Mittwoch, 29. Oktober 2025

Was mich leitet

 Es versteht sich von selbst: Ich weiss nicht wirklich, was mich leitet, denn ich (wie jede und jeder andere auch) bin viel zu komplex, um dies wissen zu können. Dazu kommt, dass der Anteil meines Bewusstseins gering ist und vorwiegend dann zum Einsatz kommt, wenn ich im Nachhinein Gründe für mein Verhalten finden will. Nichtsdestotrotz gibt es Sätze, die mich schon lange begleiten und auf die ich immer wieder zurückkomme. Und von denen ich annehme, dass sie mein Verhalten bzw. mein Sein in der Welt prägen. An Ostern 2025 gehen mir unter vielen anderen diese Sätze durch den Kopf.

„Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.“ (Paul Valéry). Die Medien tragen aktiv dazu bei, indem sie uns wissen lassen, was X und Y denken (ganz so, als ob sie es wüssten), obwohl wir doch gar nicht wussten, dass es X und Y überhaupt gibt. Und auch die X und Y, die es gibt, haben keinen Einfluss auf meinen Alltag, ausser ich lasse sie in meinen Kopf. Doch was ist es, was die Leute angeht? Es zeigt sich, wenn man sich ihm nicht in den Weg stellt.

„Das Kausalitätsprinzip hat unserem Geist recht seltsame Streiche gespielt.“ (Paul Valéry). So glauben wir zum Beispiel, dass alles seinen Grund haben müsse. Und falls nicht, finden können wir einen solchen Grund gleichwohl. So erinnere ich aus meinem Jurastudium diese erhellenden Sätze: „Das Wichtigste ist, zu einem Entscheid zu kommen. Gründe dafür finden wir dann immer noch.“ Damals dachte ich, Juristen (und Juristinnen) seien echt beschränkt (so recht eigentlich sind das alle, die in Systemen denken), was sich im Laufe meines Lebens bestätigt hat, doch bewusst geworden ist mir mittlerweile auch, dass diese Sätze treffend zusammenfassen, wie wir unser Dasein zubringen.

„Mit unseren Welterklärungen wird uns mehr genommen als gegeben. Sie erklären nichts, setzen nur an die Stelle des Geheimnisses eine Gewohnheit zu denken.“ (Hans Albrecht Moser). Beobachte ich einfach, was mir so alles durch den Kopf geht, bin ich verwirrt und fasziniert; verloren fühle ich mich hingegen nicht. Auf Erklärungen zu verzichten, die Welt so unvoreingenommen wie möglich wahrzunehmen, ist eigenartig, bereichernd, weder beschreib- noch erklärbar, doch es lässt sich erfahren.

„Mein Lebenslauf ist bald erzählt. – / In stiller Ewigkeit verloren / Schlief ich, und nichts hat mir gefehlt, / Bis dass ich sichtbar ward geboren. / Was aber nun? – Auf schwachen Krücken, / Ein leichtes Bündel auf dem Rücken, / Bin ich getrost dahingeholpert, / Bin über manchen Stein gestolpert./ Mitunter grad, mitunter krumm, / Und schliesslich musst‘ ich mich verschnaufen. / Bedenklich rieb ich meine Glatze / Und sah mich in der Gegend um. / O weh! Ich war im Kreis gelaufen, / Stand wiederum am alten Platze, / Und vor mir dehnt sich lang und breit, / Wie ehedem, die Ewigkeit.“ (Wilhelm Busch). Es ist dies auch die überaus treffende Zusammenfassung meines eigenen Lebens, notabene von einem Mann, der mich gar nicht gekannt hat! Sonst hätte er das Detail mit der Glatze weggelassen, wie man auf dem Bild, aufgenommen von Blazenka Kostolna, im Jahre 2024 in Bad Ragaz, sehen kann.

Sonntag, 26. Oktober 2025

Fragmente eines Lebens

Zygmunt Bauman, geboren 1925 in Posen, starb 2017 in Leeds; das vorliegende Werk, von seiner Biographin Izabela Wagner herausgegeben, besteht aus ganz unterschiedlichen Schriften, für deren Zusammenstellung viel Einfühlungsvermögen erforderlich war. Einerseits sind es für die Familie geschriebene Texte, andererseits an die Öffentlichkeit gerichtete. Wie der Titel sagt, handelt es sich um Fragmente, und das meint auch, dass nicht alle Abschnitte seines Lebens Erwähnung finden.

„Wir leben zweimal. Einmal brechen und glätten wir; beim zweiten Mal sammeln wir die Teile auf und arrangieren sie zu Mustern. Im ersten leben wir, im zweiten erzählen wir die Erfahrung. Dieses zweite Leben scheint wichtiger als das erste – warum auch immer.“ Sehr wahr – und sehr, sehr eigenartig, dieses Leben, das wir leben, doch während wir es tun, nicht fassen können. Fraglich scheint mir hingegen dies: „Erst im zweiten taucht der tiefere Sinn an der Oberfläche auf.“ Nur eben: Diesen tieferen Sinn konstruieren wir, der taucht nicht einfach auf.

Fragmente meines Lebens lese ich hauptsächlich als Lebensanleitung. „Es ist wichtig, den tröstenden Gedanken hinter sich zu lassen, dass Aufgeschobenes nicht Aufgehobenes bedeutet ...“. Und so recht eigentlich ist „die einzig wirklich tödliche und unheilbare Krankheit das Leben selbst“. Dazu kommt, dass weise Sätze anderer, die Zygmunt Bauman begeistern, auch mich begeistern. Etwa die Einsicht von Maria Dabrowska: „All das irritiert die Menschen; als ob jemand, der nicht vollständig zu uns gehört, unser Leben in jeglicher Hinsicht an unserer Stelle leben wollte.“

Diese Einsicht beschreibt auch das Schicksal der Juden. „... dämmerte es mir, langsam, aber unaufhaltsam, dass es mein Schicksal war und wahrscheinlich bleiben würde, einer von jenen zu sein, 'die nicht ganz dazugehörten', die dazu verurteilt sind, 'Menschen zu irritieren'“, wie Bauman seine Erfahrungen am Berger-Gymnasium in Poznań beschreibt.

Über die Soziologie, die auf alles eine Antwort geben will, äussert er sich. Und über die Postmoderne, die ihm vor allem Fragen beschert. Und darüber, dass Memoiren zu verfassen vermutlich ein Akt der Verzweiflung ist. Braucht es einen Grund dafür? „... vielleicht gibt es auch überhaupt keinen Grund, nur ein Bedürfnis und einen Anstoss. Ganz ehrlich, ich weiss es nicht. Ich glaube, es ist mir auch egal.“

Auch von des Autors Familiengeschichte ist die Rede. Die Eltern hätten kaum gegensätzlicher sein können; die Schilderung der Verheiratung seiner Schwester, ihre Flucht aus Palästina und ihre Rückkehr liest sich ungemein spannend, auch weil der Autor es hervorragend versteht, den grösseren sozialen Zusammenhang sowie die Absurdität des menschlichen Lebens nachvollziehbar zu machen. Etwas störend ist, dass zwei Texte sich teilweise überschneiden, so dass es zu unnötigen Wiederholungen kommt.

Sein Vater, ursprünglich Ladenbesitzer, später Buchhalter von Beruf, versuchte sein Leben lang dem Rat des Schemaiah gerecht zu werden: „Liebe die Arbeit, verachte die Herrschaft und suche nicht die Bekanntschaft der Macht.“ Das hat auch auf den wissens- und bildungshungrigen Zygmunt abgefärbt, dessen Mutter im Krieg lernte, dass ihre Kochkünste, die sie bei den Truppen wie auch den Holzfällern zu einer gefragten Frau machten, die Familie vor grösserer Unbill bewahrte.

Fragmente meines Lebens ist das Werk eines Fragenden, der den Gewissheiten der Mehrheit wenig abgewinnen kann. Kein Wunder, gehörte er doch bereits als dicker, jüdischer Bub einer Minderheit an, die man nicht dabeihaben wollte.

Wie kommt es, dass der Mensch denkt und fühlt, wie er denkt und fühlt? Es spricht sehr für diesen hoch reflektierten und empfindsamen Autor, dass er nicht vorgibt, dies zu wissen. Und so hält er fest: „Ich kann nicht zufriedenstellend erklären, warum ich tat, was ich tat, wobei es mir vermutlich leichter fallen würde, es anderen zu erklären als mir selbst.“

Es ist ungemein wohltuend an den Einsichten und Erkenntnissen des Zygmunt Bauman teilzuhaben, der unter anderem gelernt hat, dass ein jegliches Sicherheitsversprechen eine Täuschung ist, es 'feste, stabile Prinzipien' nicht geben kann und solche bestenfalls Lügen sind. Gewiss ist ihm jedoch dies: „Ich habe nichts zu verlieren ausser meiner Selbstachtung.“

Nicht zuletzt ist Fragmente meines Lebens in Zeiten des für nicht wenige wiederum salonfähigen Antisemitismus eine überaus nützliche Lektüre, „Nach polnischen Massstäben war Poznań eine wirklich aussergewöhnliche Stadt, der es gelang, eine weitgehende Abwesenheit von Juden mit heftigster antisemitischer Stimmung zusammenzubringen. Ungestört von jeglicher Praxis des Zusammenlebens konnten örtliche Antisemiten sich voll und ganz auf den Prozess ihrer eigenen Veredelung konzentrieren (...) Poznań wurde zur treibenden Kraft und zur Festung der Nationalen Demokratie ...“.

Fazit: Hellsichtig, eindrücklich und vielfältig anregend. Ein wertvolles Buch!

Zygmunt Bauman
Fragmente meines Lebens
Suhrkamp Verlag / Jüdischer Verlag, Berlin 2024

Mittwoch, 22. Oktober 2025

Wie soll ich leben?

Es gibt Bücher, die sind wahre Glücksfälle – und Sarah Bakewells „Wie soll ich leben?“ gehört zweifellos dazu. Weil es glänzend geschrieben, originell und ganz wunderbar nützlich ist.

Die erste der zwanzig Antworten lautet: Habe keine Angst vor dem Tod! Zugegeben, so wahnsinnig originell ist das nicht, doch das Kapitel, das Sarah Bakewell ihr widmet, ist es. Wegen der Geschichten, die sie darin erzählt. Die eine geht so: Montaigne war um die 30 und arbeitete beim obersten Gerichtshof für Straf- und Zivilsachen, der auch Verwaltungsbefugnisse hatte, als er eines Tages mit einer Gruppe von Bediensteten seines Landgutes ausritt, vom Pferd fiel und eine Todeserfahrung machte. Hatte er bis dahin der Auffassung seiner Lieblingsphilosophen, den Stoikern, zugeneigt, die da meinten, wenn man auf den Tod vorbereitet sei, könne man ohne Furcht vor ihm leben, kam er nun zum gegenteiligen Schluss: „Je eindringlicher er sich vor Augen hielt, was ihm oder seinen Freunden alles zustossen konnte, desto unruhiger wurde er.“ Besser also, nicht daran zu denken und den Augenblick zu leben, denn Sterben bedeutet nichts anderes als das Bewusstsein zu verlieren: „Man stirbt, als würde man in den Schlaf hinübergleiten … Die Vorstellung, man könne ’sterben lernen‘, war ein Hirngespinst.“

Wie ein roter Faden ziehe sich die Überzeugung von der Vielfalt der Perspektiven durch die ‚Essais‘ schreibt Bakewell. Beispiele dafür finden sich in ihrem Buch zuhauf. Auch müsse man sich am Ende jeder Passage die Bemerkung hinzudenken: „doch nicht einmal dessen bin ich mir sicher“.

Montaigne hatte sieben jüngere Brüder und Schwestern und wurde bereits nach der Geburt zu einer einfachen Bauernfamilie im Nachbardorf zur Pflege gegeben. Dazu Bakewell treffend: „Wenn wir von den entwicklungspsychologischen Ideen des 20. und 21. Jahrhunderts ausgehen (die sich vielleicht bald als fragwürdig erweisen werden: vielleicht ist die Mutter-Kind-Bindung ein ebenso kurzlebiges, kulturell bedingtes Phänomen wie das Gestilltwerden durch eine Amme), so muss der mangelnde Kontakt zu den Eltern in den entscheidenden ersten Lebensmonaten Montaignes Beziehung zu seiner Mutter tiefgreifend geprägt haben. Montaignes eigener Einschätzung nach jedoch funktionierte der Plan perfekt, und er empfahl seinen Lesern, mit ihren Kindern möglichst dasselbe zu tun.“

Wie soll ich leben?“ ist auch ein hilfreiches Buch, weil es clevere Ratschläge bereit hält. Etwa: „Sei gewöhnlich und unvollkommen!“ Oder: „Philosophiere nur zufällig!“ Oder: „Bediene dich kleiner Tricks!“ Letzteres hat damit zu tun, dass es häufig keinen direkten Weg zu einem angestrebten Ziel gibt. In den Worten von Sarah Bakewell: „Die innere Einstellung zu ändern ist das Ziel vieler philosophischer Gedankenexperimente. Wenn man einen wertvollen Menschen oder ein wertvolles Gut verloren hat, stelle man sich vor, man habe diese Person oder diesen Gegenstand nie besessen. Und wie kann man etwas vermissen, das man nie besessen hat? Plutarch beschrieb dieses Experiment in einem Brief an seine Frau nach dem Tod der gemeinsamen zweijährigen Tochter. Er empfahl ihr, sich in die Zeit zurückzuversetzen, das das Kind noch nicht geboren war. Ob Plutarchs Gattin auf diese Weise leichter über den Tod des Kindes hinwegkam, ist nicht bekannt, doch zumindest wurden ihre Gedanken auf etwas anderes gelenkt, und sie versank nicht im Meer der tiefen Trauer.“

Richtig lebt man dann, so meinten die Stoiker (die mit den Epikureern viele Grundgedanken gemeinsam hatten), wenn man der alltäglichen Lebenspraxis möglichst viel Aufmerksamkeit schenkt und „amor fati“, Schicksalsergebenheit, lernt. Wie der Stoiker Epiktet schrieb: „Verlange nicht, dass alles so geschieht, wie du es wünschest, sondern sei zufrieden, dass es so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Ruhe leben.“

Sarah Bakewell
Wie soll ich leben?
oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten
C.H. Beck, München 2012

Sonntag, 19. Oktober 2025

"Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist"

Ich habe Sänger und Songwriter nie als Denker begriffen. Möglicherweise deswegen nicht, weil die Songs, die ich früher selbst geschrieben habe, intuitiv entstanden und ich Intuition und Verstand lange Zeit als Gegensatzpaare begriffen habe. Diese Interviews haben mich eines Besseren belehrt.

Eingeleitet werden die Gespräche von Heinrich Detering, der Dylans Satz: „The people in the songs are all me“ so kommentiert: „So erstaunlich diese Behauptung angesichts von Songfiguren klingt, die im spanisch-amerikanischen Krieg mitgekämpft haben, zum Schlägertrupp eines Bandenchefs gehören oder während ihres Monologs allmählich im Wahnsinn nächtlicher Halluzinationen versinken, so kennzeichnend ist sie für Dylans Songpoetik.“ Eine Sichtweise, die mich schmunzeln machte, da ich Dylans Satz ganz anders lese, nämlich so: Alle Aussagen, die wir über uns und die Welt machen, sind Aussagen über uns selber, denn etwas anderes kennen wir nicht, und können wir auch gar nicht kennen. Übrigens: Bei allen Wandlungen, die Dylan durchgemacht hat, so Deterich, ist sein „politisch-moralischer Wertekanon“ stabil geblieben. Wer auch immer wir sind, was auch immer wir tun, ein Kern in uns bleibt sich anscheinend immer gleich.

Die Gespräche sind chronologisch angeordnet. Da ich mit Bob Dylan-Songs gross geworden bin, erlaubt mir das eine ganz wunderbare Zeitreise in meine eigene Vergangenheit. Was mir bei den ersten zwei Interviews aus den 60er Jahren auffällt: Dass ich immer mal wieder lachen muss, was mich überrascht, denn ich habe Dylan bisher nicht mit Humor in Verbindung gebracht. Auf mich wirkte er meist abweisend und mürrisch, dabei ist er sehr witzig und schlagfertig.

Ich bin ganz erstaunt wie clever dieser Mann ist. Das liegt natürlich auch daran, dass ich mich nie wirklich mit ihm befasst habe. Jedenfalls verblüfft mich ungemein, wie eigenständig und hellsichtig sich der damals 24Jährige zu Museen und Galerien, ja zum Kunstbetrieb insgesamt äussert. Mit Labels wie „Protestsänger“, „Rock'n'Roll“ oder „Folkmusic“ kann er nichts anfangen. Er tut einfach, was er tut. „Ich schreibe, seit ich acht war. Ich spiele Gitarre, seit ich zehn war. Ich bin damit aufgewachsen, zu spielen und zu schreiben, was ich spielen und schreiben musste.“

Was denkt er über Politik, Hochschulen, Protestbewegungen und und und? Kaum ein Feld wird ausgelassen. Umso erfreulicher ist, dass es Dylan offenbar nicht drängt zu Allem eine Meinung zu haben. Doch die, die er hat, sind Ausdruck eigenständigen Denkens. Er selber hat das Studium abgebrochen, würde er anderen auch dazu raten? Nein, würde er nicht, doch „Ich würde ihm einfach das Studium nicht finanzieren.“ Hat er als Junge Präsident werden wollen? „Nein. Als ich ein Junge war, war Harry Truman Präsident. Und wer möchte schon Harry Truman sein?“

Berührend fand ich insbesondere, was er über sein Aufwachsen im nördlichen Minnesota sagte. „Im Winter war dort alles vollkommen still, nichts bewegte sich. Acht Monate lang.(...) Der ganze Mittlere Westen hat etwas stark Spirituelles, sehr subtil, sehr stark.“ Ich fühlte mich an Kathleen Norris' Dakota. A spiritual Geography sowie an Robert M. Pirsigs (in Zen und Die Kunst, ein Motorrad zu warten) Schilderung der Dakotas erinnert, die ihm deswegen speziell waren, weil sie nichts Besonderes versprachen und deshalb auch nichts einzulösen brauchten.

Selbstverständlich habe er ein Ziel und eine Mission, sagt Dylan und zitiert Henry Miller: „Die Rolle des Künstlers ist es, die Welt mit Desillusionierung zu impfen.“ Nicht alle Songs haben die Zeit gut überstanden, wie er auch selber meint.

Die einzigen wahren Spiegel seien Wasserpfützen, sagt er einmal. Und führt dann aus: „Ein Bild, das Sie in einer Wasserpfütze sehen, führt in die Tiefe. Ein Bild, das man beim Blick in ein Stück Glas sieht, hat keine Tiefe und keine lebendig gewellte Bewegung.“ Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist enthält ganz viele solch smarter Aussagen. “Es geht nicht um die Songtexte. Die Leute denken das immer, und vielleicht geht es auf den Platten um die Texte, aber auf der Bühne sind nicht de Texte das Entscheidende, sondern alles läuft über die Phrasierung, die Dynamik und den Rhythmus.“ Wahre Worte!

Die Palette, über die sich Dylan in diesen Gesprächen auslässt, ist ungeheuer breit. Von Shakespeare zu Elvis, vom Lesen der Bibel zum Malen, von Hitler bis zu meiner Lieblingsantwort (auf die Frage, ob er glaube, was einige behaupteten, dass Jim Morrison in den Anden lebe): „Ich habe bisher nicht das Bedürfnis gehabt, mir dazu eine Meinung zu bilden ...“.

Das Ich-Jahrzehnt hat Tom Wolfe die 1970er Jahre genannt. Diese Ich-Zeit dauert nach wie vor an, alles wird in der heutigen Zeit personalisiert, auf sich selber bezogen. Welt- und lebensfremder geht kaum. Umso erfreulicher ist, dass Dylan davon wenig infiziert scheint. „Als 'Hound Dog' im Radio lief, war meine Reaktion nicht: 'Wow, was für ein toller Song, wer den wohl geschrieben hat?' Mir war im Grunde gleichgültig, wer ihn geschrieben hat. Es war egal. Er war einfach ... er war einfach da.“

Fazit: Grossartig! Eine überaus erhellende, anregende und sympathische Zeitreise!

Bob Dylan
Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist
Gespräche aus sechzig Jahren
Kampa Verlag, Zürich 2021

Mittwoch, 15. Oktober 2025

Lob des Alltags

Hiroshima, Japan, am 12. Oktober 2025

Am Morgen einen Emile Cioran zugeschriebenen Satz gelesen, der mich seither begleitet: Was er mit 60 wisse, habe er bereits mit 20 gewusst. Mir geht das auch so, selbst die Vorlieben und Neigungen sind dieselben. Schon in Jugendjahren fand ich das Alltägliche, das Gewöhnliche weit anziehender als das Aussergewöhnliche, das Spektakuläre. Es ist nach wie vor so.

Für das angeblich Aussergewöhnliche, das man gesehen haben muss, werden in Hiroshima viele Busladungen herangekarrt. Als ich die Menschenmassen sehe, weiss ich, dass das nichts für mich ist. Stattdessen laufe ich nach dem Frühstück einfach los, lande an einem Fluss, gehe diesen unter Bäumen entlang und fühle mich an Lyon erinnert.

Über eine Brücke gelange ich ans andere Ufer, wo Bänke und vereinzelt Tische aufgestellt sind. Zum ersten Mal sehe ich weggeworfenen Abfall auf der Strasse. In Japan gibt es keine öffentlichen Abfallkübel. Ich komme zu einem Bahnübergang, wo die Schranke sich rauf und runter bewegt, wie bei einem Tanz. Als sie aufgeht, erklingt eine Minute später bereits die Sirene, die den nächsten Zug ankündigt – ich muss rennen, denn schon senkt sich die Schranke wieder.

Die Medien tun wie immer ihr Bestes, damit wir nichts, aber auch gar nichts von dem grenzenlosen Schwachsinn aus dem Weissen Haus verpassen. Sie tun aber leider noch mehr und schreiben die Friedenanstrengungen im Nahen Osten einem einzigen Mann zu. Einem Mann notabene, von dem man weiss, dass er nie etwas anderes tut, als sich selbst zu loben. Unvorstellbar, dass er bei anstrengenden Verhandlungen je dabei gewesen ist.

Es ist sommerlich heiss (31 Grad), die Sonne brennt herunter, ich setze mich auf einen der Bänke am Fluss. Bäume spenden Schatten. Ein Gedanke von Ouspensky geht mir durch den Kopf: Man müsse nirgendwohin, nichts erreichen. Später am Tag ein Interview mit Gabor Maté: Viel zu oft habe er in seinem Leben sich darum bemüht, mit Arbeit seine Existenz zu rechtfertigen.

Tags zuvor hatte ich am Hafen von Hiroshima meinen ersten japanischen Cappuccino getrunken (er war hervorragend) und meinen ersten Green Tea Cake probiert (ist zu empfehlen).

Das Aussergewöhnliche fällt einem zu, wenn man es nicht sucht.

Sonntag, 12. Oktober 2025

Group Stupidity

Tottori, Japan, 7 October 2025

We live in group stupidity and confuse this insanity with true experience. It is essential that you become transparent to yourself and wake up from this madness. Zazen means taking leave of the group and walking on your own two feet.

Kodo Sawaiki

Mittwoch, 8. Oktober 2025

Eigenartig, das alles

 

Himeji, Japan, 5. Oktober 2025

Der deutsche Verleger in Thailand, der mein erster Buch herausgebracht hat (Ways of Perception, White Lotus Press, Bangkok 2006) schickt mir einen Link zu einem Video, in dem er auf seinen Werdegang eingeht und darlegt, was er als wichtig erachtet. Ich nehme das als gelungenes Selbstporträt wahr, er selber hingegen nicht. Vielmehr habe es sich um einen Ausschnitt aus einem sehr langen Interview gehandelt, die Fragen habe allein der Journalist gestellt. Nun ja, die Fragen waren so recht eigentlich keine, der Journalist fungierte als reiner Stichwortgeber, doch mir geht es hier um etwas ganz anderes. 

Kurz nachdem ich mir dieses Video angeschaut habe, lege ich mich im japanischen Himeji, wo ich mich gerade aufhalte, aufs Bett und folge den Bildern, die sich in meinem Kopf einstellen: Die einstigen Verlagsräumlichkeiten in Bangkok; die junge Verlagsangestellte, die nicht gesund war, und entgegen dem Rat des Verlegers, der meinte, eine Schwangerschaft, sei zu gefährlich, da sie zu fragil sei, schwanger wurde; der Umzug des Verlags nach Huay Yai, gefolgt von Bildern vom nahegelegenen Pattaya.

Ein Film läuft in meinem Kopf ab, bei dem ich definitiv nicht Regie führe, denn auf einmal haben die Bilder keinen Bezug mehr zum Verleger, sondern zeigen Bangkoks Sukhumvit, wo ich einst viel Zeit verbracht habe, dann verschiedene Orte in Phuket Town, dann ein Hotel in Vientiane, gefolgt von Bildern eines jungen, gewitzten Mädchens in Phnom Penh, das Touristen Raubkopien gerade gängiger Bücher verkaufte. 

Wo kommen diese Bilder bloss herWie entstehen sieWas da vom einen Bild zum anderen und dann noch zu ganz vielen anderen führt, hat keine Logik, die ich nachvollziehen kann, erfolgt nicht zwangsläufig, geschieht einfach.

 Wir haben nicht den leisesten Schimmer, warum wir denken wie wir denken, empfinden wie wir empfinden. Und warum wir das alles so ernst nehmen. Es ist einfach nur eigenartig, das alles

Himeji, Japan, 5. Oktober 2025

Sonntag, 5. Oktober 2025

Homo homini lupus

Eine Talkshow im Fernsehen, die beiden Kontrahenten kennen sich, sie sind per Du. Es geht um die amerikanische Politik. Die Ansichten der beiden sind sich diametral entgegengesetzt. Es wird hitzig. "Jetzt rede ich!", sagt der eine, "Jetzt lass mich einmal ausreden!", der andere. Sie sind beide weit davon entfernt, auf den anderen einzugehen. Es ist offensichtlich, dass die beiden nur die Lust am recht haben verbindet.

Dass mich solche Wortgefechte viele Jahre interessiert haben, kann ich nicht mehr verstehen. Heutzutage sehe ich da nur noch Geltungsdrang und Eitelkeit. Abgesehen davon ist es entschieden sinnvoller, bei unvereinbaren Auffassungen (die einem auch ohne Diskussionen klar sind) nicht miteinander zu reden und getrennte Wege zu gehen. "You do your thing, I do mine."

Ein Leben lang wird uns ganz anderes vermittelt: Wir sitzen alle in einem Boot; der andere hat vielleicht gar nicht unrecht; konzentriert euch auf das Gemeinsame; baut Brücken.

Diese Art zu denken, so positiv sie auch gemeint sein mag, lässt ausser Acht, dass der Mensch keineswegs das zivilisierte Wesen ist, als das man ihn sich wünschen würde. Stattdessen: Homo homini lupus (Der Mensch ist des Menschen Wolf). Sich daran zu orientieren ist entschieden vernünftiger als dem Irrglauben zu huldigen, die Irren, die uns regieren, und diejenigen, die diese Irren kommentieren, seien von der Vernunft geleitet.

PS: Selbstverständlich gibt es zivilisierte Menschen. Sie beteiligen sich selten an den öffentlichen Rangeleien, was für sich allein allerdings noch kein Ausweis für Anstand ist.

Mittwoch, 1. Oktober 2025

"My" Kyoto

Kyoto, Japan, 28 September 2025

I'm not doing any of the usual things (parks, temples, and the like) for far too many people are doing that. As an Australian woman a few days ago remarked: If you're not into crowds, this is probably not for you.

Instead, I venture into sidestreets that turn out to be amazingly quiet. Hardly anybody is around save for the occasional elderly man watering the street or the plants in front of his house.

As hectic as the Japanese are in and around train stations, there is an atmosphere of calm and timelessness right around the corner. That at least is what I'm feeling here.

I'm reminded of similar sensations when, six years ago, I visited Japan for the first time. It was the calm, the quietness that made my ambling through the streets feel wonderfully light. I then thought it had to do with the attention to detail that I associated with the Japanese. When I mentioned this to the young Japanese photographer I visited in Kamakura, he dismissed it by stating that only few Japanese pay attention to details, the majority however does not. 

Be it as it may, I surely should be able to do without explanations. To see and feel I consider nowadays enough.