Sonntag, 25. Mai 2025

Das Geld & die Zahnbürste

Es ist selten, dass ich bereits nach den ersten Zeilen weiss, dass ich ein wesentliches Werk in Händen halte. Von der Würde des Menschen ist da die Rede, deren Inhalt "offen ist und offen bleiben muss und sich daher mit der genormten Sprache und dem nüchternen Denken von Juristen kaum vereinbaren lässt." Sonderbar (und dann wieder auch nicht), dass mich Denkerinnen, die nicht als Juristinnen ausgebildet wurden (hier: Herta Müller, zuvor: Petra Morsbach), mir, der ich einst Jura studiert (doch nie praktiziert) habe, Kennzeichnendes der juristischen Sprache deutlich machen.

Wie soll man leben?, sei die grosse Frage in der Diktatur gewesen. So recht eigentlich stellt sich diese Frage natürlich immer, doch wer sich dafür entscheidet, sich einer Diktatur zu verweigern, hat Folgen zu ertragen, die denen, die das nicht erfahren haben, kaum verständlich sind. Wie soll man leben?, bedeutet auch, sich zu fragen, wie man sein will. "Eigentlich wusste ich gar nicht, wie ich sein will, wer weiss das schon von sich. In einem gewissen Sinn wusste ich es dennoch, weil ich jeden Tag um mich herum sah, wie ich nicht sein will und auf keinen Fall werden darf."

"Freiheit und Würde sind immer konkret." Im Alltag zeigt es sich, was das heisst. Herta Müller weigert sich, Kollegen zu bespitzeln. "Ich hatte mir eine Freiheit erlaubt und dadurch eine Würde gerettet, die in diesem Land nicht vorgesehen war." In einer Diktatur sind die Konsequenzen gravierender als in einer sogenannten Demokratie (wo das Geld und nicht das Volk regiert), doch nicht mitzumachen bei dem, was ein System verlangt, wird immer sanktioniert.

Eine Fliege kommt durch einen halben Wald versammelt Essays zu ganz unterschiedlichen Themen, der gemeinsame Nenner ist das genaue Beobachten und das eigenständige Reflektieren der Autorin. Unter dem Titel "Heimweh nach Zukunft" erfahre ich unter anderem von Menschen, die zur Zeit der rumänischen Diktatur, ihr Denken und Trachten auf Fluchtmöglichkeiten projiziert haben. So haben einige Orientalistik studiert, um vielleicht eine Dienstreise nach Japan zur Beantragung von Asyl benutzen zu können, andere wurde technische Zeichner, in der Hoffnung, bei der Geländevermessung nahe der Grenze eingesetzt zu werden. Not macht erfinderisch, heisst es bekanntlich. Herta Müller demonstriert dies an konkreten Beispielen.

"Wenn ich mit dem Zug von Temeswar nach Bukarest fuhr, liefen die Schienen eine Weile ganz nahe an der Donau entlang. Man sah hinüber nach Jugoslawien. Und wenn dieser wegabschnitt anfing, standen in jedem Abteil alle allmählich auf. Ohne Grund, ohne ein Wort standen alle, absolut alle auf, gingen auf den Gang und schauten über die Grenze hinüber nach Jugoslawien."

In der chinesischen Diktatur, zitiert sie Liao Yiwu. praktiziert der Staat seine "uralte Tradition, Verbrechen mit Verbrechen zu regieren." Auch ist die Zensur alltäglich, was sie an Boris Pasternak erinnert, dessen Publikation von "Doktor Schiwago" durch Feltrinelli die Sowjets zu verhindern trachteten. "Zu Pasternaks Zeiten brauchte man für die Verhinderungen Intrigen, Geheimdienste und Delegationen. Heute besorgen ehemalige Manager grosser deutscher Unternehmen diese Angelegenheiten." Und Schriftstellerinnen wie Juli Zeh, der man mit Schmeicheleien offenbar das Hirn ausschalten kann.

Herta Müller ist breit interessiert, macht sich Gedanken über Casablanca, "ein Film über die Flucht vor Hitler – aber Juden kommen darin nicht vor. Und auch in den Namen der grossen Hollywood-Studios kommen keine jüdischen Namen vor [...] weil die Produzenten des Films diese antisemitischen Vorurteile des Publikums kannten.", beleuchtet das Ausblenden des Exils in der deutschen Nachkriegszeit (so erschienen etwa Hermann Ullsteins Erinnerungen erst 70 Jahre nach ihrem Erscheinen in den USA!), und zeigt am Beispiel der Gruppe 47 eindrücklich auf, wie feige und opportunistisch einige ihrer Mitglieder (Günter Grass, Günter Eich, Alfred Andersch, Hans Werner Richter, Walter Jens) sich verhielten, so dass es wieder einmal in mir denkt: Wer sich öffentlich moralisch zeigt, ist es wohl eher nicht.

"Wer im Exil war, gilt in Deutschland bis heute nicht als Opfer." Wer diesen Satz auf sich wirken lässt, wird erkennen, dass die gleichgeschaltete Gesellschaft von damals und von heute, nicht einmal ansatzweise mit denen klarkommt, die sich nicht gleichschalten lassen. Und wer würde bei diesem Satz nicht auch an das heutige Russland denken? "Der Nationalsozialismus hatte neben der Vernichtung der europäischen Juden auch die Auslöschung der Moderne zum Ziel." 

Obwohl die hier vorliegenden Texte zumeist von Vergangenem handelt, ist vieles davon nicht nur aktuell, sondern gar nie vergangen oder immer noch da. "Für Carl Zuckmayer hatte in den 30-er Jahren 'die Unterwelt ihr Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheusslichste unreinsten Geister losgelassen' zum 'Begräbnis aller menschlichen Würde.'" Für nicht wenige beschreibt das genauso ihre heutige Realität.

Eine Fliege kommt durch einen halben Wald ist reich an vielfältigsten Anregungen und so recht eigentlich ein Buch für Neugierige, die es schätzen, Entdeckungen machen und die gerne überrascht werden (klar doch, so sehe ich mich selber), denn Herta Müller erzählt derart viel höchst Aufschlussreiches, dass man nicht nur immer mal wieder ungläubig den Kopf schüttelt (etwa dass der der vor den Nazis geflohene Schauspieler Conrad Veidt in Hollywood regelmässig Nazis spielte) und sich Fragen stellt, die den meisten wohl gar nie in den Sinn kämen. "Kann man Humor lernen?" Ja, meint sie. Ich selber sehe das zwar anders, doch man lese ihre lohnenswerten Ausführungen.

Herta Müller
Eine Fliege kommt durch einen halben Wald
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2025

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