Sonntag, 14. September 2025

Tokyo Sympathy Tower

Englischer Titel, deutscher Text – das ist zwar heute gängig, ändert aber nichts daran, dass ich es blödsinnig finde. Nicht, weil ich etwas gegen das Englische hätte (ich habe 18 Jahre als Englisch/Deutsch-Dolmetscher Geld verdient), doch mich stört, dass die Buchbranche sich so in ziemlich gar nichts mehr von anderen Branchen unterscheidet, und auf jeden Verkaufstrend aufspringt. Auch dass die Übersetzerin dieses Romans ihn auf der Rückseite loben darf, ist für einen seriösen Verlag befremdlich. Wieso nicht beim nächsten Mal gleich die Autorin selbst bemühen ...

Doch zum Buch. Mitten in Tokio soll ein Wolkenkratzer für Kriminelle, denen künftig mit Empathie begegnet werden soll, gebaut werden. Dazu beauftragt wird die junge Architektin Sara Makina, die mit der Zeit Zweifel am Konzept bekommt, die sie mit einem KI-Chatbot diskutiert. Interessant dabei ist, dass die KI Empfindungen auf den Punkt bringt. "Der Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt nicht in der Fähigkeit zu sprechen, sondern in der Fähigkeit, Mitleid mit Schwächeren zu haben." Auch ist die KI realistischer als der von Wunschvorstellungen geleitete Mensch.

Einerseits handelt es sich bei Tokyo Sympathy Tower um einen Science Fiction, andererseits ist dieser Roman der Autorin Anlass, ihre Sicht der Architektur, der Welt, ja des Lebens darzulegen – und das ist faszinierend, da sie weit entfernt von jeglichem Mainstream-Denken unterwegs ist. Tokyo Sympathy Tower ist eine ungemein anregende Auseinandersetzung mit unserem Denken, das dafür verantwortlich ist, dass die Welt ist wie sie nun einmal ist. Unsere Sinne hingegen lehren uns, dass besondere Bauwerke besondere Schwingungen auslösen können. Auch davon handelt dieser Roman.

Sara Makina sieht die Welt durch die Augen einer Architektin. "Ich bekam ein Eckzimmer mit Licht von zwei Seiten und hatte gleichzeitig einen Blick auf das Nationalstadion und den Park. (...) Das Stadion war gebaut worden, weil es gebaut werden musste. Es war da, weil es da sein musste. So sah ich das."
Eine Frau mit klaren Ansichten; da ist kein vielleicht, kein möglicherweise etc.: Die Dinge sind nicht nur wie sie sind. Sie sind so, weil sie so sein müssen.

In der sogenannt realen Welt hatte Zaha Hadids Entwurf zwar den Wettbewerb gewonnen, flog dann aber drei Jahre später raus. Die Kosten waren völlig aus dem Ruder gelaufen; auch die Kritik war immer lauter geworden. "Sie sind die Zukunft, Frau Makina. Vergessen Sie nicht die Lehren, die Zaha Hadid ziehen musste. Es ist entscheidend, das Budget einzuhalten und die richtige Sprache zu verwenden. Der Fehler einer Architektin darf nicht die Zukunft beeinflussen."

Es ist das eigenständige Denken der Rie Qudan, ihre Wahrnehmung der Welt, die mir dieses Werk wertvoll machen. "Ich liebte diese Unschärfe, hätte sogar Gefallen an einem Leben ohne Zeit gefunden. Es war mir unbegreiflich, wie wir Menschen es so einfach hinnehmen konnten, dass unser Leben von etwas unterteilt wurde, dessen Existenz nicht einmal bewiesen werden konnte – zweitausend soundso viel Jahre, Juli, 8 Uhr, 22 Jahre, 23-mal und so weiter. Ich wollte nicht wissen, wie viele Tage es noch waren, bis das neue Schuljahr begann, und wie viel Zeit noch bis zum Sonnenuntergang blieb. Ich wollte weiter und weiter an einem Strand spielen, an dem die Sonne nie unterging, für immer ...". Wunderbar, wie sie uns das überaus Willkürliche unserer Existenz ins Bewusstsein ruft.

Den Gedankengängen der Autorin zu folgen, bedeutet an verblüffenden Einsichten teilnehmen zu dürfen. "Die Realität beginnt immer mit Worten. Nicht die Menschen, die gut in Mathematik und Physik sind, bewegen die Welt, sondern die, die gut reden können." Man sollte bei diesen Sätzen innehalten, damit einem die Bedeutung dieser Aussage aufgehen mögen! Argumente bestimmen unsere Existenz; die Wahrheit, die vor Gericht entschieden wird, hängt vom besseren bzw. überzeugenderen Argument ab. Was für ein Irrsinn!

Es gehört zur den Vorzügen dieses Buches, dass es uns mit ungewohnten Anschauungen beschenkt. "Den Anblick von Menschen, die in Zügen transportiert werden – Lebewesen, die sich eigentlich nicht auf diese Art horizontal bewegen können, aber dazu gezwungen sind –, fand ich schon immer grotesk. Ich verstehe nicht, welchen Sinn es macht, sich als Gruppe horizontal fortzubewegen. " Ich selber wäre gar nicht darauf gekommen, dass das in der Tat ziemlich sonderbar ist ...

Tokyo Sympathy Tower ist ein aussergewöhnliches, vielfältig anregendes, und ungemein erhellendes Werk. 

Rie Qudan
Tokyo Sympathy Tower
Roman
Hoffmann und Campe, Hamburg 2025

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