Mittwoch, 31. Juli 2013

Allen Frances: Normal

Allen Frances ist emeritierter Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung und lehrte an der Duke University; als Koautor war er an der Entwicklung der psychiatrischen Standardwerke DSM-III und DSM-IV massgeblich beteiligt. Das vorliegende Buch, so der Verlag, sei "ein kenntnisreiches Plädoyer für das Recht, normal zu sein."

Nun ja, normal, wer kann schon sagen, was das ist, das ist doch relativ, sieht jeder wieder anders. Sicher, stimmt schon, irgendwie, aber eben nur irgendwie. Wen dieses schwammige Irgendwie zu wenig befriedigt, wer es lieber etwas differenzierter hat, der ist gut beraten, zu Allen Frances' Normal zu greifen.

Ist Burnout eine Krankheit, ist ADHS eine Krankheit? 
Kommt ganz drauf an, wen man fragt, denn es gibt keinen biologischen Test, der Normalität nachweisen könnte. Das heisst, dass es nur subjektive Diagnosen gibt und diese sind naturgemäss fehlerhaft. Und häufig von Profitinteressen motiviert. Da wären zum Beispiel die Pharmafirmen: "Die Pathologisierung oder Krankheitserfindung ist die hohe Kunst, psychiatrische Krankheiten zu verkaufen, weil sie der effizienteste Absatzmarkt für lukrative Psychopharmaka sind." Und da wären auch noch die vielen Therapeuten, die sich Arbeit beschaffen müssen.

Für Allen Frances ist klar: "Wir glauben viel zu viel an Pillen und setzen viel zu wenig Vertrauen in die Resilienz, die Zeit und die Homöostase." Für diejenigen, die wie ich den Begriff Homöostase nicht kennen: es handelt sich dabei um "das Grundprinzip allen Lebens ... das Streben nach Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts".

"Für Normalität gibt es keine Norm", behauptet Frances. Und: "Kulturelle Universalien sind Ausnahmen". Wirklich? Das sehen nicht alle so. Und offenbar glaubt Frances selber das auch nicht so ganz, sonst könnte er nicht ein paar Seiten weiter schreiben, dass trotz der kulturellen Unterschiede, was als normales Verhalten gelte, die spezifischen psychischen Störungen bemerkenswert einheitlich seien. "Demenz, Psychosen, Manien, Depressionen, Panikattacken, Ängste, Zwangsstörungen und die verschiedenen Persönlichkeitsstörungen wurden zu allen Zeiten und an allen Orten beschrieben und sind auch heute Gegenstand epidemiologischer Studien überall auf der Welt." Zudem: "Ganz offensichtlich weisen wir Menschen viel mehr Übereinstimmungen als Unterschiede auf, und gerade dort, wo es um die Definition von Normalität und psychischer Störung geht, ähneln wir einander sehr."

Eine zutreffende Diagnose, so Frances, könne ein Leben retten, eine falsche eines ruinieren. Und das Buch liefert denn auch eindrückliche Beispiele. Nur eben: auch wenn die Diagnose einer seelischen Störung zutreffend ist, heisst das noch lange nicht, dass deswegen die Krankheit geheilt werden kann, denn aus ganz vielen Diagnosen lassen sich nicht notwendigerweise konkrete, erfolgsversprechende Handlungsanleitungen ableiten.

Was als psychische Störung gilt, unterliegt auch dem Zeitgeist. So war etwa Schizophrenie die Modediagnose der Sechzigerjahre. Heute ist es, gemäss Frances, der Autismus, die bipolare Störung, ADHS sowie die schizoaffektive Störung.

"Nomal" ist ein äusserst lehrreiches Buch. So lernen wir etwa, dass die Araber die moderne Psychiatrie erfunden haben. Oder dass der 'europäische Hippokrates' Thomas Sydenham im 17 Jahrhundert meinte, dass, was Krankheit sei, in der Praxis und von den Patienten gelernt werden könne: "'Bisweilen', soll er gesagt haben, 'erwies ich der Gesundheit meines Patienten und meinem eigenen Ansehen den besten Dienst, indem ich gar nichts tat.'" Und wir erfahren, wie viel wir dem Systematisierer Carl von Linné zu verdanken haben, denn es ist nicht zuletzt die sorgfältige Beobachtung und das kluge Klassifizieren, das uns viele einleuchtende Erklärungen lieferte. Und wir lesen von Philippe Pinel, dem Vater  der Psychiatrie, dem es im 19. Jahrhundert gelang, "die Mehrheit der Gesellschaft davon zu überzeugen, dass seelische Krankheiten völlig natürliche Ursachen haben, nicht anders als die Krankheiten des Körpers."

Wir leben in einer Zeit des Gesundheitswahns und sehen oft Krankheiten, wo keine sind. Sicher: Dass etwa Alkoholismus mittlerweile (von vielen, aber noch lange nicht allen) als Krankheit und nicht mehr als moralisches Versagen verstanden wird, ist eindeutig ein Fortschritt. Doch gleichzeitig gilt: Ein Wutanfall ist keine psychische Störung, Vergesslichkeit im Alter ist keine Demenz, und Leidenschaft ist nicht gleichzusetzen mit Abhängigkeit. 

Allen Frances
Normal
Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen
Dumont, Köln 2013

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