Zugegeben, ich hatte zuerst Mühe, den Titel zu verstehen, denn weder war mir der Plural von Christus geläufig, noch dass es sich bei Ypsilanti um eine Stadt in Michigan handelt. Am 1. Juli 1959 bringt der Sozialpsychologe Milton Rokeach im dortigen Krankenhaus drei Patienten zusammen, von denen jeder glaubt, er sei Jesus Christus. Den alkoholkranken Landwirt Clyde Benson, den höchst aggressiven, gescheiterten Schriftsteller Joseph Cassel sowie den Veteran des Zweiten Weltkriegs Leon Gabor. „Wir hatten im Vorfeld entschieden, dass wir nicht versuchen würden, die Männer gegen ihren Willen zu irgendetwas zu bewegen, auch dann nicht, wenn wir deshalb unser Projekt aufgeben müssten.“ Doch was war das Projekt?
Die Forscher wollten den Ursprung verschiedener Überzeugungssysteme erkunden, denen die Menschen anhängen. Die Untersuchung basierte auf drei Annahmen. 1) Überzeugungen sind unterschiedlich stark. 2) je primitiver eine Überzeugung, desto schwieriger wird es sein, sie zu verändern. 3) wird eine primitive Überzeugung verändert, wirkt sich dies nachhaltig aufs ganze System aus.
Kindern wird beigebracht, zwischen wirklich und unwirklich zu unterscheiden. Das Wissen, was real ist und was ein Spiel, ist zentral für ihre Identität und erlaubt ihnen, Kontrolle auszuüben. Wie also kann es dazu kommen, dass sich drei ganz unterschiedliche Männer für Christus halten? Wie in psychiatrischen Kliniken üblich, werden ihnen viele Fragen gestellt, ihre Rationalisierungen und ihr Verhalten beobachtet. Die Stimmung bei den Gruppentreffen wird mit der Zeit gereizter, es kommt zu Gewaltausbrüchen.
Auf mich wirkt, was die drei, die sich gegenseitig beschuldigen, verrückt zu sein, von sich geben, wirr und unverständlich. Zum Teil aber auch scharfsinnig, fantasievoll und spielerisch. Und oft, sehr, sehr abgedreht. Gelegentlich fühlte ich mich an Psychiatrie-Witze erinnert. Ein Beispiel:
„Als er (Leon) an den Tisch tritt, der für Clyde, Joseph und ihn reserviert ist, sagt er: ‚Ah, guten Morgen, Sie instrumentellen Götter‘, und setzt sich mit selbstzufriedenem Lächeln. ‚Diese Männer sind Opfer elektronischer Imposition‘, fährt er fort. Clyde springt auf und schreit: ‚Ich habe diesen Ort gemacht!‘ Sie tauschen einige Beleidigungen aus. ‚Halt’s Maul, du Schlampe‘, ruft Clyde, und Leon antwortet: ‚Ich bin keine Schlampe, mein Herr. Ich bin ein Lamm Gottes.’“ Zu versuchen, darin Sinn zu finden, wie das offensichtlich Milton Rokeach tut, halte ich für reichlich aberwitzig.
Die drei Christi aus Ypsilanti protokolliert dieses Experiment ausführlich und zeigt damit auch, wie der Sozialpsychologe Milton Rokeach und seine Mitarbeiter damals gearbeitet haben. Als nach den ersten Wochen, in denen Streitigkeiten und Ausbrüche die Regel waren, die Verantwortung für die Treffen den drei Männern übertragen wurde. kam die Identitätsfrage nur noch auf, wenn Rokeach sie bewusst ins Gespräch brachte.
Die identitären Konfrontationen, mit denen Rokeach operierte, führten nicht dazu, dass die drei Christi ihre Vernunft zurückgewannen. „Clyde und Joseph erweckten den Eindruck, im Wesentlichen unverändert geblieben zu sein. Doch an Leon lässt sich auch weiterhin feststellen, dass er sich kontinuierlich verändert oder dass sich immerhin sein Wahnsystem noch weiter verfeinert.“ Die Einsichten, die Rokeach für sich selber gewann, waren bedeutender, nicht zuletzt, dass diese drei paranoiden Männer „viel lieber nach Wegen suchten, miteinander in Frieden zu leben, anstatt einander zu zerstören.“
Höchst aufschlussreich ist auch, was der Autor zwanzig Jahre nach Abschluss des Experimentes berichtet. „Während es mir nicht gelungen war, sie von ihren Wahnvorstellungen zu heilen, war es ihnen durchaus gelungen, mich von der meinen zu heilen – von meinem gottgleichen Wahn nämlich, dass ich sie verändern könne, indem ich allmächtig und allwissend ihr tägliches Leben im Rahmen der ‚Institution insgesamt‘ organisierte und umorganisierte.“
Übrigens: Wir alle streben zu einem gewissen Grad danach, wie Gott oder Christus zu sein, schreibt Rokeach unter Bezugnahme auf Fichte, Dostojewski, Sherwood Anderson und William Faulkner. Und er zitiert den erklärten Atheisten Bertrand Russell: „Jedermann würde Gott gleichen wollen, wenn das möglich wäre; einige empfinden Hemmungen, die Unmöglichkeit zuzugeben.“
Fazit: Ein eindrückliches Dokument, das unter anderem zeigt, dass vor allem der Therapeut von der Therapie profitiert.
Milton
Rokeach
Die drei Christi aus Ypsilanti
Eine psychologische
Studie
Matthes & Seitz Berlin 2021





