Mittwoch, 18. August 2010

Von der Politik, den Medien und der Sucht

In seinem Buch "Höhenrausch. Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker" hat der deutsche Historiker und langjährige Spiegel-Autor Jürgen Leinemann der Herkunft und Lebensgeschichte der politischen Akteure wie auch den sozialen Rollen, die sie spielen, nachgespürt. Und er hat, weil er nicht nur genau zu beobachten weiß, sondern oft auch Zusammenhänge bemerkt, die von viel Menschenkenntnis zeugen, Schilderungen von erhellender Eindrücklichkeit zustande gebracht.

Helmut Schmidt, der als deutscher Bundeskanzler mehr als ein Dutzend Mal bewusstlos zusammengebrochen war, und Franz Josef Strauß, der gemäß seiner Lebensgefährtin Renate Piller "einfach nicht nippen" konnte, hat Jürgen Leinemann als süchtig erlebt; Joschka Fischer, der vom unmäßigen Bechern und Futtern zum unmäßigen Joggen (und wieder zurück) wechselte, ist ihm ein Exempel an Suchtverlagerung. Leinemann, der wohl zu den kenntnisreichsten politischen Berichterstattern Deutschlands gehört, weiß, wovon er schreibt – er ist selber süchtig, er hat sich seiner Sucht gestellt, ist mittlerweile schon lange trocken.

Seit zwanzig Jahren wusste er, dass er über seine Erfahrungen und Beobachtungen zum Thema Sucht und Politik ein Buch schreiben würde. Warum hat er so lange gewartet? "... weil ich wusste, dass ich mich selbst als Süchtiger zu erkennen geben müsste, sollte die Charakterisierung der Politiker als potenzielle Erfolgs-Junkies nicht denunzierend wirken." Zudem wollte er sich erst als trockener Alki bekennen, wenn er nicht mehr für den Spiegel, der ihn, als er es nötig hatte, schützte und stützte, im politischen Tagesgeschäft tätig war, denn schließlich begegnet man auch in unseren vermeintlich aufgeklärten Zeiten einem Süchtigen nach wie vor mit (moralisch eingefärbten und diffamierenden) Vorbehalten.

Das Wort 'Sucht’ kommt nicht von 'suchen', es kommt von 'siech' und das heißt krank. Ein Süchtiger ist ein Kranker, der die Wirklichkeit als unerfüllt oder bedrohlich erlebt und nun versucht, diesem Gefühl Abhilfe zu schaffen, sei es durch chemische Substanzen wie Alkohol oder Rauchwaren, sei es durch Arbeit oder öffentliche Anerkennung. Man gewöhne sich an solche Mittel, durch ständige Wiederholung und immer höhere Dosierung entstehe zunächst Abhängigkeit, dann Sucht, schreibt Leinemann, und fügt hinzu:

"Einzugestehen, dass ich zwar alkoholabhängig war, dass mein süchtiges Verhalten aber nicht durch Whisky, Bier oder Wein erzeugt wurde, sondern dass umgekehrt der Suff die Folge eines persönlichen Defizits war, fiel mir nicht leicht. Es half aber, dass ich schnell merkte, wie sehr auch andere sich mit dieser Problematik herumschlugen – nicht zuletzt in der Politik."

Die Beweggründe eines Politikers, hat Willy Brandt gesagt, ergäben sich häufig mehr aus dessen Struktur als aus den eingespielten politischen Regeln. Auf dieser Einsicht gründet Leinemanns Berichterstattung. Sorgsam hat er jeweils der Herkunft und Lebensgeschichte der politischen Akteure wie auch den sozialen Rollen, die sie spielen, nachgespürt. Und er hat, weil er nicht nur genau zu beobachten weiß, sondern oft auch Zusammenhänge bemerkt, die von viel Menschenkenntnis zeugen, Schilderungen von erhellender Eindrücklichkeit zustande gebracht, die einem noch lange im Kopf bleiben. Diese hier zum Beispiel:

"Franz Josef Strauß war nicht nur der bayerische Kraftbolzen, als der er sich mit Vorliebe gerierte and als den ihn Freund und Feind bewunderten. Er war auch empfindlich, verwundbar und ängstlich. In Wahrheit kennzeichnete ihn Unstimmiges. Statisch und dynamisch war er zugleich, grazil und massig, großspurig und kleinmütig. Er marschierte ja nicht, wie das Klischee behauptete, er walzte nicht und schon gar nicht schob er sich vorwärts. Er hastete vielmehr in weicher Eile, verfiel fast ständig in einen unsteten Trippeltrab. Sein Gang hatte kein Gewicht."

Leinemanns Buch überzeugt nicht zuletzt, weil er offen legt, dass seine jeweilige Sichtweise mit seiner persönlichen Biografie, mit dem jeweiligen Stand seiner Selbsterkundung zu tun hat. Damit macht er klar, dass es objektive Berichterstattung nicht gibt, sie nicht geben kann; dass man, um wahrhaft Zeugnis ablegen zu können, auch über sich selber Auskunft geben muss, sich selber und anderen gegenüber. Über Strauß zum Beispiel konnte er erst (und vor allem darum) einfühlend schreiben, als er entdeckte, dass es mit dem Bayer – "nicht in seinen politischen Inhalten und seinen gesellschaftlichen Zielen und schon gar nicht in seinen finanziellen Praktiken, wohl aber in seinen verdeckten Ängsten, in den Lebenszielen des ehrgeizigen Aufsteigers, in den emotionalen Einfärbungen und den zeitgeschichtlichen Prägungen durch eine autoritäre Familien- und Kleinbürgerwelt – mehr Ähnlichkeiten und Überschneidungen [gab], als ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen hätte ausmalen können."

Auch wenn der 1937 im niedersächsischen Celle geborene Historiker, der seit 1971 für den Spiegel arbeitet, eine Fülle von Informationen verarbeitet und eine veritable, aus der Nähe miterlebte, deutsche Polit- und Politiker-Geschichte der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts vorgelegt hat, die eigentliche Stärke seines Buches liegt in der Selbstreflexion, zu der auch die Einordnung des eigenen Ego in Zeit und Kultur gehört: "... es bedurfte des völligen physischen und psychischen Zusammenbruchs, bis ich begriff, dass mein privates Unglück, meine zunehmende Entfremdung von mir selbst, vom gesellschaftlichen und politischen Umbruch dieser Jahre nicht zu trennen war."

Eine zunehmende 'Versüchtelung' der Gesellschaft diagnostiziert der Suchtexperte Werner Groß in der heutigen Zeit – mehr denn je scheint der Mensch von Sucht bedroht; das von den Medien geförderte Bedürfnis nach der Droge Aufmerksamkeit ("die unwiderstehlichste aller Erfolgsdrogen") trägt nicht wenig dazu bei.

Er schreibe doch jetzt seit vier Jahrzehnten über Politik, das sei also auch sein Leben, meinte Die Zeit in einem Gespräch mit Leinemann und fragte: "Warum tun Sie sich das an? Immer noch einen leeren Egomanen? Immer noch einen, der nicht aufhören kann?", worauf dieser antwortete: "Vielleicht bin ich auch so. Ein bisschen. Sonst würde mich diese Welt wohl nicht so faszinieren."

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