Mittwoch, 5. April 2023

Die mit den Wölfen heulen

"In der Kindheit stellen wir die grundsätzlichen Fragen, mit denen wir durchs Leben gehen. Und mit zunehmendem Alter erkennen wir, dass zwei oder drei Worte genügen, um ein Leben zu prägen." Das sind die ersten Sätze, die ich mir in diesem Werk angestrichen habe; viele weitere sind im Lauf meiner Lektüre von Die mit den Wölfen heulen dazugekommen.

Neuropsychiater Boris Cyrulnik, 1937 in Bordeaux geboren, weiss, dass wir Selbstvertrauen entwickeln müssen, um im Leben bestehen zu können. Und natürlich weiss er auch, wie mittlerweile jeder und jede, dass die ersten Lebensjahre für unsere Entwicklung, ja für unser Leben, bedeutsam sein werden. Im Gegensatz zu vielen, weiss er dies jedoch eindrücklich zu beschreiben. "Im Alter von sechs Jahren, wenn der zerebrale Reifungsprozess so weit gediehen ist, dass sich die präfrontalen Neuronen (Basis der Antizipation) mit den limbischen Neuronen (Basis des Gedächtnisses) verbinden, erwirbt das Kind eine Vorstellung von der Zeit. Fortan kann es eine Geschichte verstehen und nicht nur eine Aufforderung."

Eindrücklich beschreibt er wie der einfache Satz "Der Krieg ist vorbei", die  deutschen Soldaten im südlichen Frankreich, "die schrecklichen Übermenschen in angenehme Zeitgenossen" verwandelte. Doch wie konnten die Deutschen des Zweiten Weltkriegs überhaupt zu Barbaren werden? "Wir sind alle davon geprägt, was uns das Umfeld erzählt", so Boris Cyrulnik, der zwischen zwei  hauptsächlichen Weltwahrnehmungen unterscheidet: "Die Emphase, die zur Utopie führt, steht im Gegensatz zum Vergnügen des Ackermanns, der den Reichtum des Banalen entdeckt."

Wir erschaffen uns unsere Realität mittels unseres Wahrnehmungs- und Empfindungsapparats. Schon früh suchen wir nach Sicherheit, und das meint nach Erklärungen. und das meint wiederum nach denen, die schuld an unserem Unglück sind. "Die Benennung eines Aggressors ruft ein seltsames Wohlbefinden hervor, fördert eine gute Meinung von sich selbst, schafft eine Klarheit, die keiner Bestätigung bedarf." Im Gegensatz zur Welt der Ackermänner, die ihr Wissen mühsam der Realität, abgerungen haben, geben sich diese vom Autor als Windfresser bezeichneten Zeitgenossen, mit dem zufrieden, wohin der Wind weht.

"Der  Iran der Ajatollahs, das Russland Putins und die Türkei Erdogans erzählen ein und dieselbe Geschichte: Es war einmal ein Führer, dessen unfehlbare Intelligenz ein von reichen Bösewichten geknechtetes Volk vor dem Chaos gerettet hat. Der Führer sagt, er sei zum Befreier berufen. Er sprach die Sprache des Volkes, verhiess eine strahlende Zukunft ..." und so weiter. Wir kennen das: Plötzlich ist alles ganz klar., kennen wir die Lösung und auch den Weg dorthin. Je mehr daran glauben, desto wahrscheinlicher ist, dass ein Diktator sich durchsetzen kann. Doch wie kommt es, das so viele auf so etwas reinfallen?

Die Macht des Konformismus, meint Boris Cyrulnik. "Wenn man mit den Wölfen heult, fühlt man sich irgendwann selbst als Wolf. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist so beruhigend und euphorisierend, dass man sich berauschen lässt." Nur eben: Nicht alle machen dabei mit. George Orwell, zum Beispiel, machte nicht mir. Weil ihn seine Lebensumstände mit  einem besonderen Wahrnehmungsapparat ausgestattet hatten. Konkret: Er lebte in den 1930er Jahren auf der Strasse und schrieb eine wöchentliche Kolumne, in der er das Aufkommen extremer Theorien mit Belanglosigkeiten aus dem Alltag verknüpfte. Dabei irrte er sich, gemäss seinen eigenen Worten, zwar oft, aber eben doch weniger oft als die Militärexperten.

Neben Orwell wird auch auf Viktor Frankl, Hannah Arendt, Martin Heidegger, Stanley Milgram und und und ... hingewiesen. Besonders eindrücklich zeigen des Autors eigene Erfahrungen, dass was der Mensch einmal gelernt hat zu glauben, nur schwer wieder korrigiert werden kann. Dabei plädiert er für die Freude an der Selbstbehauptung, auch wenn man dabei Gefahr läuft, seine Freunde zu verlieren.

Auch warnt er vor einfachen und klaren Weltbildern, die uns zwar Orientierung geben und Sinn vermitteln können, jedoch mehr mit Wunschvorstellungen, denn mit der Wirklichkeit zu tun haben, die er im Denken des Ackermanns begründet sieht, "der über das spricht, was er weiss."

"Selbstständiges Denken bedeutet Vereinzelung: Der Preis der Freiheit ist ein Unbehagen." Kein Wunder, scheuen wir uns vor der Freiheit, denn sie bedeutet die Übernahme von Verantwortung. Sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen, dazu regt dieses Buch an.

Boris Cyrulnik
Die mit den Wölfen heulen
Warum Menschen der totalitären Versuchung
so schwer widerstehen können
Droemer, München 2023

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