Die 2018 verstorbene Science-Fiction Autorin Ursula K. Le Guin (geboren 1929) erhielt für diese Essaysammlung posthum den PEN/Diamonstein-Spielvogel Award for the Art of the Essay. Der erste dieser Essays handelt von einem Fragebogen der Universität Harvard, in dem sie unter anderem gefragt wird, ob sie ihre geheimen Wünsche auslebe (sie hat keine), und womit sie ihre Freizeit verbringe (die Auflistung beginnt mit Golf). "Ich bin ein freier Mensch, aber freie Zeit habe ich nicht. Meine Zeit ist komplett aufgefüllt mit ...", notiert die Achtzigjährige; ihre Tätigkeiten füllen eine halbe Buchseite.
Seit sie alt sei, halte sie nichts mehr von dem Sprichwort "Man ist so jung, wie man sich fühlt". Auch mit dem Spruch "Das Alter ist nichts für Weicheier" kann sie nichts anfangen; sie findet ihn fürchterlich. Sie hat nichts gegen Sprüche, doch sie zieht ihren eigenen vor. "Das Alter ist nichts für die Jungen."
Diese Essays sind ein Genuss. Und sie sind hilfreich. Was daran liegt, dass hier eine no-nonsense-Frau schreibt, die klar zu denken versteht. Voraussetzung dafür ist ein nüchterner Blick auf die Dinge, so wie sie sind. "Die Amerikaner glauben fest ans positive Denken. Positives Denken ist grossartig. Es funktioniert am besten, wenn es auf einer realistischen Einschätzung und auf der Akzeptanz der tatsächlichen Lage basiert. Positives Denken auf der Grundlage von Verleugnung ist wohl eher weniger grossartig."
Treffend und erfrischend auch Ursula K. Le Guins Ausführungen zur Kunst. "Kunst machen heisst nicht, sie zu erklären. Kunst ist, was ein Künstler schafft – nicht, was ein Künstler dazu erklärt." Kunsthistoriker, Kuratorinnen und alle anderen, die vom Erklären leben, werden das womöglich anders sehen, weshalb denn auch die Autorin lustvoll nachdoppelt. "Für mich ist die Aufgabe einer Töpferin, einen guten Topf herzustellen, nicht darüber Auskunft zu geben, wie und wo und warum sie ihn angefertigt hat und wofür er aus ihrer Sicht verwendet werden soll und welche anderen Töpfe ihn beeinflusst haben und was der Topf bedeutet und wie man den Topf erfahren soll." Herrlich!
Auch über die Vorstellung des Grossen Amerikanischen Romans lässt sie sich aus, und vermisst auf der gängigen Liste neben Onkel Toms Hütte auch Früchte des Zorns, von dessen Autor, John Steinbeck, ich gerade vor ein paar Wochen The Pearl gelesen und in bester Erinnerung habe. Schon eigenartig, wie Dinge zusammenzuhängen scheinen, war doch The Pearl mein erstes Steinbeck-Buch. Glaubte ich. Ein Blick ins Buchregal belehrte mich dann eines besseren, denn da standen zwei weitere Steinbeck-Bücher, eines ganz offensichtlich gelesen, das andere nicht. Keine Zeit verlieren bewirkt nun, dass ich mir die beiden, die ich überhaupt nicht auf dem Radar hatte, jetzt vornehme.
Bücher können auch zur Bewusstseinsbildung beitragen und Keine Zeit verlieren tut das ganz unbedingt. So macht mich Ursula K. Le Guin auch auf Homer aufmerksam. Ihre Version der Illias sowie der Odyssee sprechen mich weit mehr an als die Originale. Zustimmend zitiert sie den in London lebenden, pakistanischen Autor Moshin Hamid: "Wie seltsam wäre es, Homers Illias oder Rumis Masnavi als "die Grosse Dichtung aus dem östlichen Mittelmeerraum" zu bezeichnen. Soviel zum Grossen Amerikanischen Roman.
Höchst aufschlussreich auch ihre Ausführungen zu Fantasy, die nicht etwa sagt: Alles ist möglich, sondern: Es muss nicht so sein, wie es ist. Und das meint: Die Gesetze der Kausalität gelten auch in der Fantasy, sonst wäre der Leser oder Hörer der Geschichte orientierungslos. "Fantasy hat nichts an sich, vor dem man sich fürchten muss, es sei denn, man hat Angst vor der Freiheit, die in der Ungewissheit liegt." Man sollte diesen Satz nicht überlesen, man sollte bei ihm verweilen, und bedenken, was er alles impliziert, denn Freiheit und Ungewissheit gehören zusammen.
Ursula K. Le Guin zu lesen, ist überaus bereichernd, denn diese Frau ist nicht nur eine eigenständige, sondern auch eine originelle Denkerin mit einem überaus breiten Horizont, Vor allem regt sie an, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Kants Aufforderung, man soll den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes bedienen, wird in diesem Buch auf eine Art und Weise praktiziert, dass es eine wahre Freude ist.
Keine Zeit verlieren ist weit mehr als ein Buch übers Alter, es ist eine gescheite und praktische Lebensanleitung einer hoch-reflektierten Frau mit viel common sense (der so recht eigentlich alles andere als common ist) und mit viel Humor.
Fazit: Erhellend, lustig, philosophisch und überaus nützlich!
Ursula K. Le Guin
Keine Zeit verlieren
Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen
Golkonda Verlag, München 2025

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