Sonntag, 27. April 2025

Wieder werden

Wir rennen durchs Leben, unser antizipatorisch angelegtes Hirn treibt uns voran. Entschleunigen ist uns fremd, es sei denn, wir werden dazu gezwungen. Die Ärztin Magdalena Gössling wurde dazu gezwungen, durch einen Schlaganfall im Alter von 32, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war. Sie muss sich (neben vielem anderen) auch daran gewöhnen, sehr langsam zu schreiben, was zur Folge hat: "Ich lerne, genauer hinzuschauen."

Detailliert beschreibt sie, wie sie ihren Schlaganfall erlebt, ohne anfänglich zu begreifen, dass es einer ist. "Mein Gehirn war längst ein anderes, es hatte mich verändert, und nichts war mehr wie gewohnt." Sie ist nicht mehr Ärztin, sondern Patientin; ihr Körper gehorcht ihren Gedanken nicht mehr.

Sie wird auf die Charité verlegt, kriegt Besuch von ihrem Partner, einem Neurologen, der Mutter (Krankenpflegerin von Beruf), mit der sie sich auch über die logopädische und ergotherapeutische Behandlung austauschen kann. Selber Patientin sein, lässt sie auch über ihr eigenes Verhalten als Ärztin reflektieren. Sensibel registriert sie, wie wichtig ihr echte menschliche Anteilnahme ist. Und auch ihre Wertvorstellungen erfahren eine Neuausrichtung. "Den Selbstwert nicht an Schnelligkeit und Leistung zu binden, ist für mich immer noch ein Lernprozess. Was es bedeutet, in einer auf Leistung, Umsatz und Wachstum getrimmten Welt schwer zu erkranken, das konnte ich vor meinem Schlaganfall nicht ermessen."

Sie kriegt alles mit, ist geistig da, doch sprechen kann sie nicht, sich mit Worten zu verständigen geht nicht. Eine Freundin besucht sie, der Bruder, die Schwester kommen vorbei, der Vater liest ihr vor. Selber lesen ermüdet sie und so schaut sie fern, bleibt bei Germany's Top Model hängen. "Es ist mir peinlich, dass ich solche Shows gucke. Ich weiss, dass sie hirnlos sind. Und ich will unbedingt zeigen, dass ich Hirn habe." Ihren Humor hat sie nicht verloren! Er zeigt sich auch in der Schilderung der grossen Visite nach der gelungenen Operation, bei der die Ärzte vor allem sich selber beglückwünschen.

"Ich habe überlebt. Jetzt kommt die Fleissarbeit. Ich muss Fuss fassen, weiter kämpfen", notiert sie. Bewegungs- und Sprachübungen, es ist anstrengend. Als sie das Schreiben übt, bemerkt sie, dass schon ein einzelner Buchstabe den Sinn verschiebt. "Ich schreibe Freude statt Freunde, Schmerz statt Scherz, Wut statt Mut." Was auch immer der Grund dafür sein mag (wenn es denn überhaupt einen Grund dafür gibt), dass Buchstaben Gefühle ausdrücken können, ist ein Wunder, das sich auch darin zeigt, dass unsere Erklärungen dafür recht dürftig wirken.

Dann kommt die Reha, Grad der Behinderung: fünfzig. Die Tage sind durchgetaktet; sie ist ehrgeizig, macht Fortschritte, und verzweifelt dennoch fast, denn sie vergleicht sich mit dem Vorher und dem Jetzt, doch der Schlaganfall hat sie im Kern erschüttert. "Motorisches Geschick, Kommunikationsfähigkeit und Flexibilität – alles ist vernichtend getroffen." Hält man sich die Schwierigkeiten vor Augen, welches das  Lesen auf ein mühsames Entziffern von Wörtern reduziert, lässt einen mehr als nur staunen, dass sie dieses Buch schreiben konnte.

Ihre Tochter kommt zur Welt, kurze Zeit später erleidet sie selber einen epileptischen Anfall. Magdalena Gössling bleibt wirklich nichts erspart, denkt es so in mir. Gleichzeitig beeindruckt mich ihr Lebenswille, ihre Kämpfernatur, ihre pragmatische Art mit dem, was ihr zustösst, umzugehen. Sie will wieder in ihren Beruf, die Handchirurgie, zurück – ermutigt wird sie nicht. Nur schon das hätte wohl viele in die Verzweiflung getrieben.

"Suche nach einem neuen Ich" ist ein Kapitel überschrieben. Aufgeben kommt für sie nicht in Frage. Doch sie weiss auch, dass sie loslassen muss. Dieses Wissen hilft nicht, es steht ihr im Weg. Ihre Widerstände sind mannigfaltig, ihre Aufrichtigkeit eindrücklich. Auch als sie dauerhafte Berufsunfähigkeit attestiert bekommt, gibt sie nicht auf. "Ich habe Launen, Gefühlsausbrüche, vor denen ich mich ekle und die mich beschämen." Als sie sich nach Monaten bewusst anderen Dingen zuwendet, beginnt sie, ihr Leben neu zu gestalten. Es ist ihre Auseinandersetzung mit Sprache, die ihr allmählich die Welt des Schreibens eröffnet. Aus der Handchirurgin wird eine Autorin.

"Das Leben ändert sich in einem Augenblick. In einem alltäglichen Augenblick." Dieses Zitat von Joan Didion, das treffender kaum illustrieren könnte, was wohl die Wenigsten auf dem Radar haben, hat Magdalena Gössling ihrem Erlebnisbericht vorangestellt, der dokumentiert, dass und wie wir unserem Schicksal ausgeliefert sind. Sie lernt zu akzeptieren, was sie nicht ändern kann, und bemüht sich, zu ändern, was sie zu ändern vermag. Sie lernt ihre Energie auf ein neues Leben zu richten. So recht eigentlich hat sie ihrem ersten Leben ein zweites hinzugefügt; ein Leben, das sie erst zu entdecken begann, als sie bereit dazu war, ihr erstes hinter sich zu lassen.

Wieder werden ist weit mehr als die berührende Schicksalsgeschichte einer Kämpferin, es ist auch eine selbstkritische und sensible Meditation darüber, dass nichts im Leben selbstverständlich ist. Und nichts garantiert ist. Wer weiss schon, was noch alles kommen wird?

Magdalena Gössling
Wieder werden
Eine Geschichte über Verlust und Erneuerung
Rowohlt Polaris, Hamburg 2025

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