Mittwoch, 4. April 2018

Über die 12 Schritte, und mehr

Vor zwei Tagen bin ich beim AA-Treffen auf einen Deutschschweizer getroffen. Hugo heisst er, wirkt sympathisch. Sein Apartment liegt nur ein paar Häuser weiter, auch in der Soi 1. Nach dem Treffen sind wir zusammen essen gegangen, habe ihm von meinen Rachefantasien erzählt, sehr allgemein. Er schien ganz interessiert. Von meinen beiden Probeläufe in Zürich und St. Gallen habe ich nichts gesagt. Vielleicht lässt sich was zusammen machen. Muss ihn zuerst besser kennenlernen.

Heute morgen traf ich ihn zufällig im Coffeeshop beim Landmark. Er war alleine dort, mit der Bangkok Post und The Nation. Ich begann ihn über sein Coaching-Buch auszufragen.
„Für wen schreibst Du es?“
„Für mich. Ich will mir über mich selber klar werden. Schreiben ist für mich Therapie.“
„Okay. Mein Frage zielte auf etwas anderes. Wer ist dein Zielpublikum?“
„Diejenigen, die von Therapien nichts halten.“
„Für die gibt es Sport oder Selbsthilfegruppen wie die AA.“
„Stimmt. Also für die, welche mehr wollen, als die AA ihnen bieten können.“

„Etwas Besseres als die 12-Schritte gibt es meiner Meinung nach nicht. Was fehlt dir denn bei den AA?“
„Das Programm ist schon gut, doch die meisten verstehen es nicht. Ich habe es auch lange nicht verstanden.“
„Es kann auch wirken, wenn man es nicht versteht. Es zu praktizieren reicht. Also noch einmal: Was fehlt dir?“
„Ich bin ein Suchthaufen, ich kriege nie genug, von gar nichts. Mir fehlt immer irgend etwas. Damit muss ich leben.“
„Verstehe. Und doch nicht. Ich meine, wozu schreibst du ein Buch? Du musst doch eine Botschaft haben ...“.
„Hab ich ja. Dass es keine gibt, das ist meine Botschaft. Und man sich damit abfinden muss.“
„Ziemlich deprimierend.“
„Für mich nicht. Ich habe ein Leben lang nach der richtigen Botschaft, dem Schlüssel, der Erleuchtung gesucht. Und immer mal wieder auch gefunden. Hat aber leider nie lange angehalten.“
„Mit dem Verliebtsein ist es auch so.“
„Genau.“

„Doch worauf willst du mit deinem Buch hinaus?“
„Wie gesagt, zuallererst war das Schreiben eine Selbsttherapie. Ich bin mir klarer darüber geworden, was mich ticken macht. Mein Lebensproblem, ja eigentlich alle meine Probleme, gründen in Angst. Vor dem Leben, vor dem Tod, vor dem Sterben, so recht eigentlich macht mir alles Angst. Und ich denke, es geht allen so, doch nicht im selben Ausmass. Bei mir ist sie heftig. Davonlaufen funktioniert nicht, sie holt mich immer wieder ein. Natürlich motiviert sie mich auch. Ich habe versucht, mich ihr zu stellen. Und zeige in meinem Buch jetzt auf, wie ich das gemacht habe und mache. Gut möglich, dass das auch für andere ein Ansatz sein könnte.“
„Sicher, doch wahrscheinlicher scheint mir, dass die meisten nichts davon wissen wollen.“
„Aus Angst“, lachte Hugo.
„Na ja, allein von dir aus zu gehen, scheint mir dann doch reichlich egozentrisch.“
„Überhaupt nicht, ich halte mich nicht für eine derartige Ausnahme. Ich denke, andere empfinden genauso.“

„Doch nicht alle wollen sich ihrer Angst stellen. Vielleicht auch, weil sie viel zu viel Angst vor ihrer Angst haben.“
„Das respektiere ich, doch mit solchen Leuten will ich nichts zu tun haben, denn die verstehen mich nicht einmal ansatzweise.“

Als Hugo das sagte, da wusste ich, dass ich einen zutiefst verletzten Mann vor mir hatte.

Aus: Hans Durrer: Herolds Rache. Fehnland Verlag, 2018

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