Sonntag, 11. Mai 2025

Sucht und Spiritualität

"Ich erwarte nicht, dass alle, die das Buch in die Hände bekommen, sämtliche Inhalte auf Anhieb teilen mögen. Dafür ist die Vorstellung von den Elementalen zu unvertraut. Lassen Sie aber die daraus hergeleiteten imaginalen Methoden zu sich sprechen, werden Sie nicht unberührt bleiben", so der Autor, der über 30 Jahre Erfahrung in der Drogen- und Suchtarbeit verfügt, in seinem Vorwort.

Der Begriff Elemental geht auf Paracelsus zurück, der den vier klassischen Elementen Wasser, Luft, Erde und Feuer, eine bestimmte Gruppe von Geistern zugeordnet hat. "Manche Geister bezeichnet er im Gefüge seiner Systematik als Elementale. In erster Linie sieht er in den Elementargeistern positive, gute und hilfreiche Elementale am Werk, die als von Gott geschaffene Wesen dem Leben förderlich und dienlich sind."

Mir sind solche Vorstellungen fremd, obwohl ich es plausibel finde, dass es böse, unreine und dämonische Kräfte wie auch dienstbare Geister im Universum gibt. Helmut Kuntz führt aus: Auch Jesus Christus standen dienstbare Geister zur Verfügung, zudem verfügte er über heilsame Kräfte, die mit dem Verstand nicht erklärt werden können. Nur eben: Jesus Christus ist für mich keine historische Figur; er repräsentiert die Weltanschauung, mit der ich aufgewachsen bin.

"Wenn Sie als Leser gerade Vorbehalte gegen die bildhaften Beschreibungen mancher Elementale als Schlangen oder andere Tiere verspüren sollten, dann springen Sie doch kurz voraus (...) Es wird Ihnen dann wie Schuppen von den Augen fallen, wenn Sie erfahren, in welchen Gestalten süchtig abhängige Menschen ihre erzeugten Elementale sehen." Bei mir ist das vom Autor Prophezeite zwar nicht eingetreten, doch dass ich selber keinen Zugang zu diesen Gestalt-Visualisierungen habe, bedeutet natürlich nicht, dass sie für andere nicht funktionieren können. 

Engel und Schutzengel sind heute vermutlich den meisten Menschen fremd. Ersetzen wir diese Begriffe jedoch durch "gute Energie" oder "positive Kräfte", haben wiederum viele damit überhaupt keine Mühe. "Viele meiner weiblichen wie männlichen suchtgefährdeten Patienten haben nicht die geringste Scheu, mir von der Hilfe ihrer Engel in ihren schlimmsten Momenten zu berichten, sobald sie spüren, dass ich offen dafür bin und ihre Berichte mit andächtigem Ernst verfolge", schreibt Helmut Kuntz. Allerdings glaube ich nicht, dass es daran liegt, dass der Therapeut/Berater offen dafür ist oder über andächtigen Ernst verfügen muss, denn wenn Leute reden wollen, reden sie. Worüber auch immer. Der Zuhörer ist meist nicht besonders relevant.

Wichtig für das Gelingen eines (möglichst) suchtfreien Lebens, scheint mir weniger der Therapeut oder die Therapeutin oder eine bestimmte Methode, als die Grundhaltung des oder der Süchtigen. Als ich mich nach sechs Jahren alkoholfreiem Leben in Hazelden, Minnesota, über die Ausbildung zum addiction counselor kundig machte, fragte mich der Cheftherapeut auch nach meiner Motivation. Ich sei immer an existenziellen Fragen interessiert gewesen, sagte ich, worauf er meinte, dann sei ich bei ihnen an der falschen Adresse, da es in Hazelden darauf ankäme, die Patienten wieder zurück in den Job und zur Familie zu bringen. Ich verzichtete, ihn darauf hinzuweisen, dass möglicherweise der Job und die Familie die Sucht ausgelöst oder dazu beigetragen haben. Dass wir in süchtigen Zeiten leben, zeigt sich auch in "unserem" Wirtschaftssystem, das bekanntlich auf Mehr-Mehr-Mehr basiert.

Wir wissen nicht, was eine Sucht auslöst oder was sie zum Stoppen bringt. In meiner Vorstellung war nicht ich es, der mit dem Saufen aufgehört hat, vielmehr ist mir eine Gnade widerfahren. Helmut Kuntz zitiert eine Kollegin, der viel mit Kindern und deren Eltern arbeitet. "Die Therapien mit ihnen, das, was wirkt und heilt, hat für mich einen spürbaren spirituellen Ursprung. Da sind immer die Gewissheit und Freude in mir, dass ich mich in meiner alltäglichen Arbeit davon getragen und gestützt fühle." Für mich handelt es sich dabei um eine Art "Chemie", um "etwas in der Luft". Ich stelle mir vor, es ist immer da, ob ich oder der/die andere oder beide zusammen es spüren oder nicht. "The readiness is all", sagt Horatio in Hamlet.

 Helmut Kuntz trifft mit seiner Einschätzung, dass Sucht mehr ist als Medizin, ins Schwarze. Meine eigene Erfahrung (seit über 35 Jahren trockener Alkoholiker) und meine intensive Beschäftigung mit Sucht und Verhaltensänderungen, hat mir die Wahrheit von Shakespeares "Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt." immer wieder von Neuem bewusst gemacht. So war seit meinem 14ten Lebensjahr meine fixe Idee, nur an einem Montag könnte ich mein Leben ändern. Dazu kam im Laufe der Jahre, dass ein solcher Montag ein bedeutsamer Tag sein müsse, ein 1. Januar oder Weihnachten oder mein Geburtstag. Im Kopf wusste ich, dass das absurd war. Nur eben: In Tat und Wahrheit war Montag, der 1. Januar 1990, mein erster alkoholfreier Tag. Mit der gängigen Logik ist, jedenfalls gemäss meiner Erfahrung, der Sucht nicht beizukommen.

Helmut Kuntz gehört erfreulicherweise nicht zu denen, die glauben, das Rad neu erfinden zu müssen.  Dass er dabei auf das Heilen setzt, das eine lange Tradition hat, ist zwar nicht mein Ding (ich bin skeptisch gegenüber "besonderen Menschen" wie Heilern), doch in diesem Buch findet sich derart viel Reflektiertes und Hilfreiches zur Sucht, dass die Auseinandersetzung definitiv lohnt, und speziell das Kapitel Dharma oder das Eingebundensein in ein Drittes als Weg zum Ausstieg aus der süchtigen Abhängigkeit.

Sucht und Spiritualität plädiert übrigens nicht nur dafür, "uns wieder verstärkt anzubinden an ein höheres Wissen und die Qualität dienstbarer Geister", Helmut Kuntz singt auch das Lob des bestehenden Suchthilfesystems, das zu seinem Bedauern "leider viel zu selten angemessene Würdigung" erfährt. Ich kann das nicht beurteilen, mir selber ist es nie in den Sinn gekommen, das bestehende Suchthilfesystem in Anspruch zu nehmen. Doch da ich ein Anhänger der "Whatever works"-Herangehensweise bin und dieses Buch mich auf Aspekte aufmerksam macht, die ich so nicht auf dem Radar hatte, will ich Sucht und Spiritualität ganz unbedingt empfehlen

Helmut Kuntz
Sucht und Spiritualität
Abhängigkeit weiter denken,
neu verstehen, verbundener handeln
Schattauer, Stuttgart 2025

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