele ist entschieden komplexer als die Welt der Psychologie.

Marlenes Zwillingsschwester Antonia ist an ALS erkrankt, was mich auch an meinen Freund Armando erinnert, der dieser Krankheit erlag (Meine allererste Reportage, die jetzt 25 Jahre zurück liegt, handelt davon, und findet sich hier). Die Gefühle, die mit Diagnosen wie fortgeschrittener Krebs und ALS einhergehen, schildert die Autorin eindrücklich. Genauso wie Helenas Umgang damit. "Als Freundin schuldete ich Lene Offenheit, als Ärztin war ich nur verpflichtet, ihr nicht die Unwahrheit zu sagen."

Lene möchte, dass Helena ihr bei ihrem Suizid (sollte sie sich dafür entscheiden) hilft. Nur eben: assistierter Suizid ist in Deutschland strafbar. Womit wir bei einem Kernthema dieses Romans angelangt wären, bei dem auch deutlich wird, dass der Justiz viel zu viel Macht eingeräumt wird. Dass einem dem Tode nahen Patienten unnötiges Leiden erspart bleiben sollte, leuchtet ein, doch was wird dabei eigentlich den Ärzten und Ärztinnen zugemutet? Helenas Auseinandersetzung mit dem Thema ist sehr differenziert, lässt sich meines Erachtens jedoch nicht juristisch lösen. Kommentiert ihr wohlmeinender Mann: "Ich bestreite nicht, dass es empathische Personen geben mag, die es unbeschadet überstehen, jemanden auf Verlangen zu töten. Aber du gehörst ganz bestimmt nicht dazu." Gut möglich, dass er recht hat; andererseits ist irren nicht nur menschlich, sondern gehört (neben dem Selbstbetrug) zu unseren grössten Talenten.

Dann wird die Strafbarkeit des assistierten Suizids gerichtlich aufgehoben. Ausführlich wird die medizinische, juristische und menschliche Situation dargelegt. So informativ und aufschlussreich das auch ist, am meisten beeindruckt hat mich die Schilderung von Lenes Umgang mit ihrem Krebs, dieser Mischung von Hoffnung und Panik, Wissen und Nicht-Wahrhaben-Wollen. Und wie sich die Angst mit der Zeit verändert. "Jetzt, da ich weiss, dass ich diesen Krebs nicht dauerhaft überleben werde, ist die Angst eher so, wie ich sie mir bei Astronauten vorstelle, deren Raumschiff irreparabel defekt ist. Sie schweben im All, können dessen gigantische Schönheit betrachten, sogar geniessen, noch geborgen im Schiffsinneren, wohl wissend, dass sie Mutter Erde nicht mehr erreichen können."

Doch bei diesem Gefühl bleibt es nicht, auch natürlich, weil es Gefühlen eigen ist, sich ständig zu ändern. Wie Lenes Ängste und Stimmungen sich wandeln, und was das mit ihrem Mann und ihrer Freundin Helena und deren Gatten macht, ist bestens nachvollziehbar. Und obwohl mir bewusst ist, dass es sich bei Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben um einen Roman handelt, hatte ich den Eindruck, ich lese über das wirkliche Leben.

Lou Bihl erzählt eine spannende, in der ärztlichen/medizinischen Realität angesiedelte Geschichte, die wesentlich dadurch charakterisiert ist, dass man sich nicht allein in Spekulationen ergehen kann, sondern praktisch handeln muss. Und genau das macht diesen Roman zu etwas Unüblichem, ausgesprochen Erfreulichem und überaus Berührendem.

Fazit: Packende, bewegende und überaus hilfreiche Aufklärung.

Lou Bihl
Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben
Roman
Unken Verlag 2025