Die kleine Rhoda, ein wohlerzogenes Mädchen, versteht hervorragend, wie die Menschen ticken. Im Gegensatz zu ihrer wohlmeinenden Mutter, erkennt sie sofort, dass es sich beim vom Leben enttäuschten und von Selbstmitleid zerfressenen Hausmeister Leroy Jessup um einen Psychopathen handelt. Dieser gibt sich ständig seinen hasserfüllten Tagträumen hin. Selten wurde eine klassische Projektion überzeugender geschildert.
William March gelingt es meisterhaft, bereits zu Beginn von Die böse Saat eine Atmosphäre zu schaffen, die einem Psycho-Thriller alle Ehre macht. Doch dieses Buch ist weit mehr. Eindrücklich zeigt es die Klassenunterschiede anhand des Denkens: Die wohlmeinenden und überheblichen Begüterten (Mrs. Breedlove) versus die von Neid und Wut geprägten Lohnabhängigen (Mr. Jessup)..
Ihren Eltern ist Rhoda ein Rätsel, doch in der Eliteschule, die sie besucht, macht sie sich glänzend, auch wenn ihre Unabhängigkeit zu denken gibt. Von den Mitschülern wird sie allerdings gefürchtet und abgelehnt. Auch in ihrer früheren Schule war sie aufgefallen, nicht zuletzt als Diebin. Der Psychiater hielt sie für empathielos, berechnend, frei von Angst und Schuldgefühlen, "ein entzückendes kleines Tier, das sich aber niemals zähmen und in irgendeine Gesellschaftsordnung einfügen lasse ...",
Ein kleiner Junge, der dieselbe Klasse besucht wie Rhoda, gewinnt einen Wettbewerb. Rhoda glaubt, der Gewinn stünde ihr zu, piesackt den Jungen, der bei einem Schulausflug den Tod findet. Obwohl ihre Mutter ahnt, dass Rhoda etwas damit zu tun haben könnte, will sie es nicht wahrhaben. Autor Willam March schildert den ausweglosen Zwiespalt der Mutter überaus einfühlsam. Indem er beschreibt und nicht urteilt, machte er darüber hinaus deutlich, wie schwierig es ist, die Wahrheit zu ertragen.
Rhodas Mutter erfährt, "... dass relativ häufig Morde von Kindern begangen würden, besonders von sehr intelligenten. Einige Mörder, die in die Kriminalgeschichte eingegangen seien, hätten damit schon in ihrer Kindheit angefangen. Sie zeigten ihre Begabung ebenso frühzeitig wie grosse Dichter, Musiker oder Mathematiker." Kein Wunder, befand der Stammverlag des erfolgreichen Autors diesen Text als zu schockierend und lehnte ihn ab, wie Martin Compart in seinem vielfältig aufschlussreichen Nachwort schreibt, das auch den Autor treffend charakterisiert. "March ist ein sorgfältiger, präziser Autor, der Spannung und psychologische Einsichten nuanciert nutzt."
Rhodas Mutter erinnert sich an einen anderen, sehr ungewöhnlichen Todesfall, bei dem Rhoda zugegen war. In Selbstgesprächen wird ihr bewusst, dass da ein Zusammenhang besteht, den sie sich jedoch nicht eingestehen will. Die Frage, die hier implizit angesprochen wird, ist, ob (und falls ja, inwiefern) Eltern für das Tun ihrer Kinder mitverantwortlich sind.
Der Mutter ist klar, dass die Ursache für Rhodas Verhalten nicht in der Umwelt liegt. "Es war etwas Dunkles, Unerklärliches, dachte sie." Womit sie auf den Punkt bringt, was William March auf ganz unterschiedliche Arten ausführt: Das Böse, das gibt es. Und: Eltern wissen nicht (und können nicht wissen), was in ihren Kindern vor sich geht.
Schliesslich schafft es die Mutter doch, der Wahrheit ins Gesichts zu sehen. Wie geht sie damit um? Lesen Sie das Buch! Und: Ist die Wahrheit dem Menschen wirklich zumutbar, wie Ingeborg Bachmann einst meinte?
Der Mensch sei, was sein Glaube sei, heisst es in der Bhagavad Gita. In diesem Glauben kommen böse Kinder nicht vor, kann nicht sein, was nicht sein darf. Eindrücklich führt der Autor vor, dass der Mensch ein Gefangener seiner Erklärungen ist. Nicht zuletzt steht uns unsere Wertschätzung der Cleveren im Weg, denen wir viel zu viel nachsehen.
Es versteht sich: Akzeptieren wollen wir das nicht. "Monica Breedlove ist zum Beispiel der Meinung eine menschliche Verhaltensweise könne dadurch geändert werden, dass man auf einer Couch endlos über alles Mögliche und Unmögliche zu einem Mann spricht, der vielleicht ebenso ratlos ist wie der Patient selbst. Das beweist mir, dass Monica viel romantischer und vertrauensseliger ist als ich."
Die böse Saat ist ein aussergewöhnlicher, philosophische Thriller, der fragt: Wie kann es sein, dass liebevolle, glücklich verheiratete Eltern zu einem derart manipulativen, skrupellosen und enorm cleveren Kind kommen?
William March
Die böse Saat
Ein Klassiker des Psycho-Thrillers
Herausgegeben von Martin Compart
Elsinor Verlag, Coesfeld 2025