Mittwoch, 22. November 2023

Phobien & Manien

 
"Wir werden alle getrieben von unseren Ängsten und Sehnsüchten, und nicht selten sind wir sogar ihre Sklaven." Mit diesem Satz beginnt Kate Summerscale Das Buch der Phobien & Manien. Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen. Es war einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, der im Jahre 1786 den Anstoss gab, derartigen Fixierungen Namen zu geben. Er verstand "Phobie" und "Manie" als psychologische Probleme. Heutzutage muss eine Furcht, um als Phobie diagnostiziert zu werden, "exzessiv und unangemessen sein und bereits sechs Monate oder länger dauern." 

Die Meinungen über die Gründe für diese Zustände gehen weit auseinander. Kate Summerscales Herangehensweise ist nicht interpretativ, sondern beschreibend. "Eine Phobie oder eine Manie wirkt wie ein Zauber. Sie versieht einen Gegenstand oder eine Handlung mit einer geheimnisvollen Bedeutung und gibt ihnen die Macht, uns in Besitz zu nehmen und zu verwandeln. Diese Zustände können durchaus bedrückend sein, doch sie bezaubern die Welt um uns herum auch und machen sie so schaurig und lebendig wie ein Märchenland. Die haben uns buchstäblich fest im Griff, wie mit Zauberhand, und offenbaren damit unsere eigene Wunderlichkeit." Man sollte sich für diese Worte Zeit nehmen, auf dass sich einem erschliessen möge, dass diese gemeinhin negativ-konnotierten Begriffe auch ganz anders gesehen werden können.

99 Obsessionen? Ganz schön viel, ich bin ziemlich erstaunt. Sicher, von einigen hat man gehört, der Nymphomanie zu Beispiel. Als Mittel dagegen, empfahl 1856 ein Arzt seiner Patientin, "eine Zeitlang auf Sex zu verzichten, Weinbrand und andere Genussmittel zu meiden, das Schreiben zu unterlassen (sie arbeitete an einem Roman) und ihre Vagina mit einer Boraxlösung auszutupfen. Sofern sie nicht ihre Fantasien zügele, warnte er, lande sie womöglich in einem Irrenhaus."

Die Furcht vor Schmutz war mir hingegen nicht bekannt. Genauso wenig die Dromomanie, das zwanghafte Weglaufen. Auch  die Nomophobie, wie die Handyabhängigkeit auch genannt wird, habe ich bisher nicht als Obsession begriffen, obwohl sie es zweifellos ist. "Allerdings hat sich unsere Abhängigkeit von Telefonen inzwischen so sehr verstärkt, dass sich nur schwer ermessen lässt, an welchem Punkt sie überhaupt in eine unnatürliche Obsession übergeht."

Bei nicht wenigen Manien war mir das Phänomen bekannt, der Ausdruck dafür jedoch nicht. so bezeichnet Arithmomanie eine pathologische Lust am Zählen. Die illustrativen Beispiele, die Kate Summerscale aufführt machten mich laut herauslachen. Etwa: " ... interpretierte Sigmund Freud in Wien das obsessive Zählen von Dielen und Stufen bei einer jungen Frau als den Versuch, sich von ihren erotischen Fantasien abzulenken." Das klingt eher nach einer Selbstauskunft als nach einer Analyse. Oder: "Der serbischstämmige Ingenieur Nikola Tesla war besessen von der Zahl drei. Der Erfinder einer frühen Form des Wechselstrommotors lief dreimal um ein Gebäude, bevor er es betrat, und achtete darauf, dass die Anzahl seiner Schritte stets durch drei teilbar war, bevor er stehenblieb."

Apropos Zahlen: "Eine irrationale Angst vor der Zahl vier (tessares auf Altgriechisch) kommt in ostasiatischen Ländern häufig vor, da in mehreren Sprachen (zum Beispiel Mandarin, Kantonesisch, Koreanisch und Japanisch) das Wort für 'vier' ganz ähnlich klingt wie das Wort für 'Tod'". Obwohl die Tetraphobie für viele nur gerade eine milde Form des Aberglaubens ist, belegte eine Studie über Todesfälle in den USA, dass bei Amerikanern asiatischer Herkunft, die tödlichen Herzanfälle am vierten Tag des Monats signifikant höher lagen.

Sehr schön zeigt Das Buch der Phobien & Manien, dass unsere Einschätzung von "Aus-dem-üblichen-Rahmen-Fallendem" in hohem Masse den Zeitgeist widerspiegelt, Dabei erfährt man auch viel Skurriles. So gab es in den 1890er Jahren eine regelrechte Lauf-Epidemie, also Menschen, die mit dem Laufen nicht mehr aufhören konnten. Und man erfährt von den Collyer-Brüdern, zwei reichen New Yorkern, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts 170 Tonnen an Gegenständen horteten. Dieses schön gestaltete Werk ist eine wahre Fundgrube an Eigenartigem und Faszinierendem

Erhellend, amüsant und lehrreich.

Kate Summerscale
Das Buch der Phobien & Manien
Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen
Klett-Cotta, Stuttgart 2023

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