Mittwoch, 26. April 2023

Das Lied der Zelle

"Physiologisch ist ja das Leben eine fortwährende rhythmische Bewegung der Zellen", wird Friedrich Nietzsche zum Auftakt dieses höchst informativen und exzellent geschriebenen Werkes über die Zelle zitiert, das davon handelt, wie die Biologie die Medizin und unsere Vorstellung vom Leben revolutioniert.

Als sich im Oktober 1837 der ehemalige Rechtsanwalt und Botaniker Matthias Scheiden und der Zoologe Theodor Schwann in Berlin zum Abendessen trafen, tauschten sie sich über die Phytogenese, den Ursprung und die Entwicklung der Pflanzen, aus. Sie waren beide auf eine 'Einheitlichkeit' von Aufbau und Struktur der pflanzlichen wie auch der tierischen Zellen gestossen. "Was den mikroskopischen Aufbau einschliesslich des auffälligen Zellkerns anging, sah das entstehende Tier fast genauso aus wie eine Pflanze." Die verschiedenen Reiche des Lebens waren durch ein gemeinsames Band verbunden.

Möglich geworden waren diese Erkenntnisse durch Antoni von Leeuwenhoek, einen Tuchhändler aus Delft, der im Jahre 1675 ein einfaches Mikroskop entwickelte, dass ihm erlaubte "lebende Geschöpfe in Regenwasser, welches einige Tage in einem neuen irdenen Topf gestanden hatte", zu erkennen, doch die tonangebenden Kreise nahmen ihn nicht Ernst. "Meine Arbeit, der ich seit langer Zeit nachgehe", schrieb er 1719 empört, "wurde nicht ausgeführt, weil ich das Lob erringen wollte, dessen ich mich jetzt erfreue, sondern vor allem aus dem Streben nach Wissen heraus, das, wie ich feststelle, in mir stärker wohnt als in den meisten anderen Menschen."

Auch dem Mediziner Rudolf Virchow (1821-1902) war ein ausgeprägter Wissensdrang eigen, anerkannten Weisheiten und gängigen Erklärungen begegnete er skeptisch, sei es in der Wissenschaft, sei es in der Politik. Er bezeichnete Leben als Zelltätigkeit und die Zelle als den Sitz von Krankheiten. Von diesen beiden Grundsätzen ist auch das vorliegende Buch geprägt.

Das Lied der Zelle ist sowohl Medizingeschichte als auch Einführung in die Kunst der Diagnose. "Jedes Mal, wenn ich einen Patienten oder eine Patientin sehe, versuche ich, der Krankheitsursache mir drei grundlegenden Fragen auf die Spur zu kommen. Handelt es sich um einen äusseren Erreger, beispielsweise ein Bakterium oder ein Virus? Liegt eine innere Störung der Zellphysiologie vor? Ist die Krankheit die Folge eines besonderen Risikos, sei es der Kontakt mit einem Krankheitserreger, eine Familiengeschichte oder auch ein Giftstoff aus der Umwelt?" Anschaulich und eindrücklich schildert Siddhartha Mukherjee wie er selber aus seinen Fehlern gelernt hat.

Apropos Medizingeschichte: Es gehört zu den Vorzügen dieses Werkes, dass es auch von den nicht unbeträchtlichen Widerständen des medizinischen Establishments berichtet, die Neuerungen selten aufgeschlossen gegenüberstehen. Besonders erwähnenswert scheint mir das Schicksal von Ignaz Semmelweis, der auf die Wichtigkeit des Händewaschen hinwies, deswegen verspottet und schliesslich aus dem Krankenhaus entlassen wurde.

Letztlich geht das Leben auf diese kleinen Teile genannt Zellen, von durchlässigen Membranen umhüllt, zurück. Herz, Blut, Gehirn sind aus ihnen aufgebaut; sie ermöglichen sowohl die Immunabwehr, Fortpflanzung. Empfindungsvermögen, Kognition und Erneuerung. Siddhartha Mukherjee lehrt uns mit diesem aufklärenden Werk wie komplexe lebende Organismen (von Pflanzen, Tieren und Menschen) aus winzigen, in sich geschlossenen und sich selbst regulierenden Einheiten, Leben hervorbringen.

Auch wenn Das Lied der Zelle hauptsächlich von den Zeilen und seinen ganz unterschiedlichen Funktionen (von der Zelle als Verteidiger über die Zelle als Bürger bis zur Zelle als Dirigent) erzählt, liefert es darüber hinaus vielfältige Informationen über das Immunsystem und informiert über grundlegende Merkmale von Lebewesen wie die Homöostase, "die Fähigkeit, ein konstantes, inneres Milieu aufrechtzuerhalten."

Das Lied der Zelle ist auch eine aufschlussreiche Geschichte über die ungemeine Zerstörungskraft dysfunktionaler Zellen. Dabei hat uns nicht zuletzt die Covid-Pandemie gelehrt, dass wir weit weniger wissen, als wir angenommen hatten. "Gerade als wir den Eindruck hatten, wir wüssten etwas über die Zellbiologie des Immunsystems, als unser Selbstvertrauen seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurden die Köpfe der Forschenden in die tiefsten Tiefen der Hölle hineingestossen." Und obwohl die rasante Entwicklung von Impfstoffen letztlich ein wissenschaftlicher Triumph war, gilt nach wie vor: "Wir wissen noch nicht einmal, was wir nicht wissen."

Fazit: Faszinierend und äusserst lehrreich.

Siddhartha Mukherjee
Das Lied der Zelle
Wie die Biologie die Medizin revolutioniert – Medizinischer Fortschritt und der Neue Mensch
Ullstein, Berlin 2023

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen