Positiver eingestimmt könnte ich ein Buch kaum angehen, denn ihm ist dieses Zitat aus dem Thomas-Evangelium Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird das, was in dir ist, dich retten. Wenn du nicht hervorbringst, was in dir ist, wird das, was du nicht hervorgebracht haben wirst, dich töten vorangestellt, genau wie meinem Thriller Herolds
Rache.
Ich habe einige Werke von Emmanuel Carrère gelesen, mit Gewinn gelesen; geblieben ist mir vor allem ihre Intensität. Er ist ein glänzender Schreiber, dass seine Bücher wesentlich um ihn kreisen, stört mich überhaupt nicht, im Gegenteil, auch wenn es mir manchmal ein wenig zu viel wird. Dazu kommt, dass seine Schonungslosigkeit gelegentlich zudeckt, dass das Leben letztlich ein Geheimnis ist und sein soll.
Von Vipassana hat er in Indien gehört. "Vipassana-Kurse sind das Kampftraining der Meditation." Von Teleportation ebenso. "Teleportation heisst, dass man sich allein Kraft seines Geistes spontan von einem Ort zu einem anderen befördert. Man verschwindet in Madras und taucht im nächsten Augenblick in Bombay wieder auf. Eine Variante davon ist die Bilokation: Bei dieser befindet man sich an zwei Orten gleichzeitig." Selten so gelacht ...
Er begibt sich in ein Meditationszentrum, um den Einfluss seines, wie er schreibt, anstrengenden, despotischen Egos einzudämmen. "Beim Meditieren tut man nichts anderes und soll auch gar nichts anderes tun als beobachten." Und das ist so ziemlich das Schwierigste überhaupt, denn unser Hirn ist antizipierend unterwegs, befindet sich also stets in der Zukunft und damit da, wo der Körper noch gar nicht ist.
"Schriftsteller, die über das schreiben, was ihnen durch den Kopf geht, sind mir die liebsten ...", notiert er (mir geht es übrigens genauso) und beschreibt sich damit so recht eigentlich selber. Seine Überlegungen, Folgerungen und Zweifel sind mannigfaltig und höchst lesenswert, auch wenn es gelegentlich in mir dachte, weniger wäre manchmal mehr gewesen. So nimmt zum Beispiel seine ausführliche Schilderung des Liebesaktes diesem die Magie, macht ihn gleichsam unpersönlich, obwohl er doch genau das nicht gewesen ist. Zudem: Bekenntnisse, die auch andere betreffen, gehören nicht an die Öffentlichkeit.
Emmanuel Carrère teilt in diesem Werk auch ganz viele höchst hilfreiche Einsichten. So meinte Glenn Gould: Das Ziel der Kunst ist nicht, kurzfristig einen Adrenalinschub auszulösen, sondern geduldig ein Leben lang auf einen Zustand der Gelassenheit und des Staunens hinzuwirken. Und Freud definierte Gesundheit als zum Lieben und Arbeiten fähig zu sein sowie als das Zulassen von gemeinem Unglück, jedoch nicht von neurotischem Elend. "Neurotisches Elend ist das, was man sich schrecklicherweise immer wieder selbst erschafft, gemeines Unglück dagegen das, was einem das Leben auf so unterschiedliche wie unvorhersehbare Weise beschert."
Bereichernd fand ich auch den Hinweis auf seinen Freund Hervé Clerc, der als AFP-Journalist in Spanien, den Niederlanden und Pakistan gelebt hat und sich immer bemüht hat, "keine Karriere zu machen, um, wie er sagt, unter dem Radar zu laufen." Kann man dem Samsara entkommen? Klar, meint er, wenn man die Dinge so sieht wie sie wirklich sind.
Ich kann mir kaum jemanden vorstellen, der ein grösseres Bewusstsein seiner selbst hat als Emmanuel Carrère. Er befragt und analysiert sich unaufhörlich, beobachtet genau, was mit ihm und um ihn herum geschieht, erlebt sich intensiv und auch immer mal wieder leicht, trotz seiner Anstrengungen, von denen er nicht abzulassen imstande scheint.
Dann passiert der Angriff auf Charlie Hebdo, bei dem auch ein Bekannter von ihm ermordet wird. Kurz darauf erhält er die Diagnose bipolare Störung. "Es ist bestürzend, mit fast sechzig eine Krankheit diagnostiziert zu bekommen, an der man sein ganzes Leben gelitten hat, ohne dass sie einen Namen hatte."
Er verbringt einige Monate in einer psychiatrischen Klinik, gefolgt von einem Aufenthalt auf den griechischen Inseln, der ihn mit der Flüchtlingskrise konfrontiert. Kann man sich selber entkommen, wenn man sich mit anderen beschäftigt? Das Schicksal junger Afghanen lehrt ihn, dem Standpunkt seiner Eltern recht zu geben, "dem zufolge man in Kriegszeiten nicht genug Freizeit hat, um neurotisch zu sein."
Yoga, diese Schatztruhe vielfältig anregender und hilfreicher An- und Einsichten, ist ein gescheites, aufrichtiges, berührendes und zutiefst wesentliches Buch.
Emmanuel Carrère
Yoga
Matthes & Seitz Berlin 2022
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