Sonntag, 30. November 2025

Das Spiel, das nicht wir spielen

Montbéliard, am 11. Juli 2025

Ich durchstreifte mehrere Länder und beschäftigte mich mit Dingen, die sich aus nichts zu etwas entwickelten und dann wieder zu nichts zerfielen, bis das Schicksal mich schliesslich nach Amsterdam zurückbrachte. Die Kräfte, die mich trieben, waren jenseits meiner Kontrolle. Wieder einmal war ich ein  Hampelmann, eine durch Fäden und metallene Haken bewegte Marionette, die in unverständlicher Weise programmiert ist und mal hier, mal dort heruntergelassen wird, um ihren kleinen Tanz fortzusetzen. Aber es war ein Tanz geworden und kein deprimierendes, schmerzhaftes Gestampfe mehr. Ich hatte angefangen, Spass an dem Spiel zu finden, das irgendeine Kraft oder Kräfte mit mir spielten.

Janwillem van de Wetering: Ein Blick ins Nichts

Mittwoch, 26. November 2025

Das Geschäft mit der Sucht

Seit fünf Jahren fährt Joel im Rettungswagen, er ist abhängig von Pillen. "Das Leben in der Abhängigkeit ist einsam, und die einzig wichtige Beziehung ist die zum Stoff." Seine Kollegen wissen Bescheid, trotzdem versteckt er seinen Konsum. Wie alle Drogenabhängigen hat er so seine Momente, wo er damit aufhören will. Und andere Momente, in denen er am liebsten für immer einschlafen würde.

Dora ist Ermittlerin bei der Polizei. Auch sie ist abhängig von Tabletten und besucht Treffen der Anonymen Alkoholiker, von denen die meisten Rückfälle erleiden. Ein Kollege, von dem sie vermutet, er habe ein Alkoholproblem, unterstützt sie. Sie unterlässt es, ihn auch zu den Treffen zu drängen; sie weiss, dass Drängen nichts nützen würde.

Doras Polizeikollege Rado, ein alleinerziehender Vater, ist von der Kriminalpolizei in die Rauschgiftabteilung gewechselt. Sein Bruder Zeljko verdient als Profi-Killer sein Geld und hatte einst versucht, Dora umzubringen, was sich wie eine Parodie aus einem Lehrbuch für Kriminologie liest: Der eine wird Polizist, der andere kriminell.

Joel, der Rettungssanitäter, wird tot aufgefunden. Dora, die wusste, dass Joel ein Suchtproblem hatte, und Rado werden auf den Fall angesetzt. Dann stirbt ein dreijähriges Mädchen, dessen Eltern drogenabhängig sind und dessen Grossvater ein Grossdealer ist, und Dora will einen Versuch mit Halluzinogenen wagen.

Doch ich will hier nicht die Handlung dieses abwechslungsreichen in Island ("Isländer haben eine lange Geschichte von Suchtkrankheiten, schon die ersten Siedler betranken sich mit Bier und berauschten sich mit Pilzen.") spielenden Krimis nachzeichnen, sondern hervorheben, was ihn zu einer wirklich tollen Lektüre macht.

Da sind etwa die vielfältigen Bezüge zum Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker, das ich allen Therapieansätzen weit überlegen finde, weil bei diesen Treffen die Leute aus eigener Erfahrung wissen, wovon sie reden. Dass Jón Atli Jónasson die Treffen sachlich und mit einen Blick für die Absurditäten der menschlichen Selbstinszenierung schildert, ist eine besondere Freude. "Als Nächstes tritt ein Mann in schwarzem T-Shirt und Anzug mit Frisur im Achtziger-Jahre-Stil ans Rednerpult (...) Der Mann ist Musiker, hatte vor über dreissig Jahren einmal einen grossen Hit, von dessen Erfolg er immer noch zehrt (...) Am Ende seines Vortrags betont er noch, dass er ohne Demut heute nicht clean wäre. So etwas zu sagen und dabei ein T-Shirt mit einem Bild von sich selber zu tragen, muss man erst mal bringen." Wunderbar!

Und da sind die schlauen Beobachtungen, die Autoren eigen sind, die mit einem nüchternen Blick durch die Welt gehen. "Man darf sein Leben ungestört ruinieren, solange man zur Arbeit erscheint und sein Ding macht, überlegt Dora." Oder: "Sie weiss sogar die genaue Fläche, das Einkaufszentrum ist 62000 Quadratmeter gross – aber gleichzeitig kann sie sich nicht mehr daran erinnern, mit wem sie zum ersten Mal Sex hatte." Oder: "Rado konnte ihn schon immer direkt durchschauen. Er sieht irgendeinen Kern, der ihm selbst verborgen ist."

Gift habe ich hauptsächlich als einen Krimi über Sucht gelesen; die Aufklärung, die er bietet, sollte aufrütteln. "Wenn man von Überdosis spricht, klingt es für Dora so, als gäbe es auch eine normale Dosis, so etwas wie eine empfohlene Tagesdosis. Und wer von einem Suchtproblem spricht, redet ihrer Meinung nach eine lebensgefährliche, unheilbare Krankheit klein. Man spricht schliesslich auch nicht von einem Krebsproblem."

Gut geschriebene, fesselnde Krimis lehren mich mehr über die Welt ("In den USA stirbt alle fünf Minuten jemand an einer Überdosis Fentanyl, dagegen war Covid ein Witz.") als die Nachrichten. Gift ist einer dieser gut geschriebenen, fesselnden Krimis.

Jón Atli Jónasson
Gift
Ein Fall für Dora und Rado
FISCHER Scherz, Frankfurt am Main 2025

Sonntag, 23. November 2025

Akzeptanz

Bei den AA habe ich gelernt (genauer: gehört), "acceptance is the key to everything". Das scheint mir bei allem, was ich an Spirituellem etc. mir seit meiner Jugend reingezogen habe, immer noch das beste. Was meint das?

Die Wahl der Miss Nikkei auf Brasilianisch in Porto Alegre vor einigen Jahren war so eine Art absurdes Theater. Jede der 15 Kandidatinnen hatte ihren Supporter-Klub, der brüllte, schrie und ohrenbetäubend pfiff, wenn sie auftrat. Wie beim Fussball. Grauenhaft. Und ich fand mich völlig fehl am Platz. Und gleichzeitig fand ich auch gut, dass ich dort war. Weil ich irgendwie das Gefühl hatte, alles müsse so sein, wie es ist. Unabhängig davon, was ich davon finde. Genau das gleiche Gefühl hatte ich auf der Rückfahrt nach Santa Cruz, obwohl zwei Stunden im Auto durch die Nacht zu rasen, nicht gerade meinen Vorstellungen von einem sinnvollen Leben entspricht. Und dieses Gefühl habe ich gar nicht so selten, es kommt nur darauf an, ob ich es wahrnehmen will. Mit andern Worten: die Dinge sind, wie sie sind. Und ich bin wie ich bin. Manchmal voller Trauer, gelegentlich voller Zuneigung, aber auch deprimiertheit, von Angst bestimmt, Freude erfahrend und lachend.

"Es ist alles so traurig", sagte mein Freund Wamse häufig. Aber auch: "Wenn wir unsern Humor nicht hätten". Was wir möchten ist nicht so wichtig. Wir wollen eh ständig was anderes. Oder aber wir wollen mehr, kaum haben wir was wir wollen. Wichtig scheint mir: Lernen, das zu wollen, was wir haben. Oder: Das tun zu wollen, was wir tun. Denn es sind unsere Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, die uns im Weg stehen, nicht die Wirklichkeit. Aber Erwartungen etc. gehören doch zum Menschen, Hoffnungen und Wünsche treiben uns doch an? Sicher, doch ist die menschliche Natur eben auch dergestalt, dass sie nie genug kriegt. Und das ist das Problem. "When we understand nature, we can change it, we can detach from it, we can let go of it. Then we won't suffer anymore", sagt der thailändische Mönch Ajahn Chah.

Mittwoch, 19. November 2025

Die Entdeckung des Selbst

Bereits nach den ersten Seiten ist mir klar, dass dies ein wesentliches Werk ist. Genauer: Ein für mich wesentliches, denn wofür Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard stehen, ist mir nahe. „Die Gedanken der drei Aussenseiter trafen sich in einem entscheidenden Punkt, in der Ansicht, dass ein Leben gelebt werden muss, um verstanden werden zu können.“ Das Denken der drei kreiste um das Selbst und dieses „verweigert sich der Kommunikation, die auf Verständigung und Integration pocht, es beharrt auf einer eigensinnigen Souveränität, auf dem Unsagbaren."

Sehr schön zeigt Eberhard Rathgeb auf wie die drei Philosophen quer zum Zeitgeist standen. Die moderne Gesellschaft gründete auf dem Zusammenleben, das den Kompromiss erforderte – und dieser war ihnen fremd. „Das 19. Jahrhundert kannte viele Kritiker der Gesellschaft, aber nur ganz wenige, die sich dem Sog der Moderne verweigerten und radikal Neues probierten.“ Ich fühlte mich an Wittgenstein erinnert, der gemäss seinem Biographen Ray Monk nicht bereit zur Diskussion war, wenn er eine Einsicht durch Inspiration gewonnen hatte.

Als Einzelgänger charakterisiert Autor Rathgeb die drei; als aristokratischen Radikalismus bezeichnet er, was sie vereint. „Das Gespräch der Zeitgenossen über Gewinn und Gerechtigkeit, Demokratie und Eigentum, fand ohne sie statt.“ Wie wünschte man sich solche Denker, die sich dem Mainstream verweigern, doch auch in der heutigen Zeit!

Die Kapitelüberschrift „Der Mensch ist nicht frei“ fasst Schopenhauers Denken treffend zusammen, denn der Mensch folgt dem in ihm angelegten Charakter. Auch E.T.A. Hoffmann sowie Kleist und später die Psychoanalyse sahen den Menschen von Kräften regiert, die den Vernunftgläubigen zuwider waren. Es sind auch Hinweise wie diese, die mich dieses Werk schätzen machen. Auch die moderne Hirnforschung bestätigt übrigens, dass das Gehirn nicht unwesentlich als Rationalisierungsinstrument zum Einsatz kommt.

Dass Schopenhauer von den an Universitäten Lehrenden nicht willkommen geheissen wurde, erstaunt wenig, was hingegen verblüfft (zugegeben, ich rede von mir), ist, dass er sich darob grämte. Da hatte er doch mit Die Welt als Wille und Vorstellung ein grundlegendes Werk geschrieben, das nicht nur Theorie, sondern von praktischem Nutzen war – doch die Anerkennung blieb aus! Und genau das, jedenfalls für mich, zeichnet ihn doch geradezu aus.

Schopenhauer gewann seine Erkenntnisse durch Anschauung. „Dass sein Werk nicht auf begrifflichen Ableitungen, sondern auf Anschauungen gegründet sei, hat er immer wieder hervorgehoben.“ Eberhard Rathgeb vergleicht die philosophische Erfahrung beim Abfassen von Die Welt als Wille und Vorstellung mit einer Reiseerfahrung, die ich so wunderbar finde (schon allein deswegen lohnt sich für mich dieses Buch), dass ich sie in voller Länge zitieren will.

Er sah aus dem Fenster der Kutsche, sah Wiesen, Felder und Dörfer, Städte, Berge und Flüsse an sich vorbeigleiten, sah sich selbst in der Kutsche sitzen und die Gegend betrachten und spürte sich als einen winzigen, durchgerüttelten Teil eines grossen unbekannten Ganzen, das zu ergründen auf einer Reise nicht gelingen konnte. Die Welt nahm ihn nicht zur Kenntnis, sie wies ihn ab, er war ihr egal. Die Bilder, die er von ihr erblickte, wenn er aus dem Fenster der Kutsche spähte, tauchten nur für Augenblicke auf und verschwanden sofort wieder. Die Landschaften zwischen London und Nîmes gingen unter, wenn er sie nicht als Vorstellung festhielt, so, wie er in der Fremde letztendlich einsam und verloren war und dort nur überleben konnte, wenn er, in den schwarzen Kasten des Ich gesperrt und von Pferdekräften davongetragen, mit philosophischem Gleichmut sitzen blieb und das Gefühl von Kommen und Gehen, Werden und Vergehen wie Luft einatmete und ausströmen liess und dem Weg folgte, den nicht er, sondern ein ihm fremder Kutscher zu kennen schien.“

Die Entdeckung des Selbst ist auch eine Einführung in das Werk dieser drei Philosophen, das nicht getrennt von deren Leben abgehandelt wird – im Gegenteil. Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche, bei aller Verschiedenheit, waren definitiv selbstherrliche Egomanen, allerdings keine Rechthaber, denn sie hatten (und haben) Recht. Jedenfalls sehe ich das so. Werde, der du bist, mit dieser Aufforderung lassen sie sich fassen.

Die drei Aussenseiter, so der Autor, dachten vom Gefühl aus. Sie schreiben über sich selbst, bemühen sich um ihre subjektive Wahrheit. Ihre Schriften sind sowohl Selbstfindung wie auch Selbstinszenierung. „Kierkegaard war bis zum letzten Atemzug ganz bei sich, und dies mit einer Intensität, wie sie nur wenigen Menschen eigen ist.“

Wie jedes Buch, so lädt auch Die Entdeckung des Selbst zur Identifikation ein. Mir selber stehen Schopenhauer und Nietzsche näher als Kierkegaard (die Gründe interessieren mich wenig, konventionellen Interpretationen misstraue ich; mir genügt, es zu konstatieren); Eberhard Rathgeb inspirierten die drei unter anderem, sich ausführlich und kenntnisreich mit Malern wie Degas oder Manet zu befassen, die er als „stumme Philosophen“ bezeichnet, die zeigen anstatt in Worte zu kleiden. „Die Maler können einen Augenblick zeigen, was jedem Schriftsteller und jedem Philosophen verwehrt ist, die beide auf Wörter angewiesen sind, flüchtige Wesen ohne Form und Farbe, die sich vor die sichtbare Welt schieben und den Augenblick in Sätzen verdunkeln und untergehen lassen.“

Selten ist mir deutlicher geworden, dass seit dem 19. Jahrhundert die gesellschaftlichen Bestrebungen in der Integration gipfeln, dass seither der Akzent auf Eigeninitiative und Reformen sowie dem Kompromiss liegt. Im Gegensatz dazu stellten sich die drei Einzelgänger „an den Rand des Abgrunds und atmeten die kalte Luft der Erlösung im kosmischen Willen, in Gott, im Amor fati.“

Nicht zuletzt ist Die Entdeckung des Selbst auch ein wahrhaft aktuelles Buch, denn das Leben, „erklärte Nietzsche mit Schopenhauer, war grausamer und wilder als jeder theologische, historische und moralische Sinn, mit dem Rationalisten es zu bändigen und in eine trügerische Ordnung zu zwingen suchten.“ Der Ukraine-Krieg zeigt gerade, dass unsere üblichen Vernunft-Ansätze vor der Realität versagen.

Fazit: Wunderbar inspirierend! Ein wesentliches, überaus hilfreiches Werk.

Eberhard Rathgeb
Die Entdeckung des Selbst
Wie Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard die Philosophie revolutionierten
Blessing, München 2022

Sonntag, 16. November 2025

Diogenes von Sinope

 Ich durchsuchte die Kulturgeschichte nach einer Galionsfigur. Diogenes von Sinope, der kuriose griechische Philosoph, schien mir der Richtige. Obwohl ich in der Regel Philosophen nicht mag – ausgenommen dichtende Denker wie Montaigne, Schopenhauer, Emerson, Thoreau, Egon Friedell und Ludwig Marcuse – , war Diogenes mir besonders sympathisch, weil er nicht nur theoretisch, sondern auch durch seinen Lebensstil alles Herkömmliche bekämpfte. Auch war er der erste Kosmopolit (er soll gesagt haben, er sei ein Bürger des Kosmos und die einzige richtige Staatsordnung sei das Weltall), und auf die Frage, was die Philosophie nutze, soll er geantwortet haben: ›Wenn nichts anderes, so doch, dass man für jedes Schicksal gerüstet ist.‹ Seine Askese war nicht Weltflucht, sie war derbste Lebensbejahung. Und was mich erheitert: Keine Zeile von ihm ist erhalten, sein Geist aber lebt.

Daniel Keel

Mittwoch, 12. November 2025

Gehirn & Verhalten

Vor einigen Jahren habe ich völlig fasziniert Christian Jungersens „The Exception“ gelesen, einen spannenden und aufwühlenden Krimi, der am D.C.I.G., dem ‚Danish Center for Information on Genocide‘ spielt. Ich nahm also „Du verschwindest“ mit der Erwartung zur Hand wiederum spannend und aufwühlend informiert und unterhalten zu werden – und wurde nicht enttäuscht.

Frederik, Rektor einer dänischen Privatschule, ist mit seiner Frau Mia und dem 16jährigen Sohn Niklas in Mallorca mit dem Auto unterwegs. Normalerweise ein vorsichtiger und besonnener Fahrer, rast er wir ein Verrückter über die Strassen – eine Katastrophe bahnt sich an. Und die tritt dann auch ein, doch anders als erwartet.

Frederik wird mit einem Gehirntumor diagnostiziert, der orbitofrontale Cortex ist beschädigt und das bedeutet, dass der Kranke irrtümlich glaubt, gesund und im Vollbesitz seiner Steuerungsfähigkeiten zu sein. Tatsächlich jedoch sind sein Interesse an anderen Menschen und sein Einfühlungsvermögen kaum noch existent, ist er hemmungslos, distanzlos und überschätzt sich masslos, zudem ist seine Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt. Er ist zu einer anderen Person geworden.

Er wird operiert, doch auch nach der Operation ist er nicht mehr der, der er einmal war. Er ist extrem unbeherrscht, die geringsten Kleinigkeiten können heftigste Wutanfälle auslösen. Mia wendet sich an eine Selbsthilfegruppe. Der Anwalt Bernard ist auch Mitglied dieser Gruppe, er hilft Frederik. Mia und Bernard kommen sich näher … und Bernard entpuppt sich schlussendlich als ebenso gehirngeschädigt wie Frederik.

Die Ehe von Frederik und Mia war schon vor der Operation nicht ideal, doch in den drei Jahren vor seinem Sturz war Frederik ein Traummann. Jetzt hingegen lebt er in einer Parallelwelt, die sich unter anderem dadurch charakterisiert, dass er unfähig zur Empathie zu sein scheint. Und dass er ungerührt und ohne Schuldbewusstsein lügt.

Dann stellt sich heraus, dass er als Schulvorsteher das Bankkonto der Schule geplündert und diese damit ruiniert hat. Und zwar ein Jahr bevor der Gehirntumor bei ihm diagnostiziert worden war. Seit wann, fragt sich Mia. lebt sie schon mit einem Mann, der in einer von seiner Umwelt abgespaltenen Welt lebt? Wann hatte Frederiks mangelnde Impulskontrolle angefangen? Hatten seine Affären, die er vor Jahren mit anderen Frauen hatte, etwa auch damit zu tun? War er in der Zeit, als sie ihn als Traummann erlebte, auch schon gehirngeschädigt?

Mia liest Fachliteratur, lernt viel bei den Treffen der Selbsthilfegruppe. „Dort wissen alle, wie die Zusammenhänge sind. Sie tun nicht nur so.“ Mit der Zeit beginnt sie, eine Welt wahrzunehmen, von der sie bis anhin keine Kenntnis hatte. „Noch vor wenigen Minuten ahnte ich nicht, dass es diese geheime Welt aus tausenden Familien gibt, die mit Hirngeschädigten leben müssen.“

Christian Jungersen ist mit „Du verschwindest“ eine überzeugende und beklemmende Darstellung einer gespaltenen Persönlichkeit aus der Sicht von Nahestehenden gelungen. Besonders eindrücklich schildert er, wie Mia mit ihrer neuen Situation klar zu kommen versucht. Da ist ja nicht nur die Krankheit ihres Mannes, da ist auch der finanzielle und soziale Absturz, den sie zu bewältigen hat. Sie beginnt an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln, weiss nicht mehr, was sie glauben soll/kann und verliert zunehmend den Boden unter den Füssen.

Im Internet stösst sie auf die „Iowa gambling task“ des Neurologen Antonio Damasio, der zu den Wegbereitern der Neurophilosophie gehört und die Auffassung vertritt, „dass rationales Denken und ethische Bewertungen nicht unabhängig von einem Körper und dessen physischen Reaktionen existieren“. Damit wäre Frederik für seine Handlungen nicht verantwortlich …

Mit „Du verschwindest“ ist Christian Jungersen wiederum ein grosser Wurf gelungen. Nicht nur, weil er einen dazu bringt, sich eingehend mit Fragen der persönlichen Verantwortung (haben wir einen freien Willen?) auseinanderzusetzen, sondern auch, weil er eindringlich und überzeugend aufzeigt, wie sich Verhaltensstörungen (abrupte Stimmungswechsel, fehlende Impulskontrolle) eines Einzelnen auf dessen ganze Umgebung auswirken.

Christian Jungersen
Du verschwindest
btb, München 2014

Sonntag, 9. November 2025

Mittwoch, 5. November 2025

Von der Gegenwart

Das bei weitem Unbegreiflichste ist für mich die Gegenwart.

Im einen Moment bin ich in Grabs, bei einem Fotos des Hauses, in dem ich geboren wurde. Dann in San Francisco – zu Fuss auf den Strassen unterwegs, in Second Hand Buchläden, beim Burritos Essen, am Meer – , dann wiederum plötzlich in Porto Alegre, im Ibis Hotel beim Busbahnhof, in einem Buchladen in der Fussgängerzone, im Ibis Hotel am Flughafen. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was diese Bilder in meinem Kopf ausgelöst haben könnten, ja, so recht eigentlich weiss ich gar nicht, ob es dafür einen Auslöser gebraucht hat. Das einzige, was ich mit einiger Bestimmtheit sagen kann: Sie sind da und sofort wieder weg.

Niemand vermag zu sagen, ob das Huhn oder das Ei zuerst da war. Mit unserer Art zu denken ist die Frage nicht zu beantworten. Wir lassen trotzdem nicht ab von unserer Art zu denken, schliesslich haben wir ihr einiges zu verdanken. Vor allem Orientierung – und ohne die können wir nicht sein.

In Santa Cruz do Sul: Beim Notieren einer Übersetzung eines portugiesischen Satzes ins Deutsche tauchen plötzlich Bilder aus der Innenstadt von Feldkirch in meinem Kopf auf. Der Gedanke streift mich: Wie kann das sein? Gefolgt vom Gedanken: Nein, das will ich nicht versuchen rauszufinden, ich weiss, das übersteigt meinen Horizont.

Verwirrend ist, dass ich nur die Gegenwart erfahren kann. Ich tue das ständig, wir alle tun das ständig. Nur eben: Es kommt uns nicht so vor, wir haben das Gefühl, sie renne uns davon. Unsere Gefühle und Gedanken, so erlebe ich es jetzt im Alter, führen uns oft in die Irre, da wir nach Sinn verlangen, einem Sinn, den wir verstehen.

***
Wenn wir aufwachen, beginnt die Welt, habe ich letzthin bei Vincent Deary gelesen. Jeden Tag, ohne nachzudenken oder bewusste Anstrengung, erschaffen wir die Welt, in der wir leben. Genauer: Etwas in uns erschafft sie. Bei jedem Aufwachen wacht diese deine Welt mit dir auf. Ein tägliches Wunder.

Die erste unmittelbare Erfahrung, die wir von uns selbst machen, ist die eines Mediums, in dem eine Welt sich manifestiert, in der wir das Zentrum sind. Es ist eine sehr eigene Welt, die hier jeden Tag entsteht, ohne mein Zutun. Wenn ich mich dieser Einsicht öffne, verschwindet mein Ego, bin ich in der Gegenwart.

Seit einiger Zeit beobachte ich oft meine Gedanken. In Sekundenschnelle führen sie mich hierhin und dorthin. Was sie dabei leitet, ist mir schleierhaft; dass ich es ergründen könnte, ziehe ich selten in Betracht – zu schnell, zu verwirrend, zu zusammenhangslos (jedenfalls für meine Logik) spielt sich das alles ab.

Sonntag, 2. November 2025

Keine Ziele, schon gar keine hohen

Hanna Johansen, 1939 in Bremen geboren und in Kilchberg bei Zürich lebend, hat während dreier Monate protokolliert, wie sie Klavier spielen lernte. Nein, nicht sie, sondern die Ich-Erzählerin, die, so ist zu vermuten (weshalb auch sonst die Unterscheidung?) nichts oder nur wenig mit der Autorin zu tun hat. Zumindest soll das (oder etwas Ähnliches) suggeriert werden.
 
Wie auch immer. Wie viel von der Autorin in der Ich-Erzählerin zu finden ist, ist eine Frage, die Literaturinteressierte beschäftigen mag. Ich will mich allein damit beschäftigen, was das Buch bei mir auslöst.
 
Sofort gepackt hat mich der Titel. Dass und wie eine Frau im fortgeschrittenen Alter das Klavierspielen entdeckt, weckte meine Neugier. Ich versprach mir von der Lektüre etwas Zen-Buddhistisches, Acht- und Wachsames, Schwieriges und gleichzeitig Leichtes. Und fühlte mich darin bestätigt, als ich las: „Heute ist ein duftender Septembertag, nur ein Hauch von einem Wind, damit man die Frische fühlen kann, ein leises Wehen in der Birke, kein Rauschen, kein Rascheln.“
 
„Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte“ lese ich als einen Text über die verschiedensten Wahrnehmungen und ihren Umgang damit: leicht, schwebend, konstatierend, nie problematisierend. „Schön war an dem Spaziergang auch, dass ich Schuhe mit dünnen Sohlen hatte, die es erlaubten, das Geröll und die Unebenheiten auf dem Weg genau wahrzunehmen.“
 
Es ist auch ein Text zum Schmunzeln. „Ich muss meine linke Hand besser verstehen. Sie hat es nötig. Und während ich darüber nachdenke, höre ich im Radio eine Motette von Bach: 'Der Geist hilft unserer Schwachheit auf', singen sie. Ich hoffe, sie hat es gehört, meine Linke.“
 
Vor Kurzem las ich Thupten Jinpas „Mitgefühl“, in dem viel vom Üben die Rede war. „Wenn wir uns morgens ein Ziel setzen, treffen wir damit eine Entscheidung, wie wir unseren Tag gestalten wollen. Wir nehmen unser Leben selbst in die Hand, anstatt abzuwarten, was uns wiederfährt. Vielleicht gerät unser Entschluss im Laufe des Tages ins Wanken und unsere Absicht zeitweise ausser Sicht; aber indem wir uns ein Ziel setzen – und es immer wieder erneut setzen – , erkennen wir die Tatsache an, dass wir eine Wahl haben ...“.
 
Daran fühlte ich mich erinnert, als ich bei Hanna Johanson Sätze las wie: „Heute habe ich wieder vor dem Frühstück am Klavier gesessen, aber sonst war ich nicht gerade diszipliniert. Das macht nichts, solange ich nicht zulasse, dass Tage ganz ohne Üben vergehen.“ Oder: „Hürden sind dazu da, zerlegt zu werden, das weiss ich schon.“ Oder: „Die individuellen Varianten will ich nicht unterschätzen, aber auch der begabteste Mensch wird Widerstände zu überwinden haben, einfach darum, weil die neuen Wege im Gehirn noch nicht vorgespurt sind. Bei den langwierigen Ausbauarbeiten an diesen Wegen wäre die Erfahrung einer Lehrerin zweifellos nützlich, aber ich habe mir nun mal in den Kopf gesetzt, das Rad neu zu erfinden. Mich lockt es, die uralten Beobachtungen selber zu machen und die wahrscheinlich ebenso uralten Auswege selber zu finden. Lernen.“
 
Sie lernt alleine, ohne Lehrer. Ihr ist klar, dass „eine Lehrerin mit dem entsprechenden Urteilsvermögen hilfreich wäre“, doch sie will es alleine schaffen, nicht verbissen, doch bestimmt, sie ist eben so.
 
Toll, ganz wunderbar, höchst motivierend, so wirkt dieser Text auf mich, der natürlich nicht nur vom Klavierspielen handelt, sondern auch von ganz vielen anderen Dingen und Ereignissen im Leben der Protagonistin – der Kindheit in Norddeutschland, den eigenen Kindern, der Gegenwart in der Schweiz, der Gartenarbeit („Rasenmähen gehört zu den wenigen Dingen, die man nicht lernen muss.“), dem Lernen („Bewegungsabläufe müssen in Fleisch und Blut übergehen, heisst es ... Begreifen reicht nicht.“), dem Wetter und und und ...
 
„Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte“ ist ein berührendes, lehr- und hilfreiches Buch, das unterhaltsam und anregend Mut aufs Lernen und auf eigene Entdeckungen macht.

Hanna Johansen
Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte
Doerlemann, Zürich 2014